L 2 R 119/18

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 34 R 288/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 R 119/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin noch über ein vollschichtiges Leistungsvermögen verfügt.

Die am xxxxx 1962 geborene Klägerin zog mit ihren Eltern im Alter von sechs Jahren aus der T. nach Deutschland, wo sie die Hauptschule ohne Abschluss verließ. Sie war anschließend bis zum Jahr 2008 als Raumpflegerin tätig. Die Klägerin ist verheiratet und hat sechs Kinder. Am 12. August 2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung und begründete den Antrag dahingehend, dass sie sich seit dem Jahr 2008 für erwerbsgemindert halte aufgrund eines Bandscheibenvorfalles, Knieoperationen, seelischer Beschwerden, körperlicher Leiden und Lungenproblemen. Mit Bescheid vom 25. April 2014 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin leide zwar unter einer Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei Bandscheibenerkrankung mit geringen funktionellen Störungen, einer Minderbelastbarkeit der Kniegelenke bei Meniskuserkrankung und Zustand nach Operation des rechten Kniegelenkes und angegebenen Schmerzen im linken Knie, sowie unter dem Zustand nach Operation eines Karpaltunnelsyndroms beidseits ohne funktionelle Störung. Damit sei die Klägerin aber noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten, überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen, in Tagesschicht auszuüben. Vermieden werden sollten Arbeiten gebückt und in Zwangshaltung, schweres Heben und Tragen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit ständigem Knien, zudem könnten nur Arbeiten ohne besonderes Stressaufkommen von ihr ausgeübt werden. So könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Grundlage dieses Bescheides war ein von der Beklagten eingeholtes Gutachten des Facharztes für Innere Medizin/Sozialmedizin Dr. J. mit Untersuchung vom 26. März 2014, der zur diagnostischen Auffassung einer leichtgradigen chronischen Verstimmung mit Somatisierungsstörung sowie Rücken- und Gelenkschmerzen kam, sowie ein weiteres von der Beklagten eingeholtes Gutachten der Fachärztin für Orthopädie Dr. M ... Diese diagnostizierte nach Untersuchung am 16. April 2014 eine Minderbelastbarkeit der Lendenwirbelsäule bei Bandscheibenerkrankung mit geringen funktionellen Störungen, eine Minderbelastbarkeit der Kniegelenke bei Meniskuserkrankung und Zustand nach Operation des rechten Kniegelenkes und angegebene Schmerzen im linken Knie sowie den Zustand nach Operation eines Karpaltunnelsyndroms beidseits ohne funktionelle Störung.

Am 15. Mai 2014 legte die Klägerin gegen den Bescheid der Beklagten Widerspruch ein. Sie halte sich aufgrund des eigenen Befindens und aus Sicht des Hausarztes für vermindert erwerbsfähig. Aufgrund der Ausprägung des chronischen Schmerzsyndroms in Verbindung mit psychischen Beschwerden dürfte ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorliegen. Es beständen starke Ganzkörperschmerzen, die vorrangig den Rücken und die Kniegelenke beträfen und auch in Ruhe vorlägen. Schmerzbedingt seien arbeitsunübliche, frei wählbare Pausen nötig und nur ein unzureichendes Arbeitstempo möglich. Überdies zermürbe sie die Schmerzsymptomatik psychisch dermaßen, dass selbst geringste Belastungen Überforderung und Erschöpfung bedingten. Das internistische sowie das orthopädische Gutachten würden die Schmerzsymptomatik und die psychische Erkrankung unzureichend erfassen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2015 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Ihre dem Ablehnungsbescheid zugrundeliegende sozialmedizinische Leistungsbeurteilung bestätige, dass eine Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichtet werden könne. Auch aus den im Widerspruchsverfahren zusätzlich vorliegenden Unterlagen hätten sich keine weiteren Befunde ergeben, die zu einer Änderung der im Rentenverfahren bereits getroffenen sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung führten.

Die Klägerin hat dagegen am 13. März 2015 Klage bei dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Das Schmerzsyndrom werde nur unzureichend berücksichtigt. Die Schmerzsymptomatik im Zusammenwirken mit den psychischen Beeinträchtigungen lasse nur ein unzureichendes Arbeitstempo zu bzw. erfordere arbeitsunübliche Pausen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat zur Begründung auf den Ausgangsbescheid vom 25. April 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2015 verwiesen und sich auf eine Stellungnahme des Dr. E. vom 5. Oktober 2015 bezogen, der ihrem sozialmedizinischen Dienst angehört.

Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. I. vom 30. Juni 2015, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. vom 7. Juli 2015 und des Arztes für Innere Medizin Dr. D. vom 5. August 2015 eingeholt. Es hat außerdem die Untersuchungsunterlagen des ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit vom 19. März 2010 beigezogen. Das Sozialgericht hat außerdem zu den Gesundheitsstörungen und dem Leistungsvermögen der Klägerin Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens vom 22. Februar 2018 durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin, Dr. L ... Die Sachverständige Dr. L. hat bei der Klägerin folgende sozialmedizinisch relevanten Gesundheitsstörungen festgestellt: Es liege auf nervenärztlichem Fachgebiet eine Dysthymia mit Somatisierungsneigung (F 34.1) und auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet ein degeneratives Wirbelsäulen- und Knieleiden vor. Aufgrund der Erkrankungen sei die Klägerin nur noch in der Lage, körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel zwischen gehend, stehend und sitzend, nicht gebückt und in Zwangshaltung, nicht mit schwerem Heben und Tragen, nicht auf Leitern und Gerüsten, nicht im ständigen Knien, nicht unter vermehrtem Zeitdruck, in Akkord- und Nachtarbeit und mit überdurchschnittlichen Anforderungen an die seelische Belastbarkeit (Pflege, Kinderbetreuung, Verkauf) zu verrichten. Sie könne leidensgerechte Tätigkeiten vollschichtig leisten, d.h. sechs Stunden täglich und mehr. Sie könne zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen und sie könne viermal täglich Wegstrecken von mehr als 500 Metern zu Fuß in weniger als 20 Minuten bewältigen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29. August 2018 abgewiesen. Die Klägerin sei weder voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI), noch teilweise erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI. Das Leistungsvermögen der Klägerin werde im Wesentlichen durch Erkrankungen auf nervenärztlichem und chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet eingeschränkt. Die Klägerin leide auf nervenärztlichem Fachgebiet an einer Dysthymia mit Somatisierungsneigung und auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet an einem degenerativen Wirbelsäulen- und Knieleiden. Im Anschluss an die Ausführungen der Sachverständigen Dr. L. könne entgegen dem Eigenerleben der klagsamen Klägerin eine Störung der Hirnleistungsfähigkeit nicht festgestellt werden. Auch schwergradige depressive Symptome wie zum Beispiel eine Antriebsminderung oder Agitiertheit oder Affekt- und Impulskontrollstörungen seien für sie nicht feststellbar. Es hätten sich keine Hinweise auf Einschränkungen in der Konzentration und Auffassungsgabe auf der Befundebene ergeben. Die Klägerin ermüde nicht vorschnell, Vigilanz und Orientierung seien ungestört. Das inhaltliche Denken sei auf die geschilderte Leistungsunfähigkeit bezogen, ohne darauf eingeengt zu sein. Das formale Denken sei querschnittsmäßig unauffällig, die Ein- und Umstellungsfähigkeit im Rahmen von Themenwechseln sei erhalten. Die Stimmung sei klagsam-versagend, hintergründig auch fordernd, eine depressive Herabgestimmtheit im engeren Sinne sei nicht einfühlbar. Affektiv habe sich die Klägerin bei der Sachverständigen kontrolliert-indifferent gezeigt, zu Affekt- und /oder Impulsdurchbrüchen sei es nicht gekommen. Die Sachverständige habe auch keinen Hinweis auf Wahrnehmungsstörungen im Sinne halluzinatorischen Erlebens und keinen Hinweis auf akute suizidale Gefährdung feststellen können. Das EEG zeige einen Normalbefund. In der körperlich neurologischen Untersuchung habe die Sachverständige krankhafte Funktionsstörungen des zentralen und/oder peripheren Nervensystems nicht feststellen können. Die Sachverständige habe eine Schmerz-/Beschwerdedarstellung im Untersuchungsgang beobachten können, die von dieser als Ausdrucksmöglichkeit des seelischen Leidens verstanden werde. Die Erkrankung der Klägerin bedinge zwar Einschränkungen bei der Qualität der Arbeitsleistung, Auswirkungen auf das zeitliche Leistungsvermögen der Klägerin hätten die Erkrankungen der Klägerin unter Berücksichtigung der qualitativen Einschränkungen hingegen nicht ergeben. Das Sozialgericht folge der Sachverständigen Dr. L., deren Gutachten auch nicht wesentlich von den Feststellungen des die Klägerin behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. und den übrigen gutachterlichen Beurteilungen abweiche.

Die Klägerin hat gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 5. September 2018 zugestellten Gerichtsbescheid am 4. Oktober 2018 Berufung eingelegt. Die Annahme eines vollschichtigen Leistungsvermögens berücksichtige ihr komplexes Krankheitsbild nur unzureichend. Nach dem jetzt vorliegenden ärztlichen Attest des Arztes für Innere Medizin Dr. L1 vom 12. September 2018 sei wegen der trotz Medikation und Therapie bestehenden Leiden eine geregelte Arbeitstätigkeit der Klägerin kaum vorstellbar. Außerdem lasse der inzwischen mit Bescheid der Krankenkasse der Klägerin vom 11. Dezember 2018 anerkannte Pflegegrad 3 auf eine dermaßen eingeschränkte Selbstständigkeit schließen, dass ein eigenständiges Leistungsvermögen nicht mehr bestehen dürfte.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 29. August 2018 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Antragstellung Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und kann keine neuen Gesichtspunkte erkennen, die zu einer anderen Einschätzung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin führen könnten.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung von Folgebefundberichten des Lungenfacharztes Dr. Müller vom 6. September 2018, des Arztes für Innere Medizin Dr. L1 vom 15. Februar 2019, des Orthopäden Dr. I. vom 18. Februar 2019, des Neurologen und Psychiaters Dr. P. vom 15. März 2019 und eines Befundberichtes der Frauenärztin G ... Der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen N. hat am 4. Dezember 2018 ein Gutachten zur Pflegebedürftigkeit der Klägerin übersandt, worin die begutachtende Pflegfachkraft zu dem Ergebnis gelangt, die festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin hätten zu einer weiteren Abnahme der Selbstständigkeit geführt, sodass ein höherer Pflegegrad 3 erreicht werde. Der Senat hat außerdem ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 31. Juli 2019 eingeholt. Darin kommt dieser zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an einer persönlichkeitsgeprägten Anpassungsstörung mit funktionellen Begleitsymptomen leide. Sie sei wach, bewusstseinsklar und voll orientiert. Die Ergebnisse der Neurologin Dr. L. seien einmal mehr zu bestätigen. Die Klägerin sei zwar maßgeblich verbittert, aber keineswegs in ihrem negativen Denken, Fühlen und Erleben so stark gefangen, dass ihr eine Verhaltensänderung unmöglich wäre. Der Klägerin seien körperlich leichte Tätigkeiten mit durchschnittlicher Beanspruchung regelmäßig und geringer Verantwortung vollschichtig ebenso möglich, wie eine zweimal tägliche Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten (aus neuropsychiatrischer Sicht). Der Sachverständige hat ein chirurgisch-orthopädisches Zusatzgutachten speziell zur Frage der Wegefähigkeit empfohlen. Der Senat hat ein entsprechendes Zusatzgutachten der Chirurgin Dr. W. vom 13. November 2019 eingeholt. Nach deren Einschätzung leide die Klägerin auf chirurgischem Fachgebiet an einem mittelgradigem Verschleißumbau der Bandscheibenzwischenräume L4/5 und L 5/S1 ohne wesentliche Bewegungsstörung oder Nervenwurzelreizerscheinung, einem fortgeschrittenen Verschleißleiden der Bandscheibenzwischenräume im Bereich der HWS mit schmerzhafter Muskelverspannung und endgradiger Bewegungsstörung ohne klinische Zeichen der Nervenwurzelkompression, initialen Knorpelschäden im linken Kniegelenk, einem mäßigen Verschleißleiden des Schultereckgelenks und der Rotatorenmanschette sowie klinischer und elektro-physiologischer Zeichen eines Karpaltunnelsyndroms links. Höhergradige Bewegungsstörungen ließen sich nicht eruieren, klinische Zeichen einer Spinalkanalstenose seien nicht nachzuweisen. Auch eine schmerzbedingte aufgehobene Beweglichkeit der Wirbelsäule sei zu keinem Zeitpunkt nachweisbar. Auffälligkeiten am linken Kniegelenk hätten nicht festgestellt werden können. Zusammengefasst fänden sich in der orthopädisch-chirurgischen Untersuchung der Klägerin keinerlei Funktionsstörungen, welche die demonstrierte Störung des Gangbildes am Rollator begründen könnten. Eine Bewegungseinschränkung der Hüften, Kniegelenke oder Sprunggelenke lasse sich nicht nachweisen. Es gebe auch keine Nachweise organischer Gleichgewichtsstörung oder einer Funktionsstörung des zentralen oder peripheren Nervensystems. Die klinische Untersuchung weise keinerlei Befunde auf, die die von der Klägerin mit einem Gehwagen demonstrierten Funktionseinschränkungen rechtfertigten. Es gebe keinen Anhalt für eine Einschränkung der Gehfähigkeit. Aufgrund des genannten Leistungsbildes der Klägerin bestehe zwar eine qualitative Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit, aber keine quantitative Einschränkung. Es könnten Tätigkeiten regelmäßig vollschichtig mit sechs Stunden oder mehr getätigt werden.

Der Senat hat über die Berufung am 5. August 2020 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift vom 5. August 2020 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, obwohl die Klägerin unter psychischen als auch unter orthopädischen Gesundheitsstörungen leidet. Denn es konnte nicht festgestellt werden, dass das Leistungsvermögen der Klägerin dadurch aufgehoben oder zeitlich beschränkt ist.

Der Sachverständige Dr. B. hat in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 31. Juli 2019 festgestellt, dass die Klägerin in erster Linie an einer persönlichkeitsgeprägten Anpassungsstörung mit funktionellen Begleitsymptomen leide. Die Klägerin sei wach, bewusstseinsklar, voll orientiert und mindestens normintelligent. Sie überlasse sich ausdrucksstark ihrer Verbitterung, wirke bekümmert, aber nicht ins Depressive verschoben. Es gebe keinen Anhalt für einen hirnorganischen Prozess und keinen Hinweis für eine Erkrankung aus dem endogenen Formenkreis. Damit seien ihr leichte Tätigkeiten mit durchschnittlicher geistiger Beanspruchung und geringer Verantwortung unter Einschränkungen (keine Tätigkeiten, die ausschließlich oder überwiegend mit Tragen/Heben/Bücken verbunden sind; keine Tätigkeiten unter permanentem Zeitdruck und Akkordbedingungen und keine Tätigkeit an gefährdenden Arbeitsplätzen) vollschichtig möglich. Aus neuropsychiatrischer Sicht könne die Klägerin auch zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen. Auch Wegstrecken von mehr als 500 Meter könnten aus seiner Sicht viermal täglich zurückgelegt werden.

Für den orthopädischen Bereich hat die Sachverständige Dr. W. in ihrem Gutachten vom 13. November 2019 dargelegt, dass die Klägerin an einem mittelgradigem Verschleißumbau der Bandscheibenzwischenräume L4/5 und L5/S1 und mittelgradiger Wirbelsäulenstatik der BWS/LWS ohne wesentliche Bewegungsstörung oder Nervenwurzelreizerscheinung, einem fortgeschrittenen Verschleißleiden der Bandscheibenzwischenräume im Bereich der HWS mit schmerzhafter Muskelverspannung und endgradiger Bewegungsstörung ohne klinische Zeichen der Nervenwurzelkompression, initialen Knorpelschäden im linken Kniegelenk, einem mäßigen Verschleißleiden des Schultereckgelenks und der Rotatorenmanschette sowie klinischer und elektro-physiologischer Zeichen eines Karpaltunnelsyndroms links leide. Eine schmerzbedingt aufgehobene Beweglichkeit der Wirbelsäule sei zu keinem Zeitpunkt nachweisbar, ebensowenig Zeichen schwergradiger Nervenwurzelkompressionen. Im Bereich der Kniegelenke sei der Bandapparat stabil, Bewegungseinschränkungen ließen sich nicht nachweisen. Im Schulterbereich sei zwar eine mäßiggradige Schultereckgelenksarthrose mit entzündlichen Veränderungen der Subscapularis-Sehne und der Bizepssehne festzustellen. Aktuell sei die die Schulter umfassende Muskulatur aber seitengleich und mittelkräftig ausgebildet. Die Beweglichkeit der Schultergelenke sei endgradig eingeschränkt, ein Heben über die Horizontale und bis zur 120 ° Ebene aber sicher möglich. In der rechten Hand sei eine Karpaltunnelspaltung erfolgt, eine verminderte Sensibilität am Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand könne nachgewiesen werden. Die Fingerstreckung und der Faustschluss seien komplett, differenzierte Greifarten seien problemlos möglich. In der orthopädisch-chirurgischen Untersuchung fänden sich keine Funktionsstörungen, die die von der Klägerin demonstrierte Störung des Gangbildes am Rollator begründeten. Es ergebe sich kein Anhalt für die Einschränkung der Gehfähigkeit. Auch aus Sicht der Sachverständigen Dr. W. liege keine quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Klägerin vor, ihr sei eine regelmäßige Tätigkeit vollschichtig mit sechs Stunden und mehr täglich möglich.

Der Senat folgt den Feststellungen und Schlussfolgerungen beider Sachverständigen. Beide Gutachten setzen sich eingehend, detailliert und differenziert mit den von der Klägerin geschilderten Leiden auseinander, die Gutachter konnten aber auf ihren Fachgebieten keine gravierenden Funktionseinschränkungen bei der Klägerin erkennen. Die Gutachter kommen damit weitgehend zu denselben wie ihre Vorgutachter: Bereits die Neurologin Dr. L. (Gutachten vom 22. Februar 2018) hatte keine krankhaften Funktionsstörungen des zentralen oder peripheren Nervensystems feststellen können. Die Schmerz- und Beschwerdedarstellungen der Klägerin seien als Ausdrucksmöglichkeit des seelischen Leidens zu verstehen. Es sei im Wesentlichen eine Klagsamkeit festzustellen, ohne schwergradige depressive Symptome. Auch diese Sachverständige gelangt zu dem Ergebnis, dass leidensgerechte Tätigkeiten durch die Klägerin vollschichtig verrichtet werden könnten. Auch die von der Sachverständigen Dr. W. erhobenen Befunde decken sich mit den Diagnosen des Orthopäden Dr. I., der die Klägerin im April 2014 untersucht hatte. Auch dieser hatte keine Auffälligkeiten in den Kniegelenken und keine höhergradigen Funktionsstörungen der Schultern der Klägerin feststellen können.

Angesichts dieser eindeutigen sachverständigen Feststellungen, die von einer Vielzahl von Ärztinnen und Ärzten unabhängig voneinander getroffen wurden, kommt dem Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes N. vom 19. Juni 2018 kein besonderer Beweiswert zu. Abgesehen davon, dass dieses Gutachten unter einem ganz anderen Blickwinkel erstellt wurde, enthält es auch keine klinischen Befunde, sondern beruht im Wesentlichen auf den eigenen Angaben bzw. den Angaben der Angehörigen der Klägerin gegenüber der das Gutachten erstellenden Pflegefachkraft. Das Ergebnis dieser Befragung kann daher die Ergebnisse der etwa ein Jahr später erstellten medizinischen Gutachten, die auf eingehenden ärztlichen Untersuchungen der Klägerin beruhen, nicht in Frage stellen.

Es steht deshalb zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin zwar qualitativ in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, nicht aber quantitativ. Ihr ist eine vollschichtige Tätigkeit möglich und auch die Wegefähigkeit ist erhalten, sodass die Berufung zurückzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved