L 7 SO 251/20 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 3533/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 251/20 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 13. Januar 2020 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Dabei ist die Beschwerde nach Maßgabe der §§ 172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1, 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG statthaft, da das einstweilige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (dazu sogleich).

1. Gegenstand des am 16. Dezember 2019 von dem Antragsteller beim Sozialgericht Mannheim (SG) anhängig gemachten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (S 9 SO 3533/19 ER) ist sein Begehren auf eine (vorläufige) Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Form eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 5 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (SGB XII) in Höhe von 20 % des Regelbedarfs ab 1. Dezember 2019, nachdem die Beklagte durch Bescheid vom 14. November 2019, freilich mit Widerspruch (z.B. Schreiben des Antragstellers vom 18. November 2019 und 11. Dezember 2019) angefochten, in der Fassung der Änderungsbescheide vom 19. Dezember 2019 und 20. Februar 2020 über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen auf Fortzahlungsantrag des Antragstellers vom 14. November 2019 für die Zeit ab 1. Dezember 2019 neu entschieden und ihm einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII in Höhe von 10 % des Regelbedarfs (42,20 EUR; ab 1. Januar 2020 43,20 EUR) anstatt wie bis zum 31. August 2019 in Höhe von 20 % des Regelbedarfs bewilligt hatte. Dabei erfolgte die Bewilligung - entgegen der Regelung des § 44 Abs. 3 Satz 1 SGB XII - zeitlich unbegrenzt. Die auf die Grundsicherungsleistungen im Dezember 2019 angerechnete Betriebskostenrückzahlung ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Ebenso nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens ist das einstweilige Rechtsschutzgesuch betreffend den Bescheid vom 9. August 2019, über das der Senat durch Beschluss vom 24. Oktober 2019 entschieden hat (L 7 SO 3188/19 ER-B). Das SG hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 13. Januar 2020 das einstweilige Rechtsschutzbegehren vom 16. Dezember 2019 abgelehnt. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.

2. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1, für Vornahmesachen in Abs. 2. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Nach § 86b Abs. 3 SGG sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.

Hinsichtlich der begehrten vorläufigen Leistungsgewährung kommt allein der Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht. Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zunächst die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).

3. Die Anordnungsvoraussetzungen für das einstweilige Rechtsschutzgesuch sind auch im Beschwerdeverfahren nicht gegeben. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

a. Gem. § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel dieses Buches Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Nach § 41 Abs. 1 SGB XII ist älteren und dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach § 43 SGB XII bestreiten können, auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten. Gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind hinsichtlich des Einsatzes von Einkommen die §§ 82 bis 84 SGB XII und von Vermögen die §§ 90 und 91 SGB XII anzuwenden, soweit in den folgenden Absätzen nichts Abweichendes geregelt ist.

b. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII in Höhe von 20 % des Regelbedarfs nicht glaubhaft gemacht.

aa. Der 1961 geborene Antragsteller dürfte dem Grunde nach zum Kreis der Leistungsberechtigten gehören, da er dauerhaft voll erwerbsgemindert, seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen gestellt hat sowie hilfebedürftig ist.

bb. Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfassen gem. § 42 SGB XII u.a. auch den hier streitigen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII. Nach § 30 Abs. 5 SGB XII wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Nach der Parallelvorschrift im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt (§ 21 Abs. 5 SGB II). Damit wird zwar der Kreis der Anspruchsberechtigten in § 21 Abs. 5 SGB II und § 30 Abs. 5 SGB XII jeweils anders definiert, jedoch bestehen zwischen den beiden Normen keine inhaltlichen Unterschiede. Die Vorschriften sind gleich auszulegen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 AS 100/10 R - juris Rdnr. 18 ff.; Urteil vom 9. Juni 2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rdnr. 24). Voraussetzung für den Rechtsanspruch auf einen Mehrbedarf ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine besondere Ernährung erforderlich macht, deren Kosten höher sind als dies für Personen ohne eine solche Einschränkung der Fall ist (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. bspw. Urteil vom 14. Februar 2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rdnr. 12 und Urteil vom 20. Februar 2014 - B 14 AS 65/12 R - juris Rdnr. 13 jeweils m.w.N.). Es muss ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder einer drohenden Erkrankung oder Behinderung und der Notwendigkeit einer besonderen Ernährung vorliegen und diese besondere "Krankenkost" muss gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im Regelfall zum Ausdruck kommenden Ernährung kostenaufwändiger sein (BSG, Urteil vom 14. Februar 2013, a.a.O.). Der Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen soll helfen, im Hinblick auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine Ernährung zu finanzieren, mit der der Verlauf einer (bestehenden) gesundheitlichen Beeinträchtigung durch Abmilderung von deren Folgen, Verhinderung oder Hinauszögern einer Verschlechterung oder deren (drohenden) Eintretens beeinflusst werden kann (BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a.a.O. Rdnr. 15). Dabei ist zu beachten, dass § 30 Abs. 5 SGB XII lediglich den Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung erfasst. Der notwendige Bedarf für Ernährung wird als ein Teil der Regelleistung bzw. des Regelbedarfs typisierend zuerkannt, wobei von der Deckung der laufenden Kosten eines typischen Leistungsberechtigten im Rahmen eines soziokulturellen Existenzminimums für eine ausreichend ausgewogene Ernährung im Sinne einer ausreichenden Zufuhr von Proteinen, Fetten, Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen ausgegangen wird (BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, a.a.O. Rdnr. 13). Damit gilt im Ergebnis eine Vollkosternährung als vom Regelbedarf gedeckt, weil es sich hierbei um eine ausgewogene Ernährungsweise handelt, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (bspw. BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 AS 100/10 R - juris Rdnr. 24).

Nach der hier allein vorzunehmenden summarischen Prüfung leidet der Antragsteller in erster Linie an einem Diabetes mellitus Typ I, einer Pankreasinsuffizienz, einer diffusen Hepatopathie vom Fettlebertyp sowie einer Adipositas (vgl. z.B. Befundbericht des Internisten, Endokrinologen und Diabetologen Prof. Dr. Dr. K. vom 9. Juli 2019). Die Beteiligten sind sich einig, dass diese Erkrankungen eine besondere Ernährung erforderlich machen, deren Kosten höher sind als dies für Personen ohne eine solche Einschränkung der Fall ist. Sie streiten lediglich darüber, in welcher Höhe Kosten anfallen. Liegen bei einem Leistungsberechtigten - wie hier - mehrere Erkrankungen vor, für die jeweils ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen geltend gemacht wird, so ist der Ernährungsaufwand aufgrund des gesamten Krankheitsbildes konkret zu ermitteln. Maßgeblich ist stets der Betrag, mit dem der medizinisch begründete, tatsächliche Kostenaufwand für eine Ernährung ausgeglichen werden kann, der von der Regelleistung nicht gedeckt ist. Er ist im Einzelfall im Wege der Amtsermittlung durch Einholung medizinischer und/oder ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen oder Gutachten zu klären (BSG, Urteil vom 9. Juli 2012 - B 8 SO 11/10 R - juris Rdnr. 24).

Zunächst gewährte die Antragsgegnerin auf Empfehlung des Gesundheitsamtes (Dr. W.) vom 25. Februar 2015 einen Mehrbedarf in Höhe von 20 % des Regelbedarfs. Im Rahmen der Überprüfung wies Dr. W. im August 2018 darauf hin, dass aktuelle Befundunterlagen erforderlich seien. Der Aufforderung der Antragsgegnerin (z.B. Mitwirkungsaufforderungen vom 4. Januar 2018 und 16. August 2018), eine ärztliche Bescheinigung über die Notwendigkeit der kostenaufwändigen Ernährung aus medizinischen Gründen vorzulegen, kam der Antragsteller nicht nach (z.B. Schreiben vom 18. August 2018), sondern verwies wortreich auf seine behandelnden Ärzte und seine komplexe Erkrankung. Mit Schreiben vom 15. Oktober 2018 benannte Prof. Dr. Dr. K. zwar die Erkrankungen des Antragstellers, jedoch keine hieraus folgende spezifische Ernährungsform. Auf Aufforderung der Antragsgegnerin (Schreiben vom 30. Oktober 2018) übermittelte er im November 2018 die Empfehlungen zur Ernährungstherapie nach Pankreatektomie (Stand Mai 2016). Danach solle der Patient viele kleine Mahlzeiten einnehmen, gründlich kauen und langsam essen, ballaststoffreiche Lebensmittel meiden, keine zu heißen und kalten Speisen verzehren sowie in kleinen Schlucken trinken. Nach Vorlage dieser Unterlagen, die keine besondere "Krankenkost" beschreiben, gelangte Dr. W. unter dem 21. Dezember 2018 zu der Einschätzung, dass die Krankenkostzulage 10 % des Regelsatzes betragen solle. Ergänzend teilte Dr. W. mit Schreiben vom 28. Mai 2019 mit, dass das Krankheitsbild für sich genommen eine Zulage von 10 % rechtfertige, ohne dies freilich hinreichend zu begründen. Die Empfehlung aus dem Jahr 2015 habe sich zwar auf dasselbe Krankheitsbild bezogen, jedoch habe seinerzeit noch ein erheblicher Gewichtsverlust vorgelegen. Auf Anfrage der Antragsgegnerin teilte Prof. Dr. Dr. K. im Juni 2019 mit, dass bei dem Antragsteller seit Behandlungsbeginn 2018 Adipositas vorgelegen habe (Schreiben vom 24. Juni 2019). Bei diesem Sachstand dürften im Hinblick auf die komplexen Erkrankungen des Antragsteller einerseits im Rahmen des Widerspruchsverfahrens weitere Ermittlungen - ggf. durch Einholung medizinischer und/oder ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen oder Gutachten - zu der aus medizinischen Gründen erforderlichen Ernährungsform sowie dem daraus resultierenden Kostenaufwand erforderlich sein. Andererseits hat der Antragsteller weder im Verwaltungsverfahren noch im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nachvollziehbar dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass eine aus medizinischen Gründen erforderliche Ernährungsform einen Kostenaufwand begründet, der über dem von der Antragsgegnerin gewährten Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII in Höhe von 10 % des Regelbedarfs liegt. Dabei ist zu beachten, dass der Antragsteller im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen und der Senat lediglich die präsenten Beweismittel zu würdigen hat (vgl. nur Burkiczak in jurisPK-SGG, Stand 20. März 2020, § 86b Rdnr. 405 ff. m.w.N.). Weitere medizinische Ermittlungen bleiben dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

5. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved