S 29 AS 1/20 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 1/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 43/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. D. Ag. wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig allen fünf Ast. für den Zeitraum 02.01. - 29.02.2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen.

2. D. Ag. hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten d. Ast. zu erstatten.

3. D. Ast. wird unter Beiordnung d. Rechtsanwältin B. B., A-Stadt, Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung mit Wirkung seit dem 02.01.2010 bewilligt.

Gründe:

Die fünf Ast. sind rumänische Staatsangehörige. Die beiden Ast. zu 1 und 2 sind die nichtverheirateten Eltern der minderjährigen Ast. zu 3 – 5.

Die Ast. zu 1 geht einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach, während der Ast. zu 2 arbeitslos ist.

Durch Bescheid vom 18.10.2019 bewilligte der Ag. den Ast. zu 1 und zu 3-5 vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum August 2019 – Januar 2020. Dabei rechnete der Ag. das von der Ast. zu 1 erzielte Erwerbseinkommen und das Kindergeld als Einkommen an.

Die Leistungen für den Ast. zu 2 lehnte der Ag. unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB 2 ab, berücksichtigte ihn aber bei der Berechnung als "Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ohne Leistungsanspruch", so dass das anzurechnende Einkommen bei nur vier Ast. berücksichtigt wurde.

Es kann unentschieden bleiben, ob der Ast. zu 2 nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b SGB 2 vom Leistungsbezug ausgenommen ist. Ein solcher wäre höchst wahrscheinlich verfassungswidrig.

Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16, juris) entschieden:

Art 1 Abs. 1 iVm Art 20 Abs. 1 GG garantieren ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Leistungsanspruch erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel als einheitliche Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Es widerspräche dem nicht relativierbaren Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum normiert hat; insbesondere lässt sich die Gewährleistung aus Art 1 Abs. 1 iVm Art 20 Abs. 1 GG nicht in einen "Kernbereich" der physischen und einen "Randbereich" der sozialen Existenz aufspalten. Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde ist dem Grunde nach unverfügbar und geht selbst durch vermeintlich "unwürdiges" Verhalten nicht verloren. Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vor- und Fürsorge sogar für jene, die aufgrund persönlicher Schuld in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind (Orientierungssatz Nr. 1 a-b). Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (Rdnr. 120).

Zur Möglichkeit der Absenkung der Sozialleistungen nach dem SGB 2 hat das BVerfG dort ausgeführt:

Im Kontext des Nachranggrundsatzes kann der Gesetzgeber von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, auch verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. Hingegen stellt es kein legitimes Ziel von Mitwirkungspflichten dar, eine "Besserung" des Betroffenen zu erreichen. Mitwirkungspflichten bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Verfolgt der Gesetzgeber mit Mitwirkungspflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie den an diesem Ziel ausgerichteten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen, dafür also geeignet, erforderlich und zumutbar sein (Orientierungssatz Nr. 2 a - b).

Es kann im vorliegenden Falle unentschieden bleiben, ob die vom Gesetzgeber bezweckte Ausreise als quasi "Mitwirkungshandlung" ein Grund ist, der einen vollständigen Wegfall dieser Sozialleistung rechtfertigen kann, jedenfalls ist es dem Ast. zu 2 nicht zumutbar, seine drei minderjährigen Kinder zu verlassen, denn Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz).
Rechtskraft
Aus
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