S 112 KR 624/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
112
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 112 KR 624/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Anspruch auf Versorgung mit Vitaminpräparaten und Augentropfen ist nur ausnahmsweise nach Maßgabe der Anlage I zur Arzneimittel-Richtlinie gegeben.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über die Versorgung mit den Vitaminen D 3 und B 12 sowie mit Augentropfen (Artelac). Streitig sind auch Ansprüche auf Erstattung der Kosten, die die Klägerin seit 2013 für die Selbstbeschaffung dieser Mittel aufgewendet hat.

Die 1954 geborene Klägerin bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und ist bei der Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) pflichtversichert. Das Versorgungsamt stellte 2016 ihre Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50 fest. Ein im August 2017 gestellter Verschlimmerungsantrag führte zu keiner Änderung der Feststellungen.

Im August 2011 wurde bei der damals stark adipösen und an einem metabolischen Syndrom leidenden Klägerin eine Magenbypass-Operation durchgeführt, in deren Folge sie ca. 60 Kilogramm an Gewicht verlor. Nach dem Eingriff traten diverse Komplikationen auf. Ein Magendurchbruch im Juli 2012 machte eine notfallmäßige operative Behandlung notwendig, die zu narbigen Verwachsungen führte. Nach ihren Angaben leidet die Klägerin aufgrund des Magendurchbruchs an Hautausschlag und muss deswegen täglich teure Pflegeprodukte anwenden.

Die Klägerin, die zu jener Zeit im Leistungsbezug des Beigeladenen stand, beantragte am 16. Juli 2015 bei der Rechtsvorgängerin der beklagten Krankenkasse, die Kosten für diverse nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel bzw. Nahrungsergänzungsmittel "rückwirkend ab 1. Januar 2013 (und laufend)" zu übernehmen. Dem Antrag war u. a. eine Anlage beigefügt, in der die einzelnen Mittel einschließlich der Beschaffungskosten aufgelistet waren. Insgesamt errechnete die Klägerin eine monatliche Gesamtbelastung von 134,05 EUR. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 18. August 2015 ab. Sie führte zur Begründung an, das Arzneimittel Artelac (Augentropfen) und die Vitaminpräparate seien auf Privatrezept verordnet worden und somit keine Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch die Kosten für die Hautpflegeprodukte könnten nicht übernommen werden, da diese Produkte nicht zum gesetzlichen Leistungsspektrum gehörten. Der Widerspruch der Klägerin war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. März 2016).

Mit der Klage hatte die Klägerin von der Beklagten ursprünglich (vorrangig) die Zahlung von monatlichen Beträgen in Höhe von 134,05 EUR (bis Februar 2015), 132,25 EUR (Zeitraum März 2015 bis Juli 2016) und schließlich – ab August 2016 – von 119,85 EUR beansprucht. Nach gerichtlichen Hinweisen hat die Klägerin den erhobenen Anspruch auf die Übernahme der Kosten für die Augentropfen, die Vitamin D 3-Tabletten und die Vitamin B 12-Injektionslösung beschränkt. Sie macht geltend, die Beklagte habe ihre Pflichten zur Betreuung, Beratung und und Fürsorge verletzt. Die medizinische Notwendigkeit einer Versorgung mit Augentropfen ergebe sich bereits aus der augenärztlichen Bescheinigung des Dr. S. vom 5. März 2015. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie Dr. E. habe nach einer entsprechenden Laboruntersuchung einen therapiebedürftigen Vitamin D 3-Mangel attestiert. Überdies müsse – auch im Hinblick auf den erlittenen Magendurchbruch – regelmäßig Vitamin B 12 gespritzt werden. Zur Darstellung des weiteren klägerischen Vorbringens wird auf die Klagebegründung vom 4. Mai 2017 nebst sämtlichen Anlagen sowie auf die Schriftsätze der Klägerin vom 11. Februar 2018, 26. Mai 2019, 11. September 2019 und 10. November 2019 verwiesen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2016 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr (der Klägerin) die Kosten der Selbstbeschaffung Vitamine D 3 und B 12 sowie der Augentropfen seit Januar 2013 zu erstatten und sie zukünftig mit diesen Mitteln zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die Bescheide für zutreffend und verweist auf das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) vom 29. August 2019.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Das Gericht hat Befundberichte bei den behandelnden Ärzten der Klägerin eingeholt. Auf die Berichte (jeweils nebst Anlagen) des Facharztes für Neurologie Dr. M. vom 18. Juni 2019, des Facharztes für Augenheilkunde Dr. B. vom 4. Juli 2019, des Facharztes für Orthopädie Dr. E. vom 8. Juli 2019 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin B. vom Juli 2019 wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und zur Ergänzung des Sachverhalts wird schließlich Bezug genommen auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen hat und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist. Vorgelegen haben außerdem die Verwaltungsvorgänge des Versorgungsamtes.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil die Prozessordnung dies im Falle eines entsprechenden Hinweises in der Ladung vorsieht (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Ladung der Klägerin enthielt einen solchen Hinweis.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte hinsichtlich der begehrten Mittel weder für die Vergangenheit einen Anspruch auf Kostenerstattung noch für die Zukunft auf Gewährung als Naturalleistung.

Soweit es um Kostenerstattung geht lassen sich die erhobenen Ansprüche nicht auf § 13 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) stützen. Die Norm bestimmt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistungskosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der durch diese Vorschrift begründete Anspruch auf Kostenerstattung reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), vgl. nur BSGE 102, 30 = SozR 4-2500 § 34 Nr. 4, Rn. 9 - Gelomyrtol forte). Einen Naturalleistungsanspruch auf Versorgung mit den streitgegenständlichen Präparaten abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung hat die Klägerin jedoch nicht. Die Versorgung mit den begehrten Mitteln zählt nicht zum gesetzlichen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der Klägerin wurde schon im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 2019 ausführlich erläutert, dass ein Anspruch gegen die Krankenkasse auf Versorgung mit Augentropfen und mit den in Rede stehenden Vitaminen zur Voraussetzung hat, dass ein Ausnahmetatbestand von dem gesetzlichen Verordnungsausschluss gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V in Verbindung mit den Nrn. 11, 41 und 44 der Anl. I zur Arzneimittel-Richtlinie gegeben ist. Auf die Hinweise in der (damaligen) Sitzungsniederschrift wird verwiesen. Die weiteren medizinischen Ermittlungen haben indes ergeben, dass bei keinem der begehrten Präparate ein Versorgungsanspruch gemäß der Anl. I zur Arzneimittel-Richtlinie besteht.

Für die streitige Versorgung mit synthetischer Tränenflüssigkeit folgt dies explizit aus dem Befundbericht des behandelnden Facharztes Dr. B. vom 4. Juli 2019. Danach leidet die Klägerin unter keiner der in Nr. 41 der Anl. I zur Arzneimittel-Richtlinie genannten Krankheiten.

Entsprechendes gilt für die Versorgung mit Vitamin D 3-Tabletten. Die Anspruchsvoraussetzungen sind in Nr. 11 der Anl. I zur Arzneimittel-Richtlinie normiert. Nach den Angaben des Facharztes für Orthopädie Dr. E. in seinem Befundbericht vom 8. Juli 2019 wurde bei der Klägerin weder eine Steroidtherapie noch eine Bisphosphonat-Behandlung durchgeführt. Der weiteren, konkret gestellten Frage, ob bei der Klägerin eine manifeste Osteoporose besteht, ist der Arzt zwar ausgewichen, indem er weder das Feld "ja" noch das Feld "nein" angekreuzt hat. Aus seiner Antwort geht jedoch hervor, dass die Frage zu verneinen ist. Er empfiehlt eine Aktualisierung der Osteoporose-Diagnostik.

Betreffend die Versorgung mit Vitamin B 12-Injektionen ist die Kammer nach dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen davon überzeugt, dass die Verordnungsvoraussetzungen nach den Nrn. 43 und 44 der Anl. I zur Arzneimittel-Richtlinie nicht erfüllt sind. Die behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin B. hat im ihrem undatierten, im Juli 2019 eingegangenen Befundbericht einen nachgewiesenen, schwerwiegenden Vitamin B 12-Mangel bei der Klägerin, der durch eine entsprechende Ernährung nicht behoben werden kann, verneint. Der Facharzt für Neurologie Dr. M. berichtet zwar unter dem 18. Juni 2019 von einem "mehrfach nachgewiesenen Vitamin B 12-Mangel". Dessen Einschätzung wird jedoch durch das sozialmedizinische Gutachten des MDK vom 29. August 2019 widerlegt. Danach befanden sich die aktenkundigen Vitamin-B 12-Werte allesamt im Normbereich. Die MDK-Gutachterin Dr. S. hat überdies eingeschätzt, dass die von Dr. M. angegebene Klinik der Polyneuropathie nicht zu einem Vitamin B 12-Mangel passe. Das Gericht hält die Einschätzung der MDK-Gutachterin für überzeugend und folgt ihr.

Die Klageansprüche können auch nicht aus einer fingierten Genehmigung im Sinne von § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V hergeleitet werden. Soweit es um Naturalleistungsansprüche geht folgt dies schon daraus, dass nach der – insoweit mittlerweile zutreffenden – Rechtsprechung des BSG eine derartige Genehmigung keinen eigenständigen Sachleistungsanspruch begründet (BSG, Urteil v. 26. Mai 2020 - B 1 KR 9/18 R - Terminbericht 19/20, Pressemitteilung Nr. 10/2020 v. 28. Mai 2020; ebenso BSG, Urteile v. 18. Juni 2020 - B 3 KR 14/18 R, B 3 KR 6/19 R und B 3 KR 13/19 R - Terminbericht 21/20, die Entscheidungsgründe der genannten Urteile liegen noch nicht vor). Kostenerstattungsansprüche gemäß § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V bestehen ebenfalls nicht. Derartige Ansprüche sind unstreitig ausgeschlossen, wenn sich der Versicherte – wie hier – die Leistung bereits vor dem Ablauf der maßgeblichen Entscheidungsfrist selbst beschafft hat (obiter dicta schon BSG, Urteil v. 11. Mai 2017 - B 3 KR 30/15 R – juris, Rn. 42 - SozR 4-2500 § 13 Nr. 34; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 6. Februar 2018 - L 11 KR 2991/17 - juris; BSG, Beschluss v. 7. März 2019 - B 1 KR 21/18 B - juris, hält diese Frage nicht (mehr) für klärungsbedürftig).

Der Umstand, dass die Klägerin wirtschaftlich nicht hinreichend leistungsfähig war - und ggf. noch ist -, um sich selbst mit den in Rede stehenden Mitteln zu versorgen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Eine fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit begründet selbst dann keinen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung, wenn es um den Einsatz von Mitteln geht, die zur Vermeidung schwerwiegender gesundheitlicher Störungen unverzichtbar sind (BSG, Urteil vom 6. März 2012 – B 1 KR 24/10 R – juris, Rn. 35). Das Gesetz sieht in solchen Fällen Ansprüche gegen diejenigen Sozialleistungsträger vor, zu deren Aufgaben die Existenzsicherung des Einzelnen im Falle der Bedürftigkeit zählt. Dies wäre im vorliegenden Fall für Zeiträume, in denen die Klägerin Arbeitslosengeld II bezogen hat, der Beigeladene. Ob Ansprüche der Klägerin gegenüber dem Beigeladenen auf ernährungsbedingten oder sonstigen Mehrbedarf bestehen, ist in den bereits anhängigen gerichtlichen Verfahren zu klären (u. a. Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – L 25 AS 1338/18).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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