L 7 AS 43/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 1/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 43/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Januar 2020 aufgehoben und der Antrag abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. B., B-Straße, A-Stadt, Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt.

Gründe:

I.

Die 1982 geborene ledige Antragstellerin zu 1), die über die rumänische Staatsbürgerschaft verfügt, ist Ende 2018 in die Bundesrepublik Deutschland (A-Stadt) eingereist und arbeitet seit 8. Februar 2019 in Pensionen (Bl. 9, 17, 28, 63 ff. der Verwaltungsakte). Die Antragsteller beantragten am 28. Februar 2019 (Bl. 2, 32 ff. der Verwaltungsakte) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei dem Antragsgegner. Zum 18. März 2019 meldete sich die Antragstellerin zu 1) zusammen mit den Antragstellern zu 2) bis 5), die 1982, 2002, 2003 und 2005 geboren sind und ebenfalls über die rumänische Staatsangehörigkeit verfügen (Bl. 40, 45, 46, 51, 54 der Verwaltungsakte), einwohnermelderechtlich in der G-Straße in A-Stadt (Hotel H.) an (Bl. 26 f. der Verwaltungsakte). Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern zu 1) und zu 3) bis 5) mit bestandskräftigem Bescheid vom 15. April 2019 (Bl. 76 ff. der Verwaltungsakte) vom 1. Februar 2019 bis 31. Juli 2019 vorläufige Leistungen und lehnte die Bewilligung von Leistungen für den Antragsteller zu 2) ab, weil dieser ein Aufenthaltsrecht nur zu Arbeitssuche habe und daher von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei.

Am 27. Juni 2019 (Bl. 103 der Verwaltungsakte) beantragten die Antragsteller zu 1) und zu 3) bis 5) die Weiterbewilligung der Leistungen und legten Schulbescheinigungen für die Antragsteller zu 3) bis 5) vor. Mit Bescheid vom 15. August 2019 (Bl. 129 ff. der Verwaltungsakte) und Änderungsbescheid vom 18. Oktober 2019 (Bl. 172 ff. der Verwaltungsakte) bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern zu 1) und zu 3) bis 5) vorläufige Leistungen für die Zeit vom 1. August 2019 bis 31. Januar 2020. Im Weiteren teilte die Antragstellerin zu 1) mit, dass der Antragsteller zu 2) Pfandflaschen sammele (Bl. 150 der Verwaltungsakte). Gegen den Änderungsbescheid vom 18. Oktober 2019 legten die Antragsteller mit Schreiben vom 15. November 2019 (Bl. 187 der Verwaltungsakte) Widerspruch ein und begründeten diesen damit, dass der Antragsteller zu 2) nicht bei der Leistungsgewährung berücksichtigt worden sei. Außerdem wurde gebeten, die Leistungsberechtigung für ihn auch für die Vergangenheit zu überprüfen. Diesen Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 26. November 2019 (Bl. 196 der Verwaltungsakt) als unbegründet zurück und verwies darauf, dass der Antragsteller zu 2) nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei.

Dagegen erhoben die Antragsteller am 2. Januar 2020 (Bl. 1 der Gerichtsakte) Klage beim Sozialgericht Frankfurt am Main und beantragten außerdem einstweiligen Rechtsschutz. Bereits am 18. Dezember 2019 (Bl. 206 der Verwaltungsakte) hatten die Antragsteller die Weiterbewilligung der Leistungen beantragt.

Mit Beschluss vom 15. Januar 2020 verpflichtete das Sozialgericht Frankfurt am Main den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, allen fünf Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 2. Januar bis 29. Februar 2020 zu bewilligen. Dieser Beschluss wurde dem Antragsgegner am 16. Januar 2020 (Bl. 38 der Gerichtsakte) zugestellt. Dagegen hat er am 20. Januar 2020 (Bl. 40 der Gerichtsakte) Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Während des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 30. Januar 2020 (Bl. 85 ff. der Gerichtsakte) den Antragstellern zu 1) und zu 3) bis 5) vorläufige Leistungen für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 2020 bewilligt und die Bewilligung von Leistungen im Übrigen abgelehnt. Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller mit Schreiben vom 12. Februar 2020 Widerspruch (siehe Bl. 105 der Gerichtsakte) eingelegt.

Der Antragsgegner ist der Auffassung, er hätte für die Antragsteller zu 1) und zu 3) bis zu 5) nicht verpflichtet werden dürfen, Leistungen zu erbringen, weil er für diese bereits Leistungen bewilligt und sich hinsichtlich der Fortsetzung der Leistungsgewährung noch im Verfahren der Prüfung befunden habe. Der Antragsteller zu 2) sei dagegen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Er lebe zwar in der Bedarfsgemeinschaft mit den übrigen Antragstellern, sei aber nicht mit der Antragstellerin zu 1) verheiratet und verfüge über keinen eigenen Arbeitnehmerstatus.

Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Januar 2020 aufzuheben und den Antrag abzulehnen,
hilfsweise
die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss vom 15. Januar 2020 auszusetzen.

Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde sowie den Hilfsantrag auf Aussetzung der Vollstreckung zurückzuweisen.

Die Antragsteller sind der Auffassung, dass bei den Antragstellern zu 1) und zu 3) bis 5) eine zu hohe Einkommensanrechnung erfolgt sei, weil das Einkommen nur bei ihnen, jedoch nicht auch beim Antragsteller zu 2) angerechnet worden sei. Sie hätten daher zu niedrige Leistungen erhalten. Im Übrigen sei auch der Antragsteller zu 2) leistungsberechtigt. Alle Antragsteller bildeten zusammen eine Familie im Sinne des Art. 6 Grundgesetzes. Deshalb müsse auch für den nicht erwerbstätigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht aus Familiengründen angenommen werden. Ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 2) ergebe sich nach § 11 Freizügigkeitsgesetz/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (analog) unter Berücksichtigung von Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Daher sei der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf den Antragsteller zu 2) nicht anwendbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist auch begründet.

Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat den Antragsgegner zu Unrecht zur vorläufigen Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an die Antragsteller verpflichtet.

Für die Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss ein materielles Recht bestehen, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und eine vorläufige Regelung muss notwendig sein, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Vorliegend ist jedoch bereits ein Anordnungsanspruch der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Dem Antragsteller zu 2) steht überhaupt kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu und die Antragsteller zu 1) und zu 3) bis 5) haben keine Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II, die über die ihnen mit Bescheid vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2019 und mit Bescheid vom 30. Januar 2020 bewilligten Leistungen hinausgehen.

Soweit für den Antragsteller zu 2) ausschließlich ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zur Arbeitsuche in Betracht kommt, ist er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II von den Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Soweit der Antragsteller zu 2) überhaupt nicht über ein Aufenthaltsrecht verfügt, ist er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II ebenfalls von den Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Beides stellt weder einen Verstoß gegen europäisches Recht (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2014, L 7 AS 528/14 B ER, Juris, Rdnr. 40 ff.; so jetzt auch ausdrücklich EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Rechtssache C-67/14 - Alimanovic -, Rdnr. 48 ff.) noch einen Verstoß gegen nationales Verfassungsrecht dar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 27. März 2018, L 7 AS 7/19, Juris, Rdnr. 5 ff. m.w.N.).

Soweit für den Antragsteller zu 2), der nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, ausschließlich ein mittelbar aus dem Aufenthaltsrecht seiner Kinder nach Art. 10 der VO (EU) 492/2011 abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der VO (EU) 492/2011 oder eine solches Recht neben einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Betracht kommt, ist er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II ebenfalls von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Regelung ist weder wegen Verstoßes gegen europarechtliche Vorschriften für den Antragsteller zu 2) nicht anwendbar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 40 ff. m.w.N.) noch verstößt er gegen nationales Verfassungsrecht (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 46 ff. m.w.N.)

Es besteht auch kein Aufenthaltsrecht nach § 11 Freizügigkeitsgesetz/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (analog) unter Berücksichtigung von Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Eine unmittelbare Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz scheitert daran, dass die Kinder des Antragstellers zu 2) nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Aber auch eine insoweit analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz kommt aus Sicht des Senats nicht in Betracht (siehe dazu Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 45. m.w.N.). Auch bei Verneinung eines Aufenthaltsrechts des Antragstellers zu 2) nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (analog) sieht der Senat nicht die zwingende Notwendigkeit, dass die Kinder in diesem Fall zwangsläufig die Bundesrepublik Deutschland verlassen müssen. Denn die Lebensgefährtin des Antragstellers zu 2), die Antragstellerin zu 1), übt derzeit offensichtlich eine Beschäftigung in Teilzeit mit 25 Wochenstunden (Bl. 116 der Verwaltungsakte) aus, die ihr eine Betreuung der Kinder ermöglicht, wenn diese sich nicht in der Schule befinden.

Der Antragsteller zu 2) kann seine geltend gemachten Ansprüche auch nicht auf eine Verurteilung des zuständigen und möglicherweise beizuladenden Sozialhilfeträgers nach § 75 Abs. 2 2. Alt, Abs. 5 SGG in Hinblick auf die Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3, 5 und 6 SGB XII in der ab 22. Dezember 2016 geltenden Fassung stützen.

Eine Beiladung und eine Verurteilung nach § 75 Abs. 2 2. Alt, Abs. 5 SGG setzt zwar nicht voraus, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch und der Anspruch gegen den anderen Träger inhaltlich derselbe Anspruch ist oder sich diese Ansprüche inhaltlich vollständig decken, sie dürfen sich aber nach Rechtsgrund und Rechtsfolge nicht wesentlich unterscheiden (Straßfeld, in: Roos/Wahrendorf (Hrsg.), SGG, 1. Auflage 2014, § 75 Rdnr. 296; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, 2017, § 75 Rdnr. 18 m.w.N.; siehe auch Bundessozialgericht, Urteil vom 8. Mai 2007, B 2 U 3/06 R, Juris, Rdnr. 27). Die Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3, 5 und 6 SGB XII stellen jedoch gegenüber den beim Beklagten beantragten und im gerichtlichen Verfahren geltend gemachten Leistungen nach dem SGB II nach Auffassung des Senats, die sich in Übereinstimmung mit der gefestigten Rechtsprechung der Landessozialgerichte befindet, ein aliud dar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 51 m.w.N.), so dass eine Beiladung des Sozialhilfeträgers nicht erfolgen muss (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 51 m.w.N.). Denn der Bezug der Überbrückungsleistungen ist - anders als bei laufenden Leistungen - auf eine kurze überbrückbare Absicherung des Aufenthalts bis zur Ausreise gerichtet und dient der Vorbereitung dieser Ausreise aus dem Bundesgebiet und besitzt Ausnahmecharakter (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 21. August 2019, L 7 AS 285/19 B ER, Juris, Rdnr. 51 m.w.N.).

Da dem Antragsteller zu 2) kein Leistungsanspruch nach dem SGB II zusteht und er daher keinen individuellen Bedarfsanteil am Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft hat, ist Einkommen der Antragstellerin zu 1) nur auf die Antragsteller zu 1) und zu 3) bis 5) zu verteilen, so dass ihnen keine zu niedrigen Leistungen gewährt wurden.

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG hat sich durch die hier erfolgte Entscheidung erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Prozesskostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren unter anwaltlicher Beiordnung ist zu bewilligen, weil die Antragsteller bedürftig sind (§ 73a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz SGG- i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung -ZPO-). Hinreichende Erfolgsaussichten sind nicht zu prüfen, weil die Gegenseite das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 73a Abs. 1 S.1 SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 S. 2 ZPO).

Die anwaltliche Beiordnung erfolgt nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO. Sie ist erforderlich, weil die Gegenseite sich im Rechtsstreit rechtskundiger und prozesserfahrener Mitarbeiter bedient, deren Kenntnis- und Erfahrungsstand der Antragstellerin ohne anwaltliche Hilfe nicht zur Verfügung steht (vgl. zum Maßstab: BVerfG vom 6. Mai 2009 - 1 BvR 439/08 - m.w.N.).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
Saved