L 13 SB 113/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 26 SB 296/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 113/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. April 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Bei der 1962 geborenen Klägerin waren zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 – unter Berücksichtigung einer Polyneuropathie und einer Nierentransplantation mit jeweils einem Einzel-GdB von 50 – sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen G und B festgestellt worden. Ihren Antrag vom 30. September 2015 auf Zuerkennung des Merkzeichens aG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2016 ab.

Mit der bei dem Sozialgericht Cottbus erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Sozialmediziners Dr. A vom 27. November 2017 eingeholt, der zu der Einschätzung gelangt ist, die Klägerin könne unter Benutzung eines Gehbocks mit einer gewissen Anstrengung zu Fuß und ohne fremde Hilfe fünf bis zehn Meter bedenkenlos zu-rücklegen. Eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspräche, liege eindeutig nicht vor.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. April 2018 mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin erfülle die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG schon deshalb nicht, weil der Gesamt-GdB bei ihr lediglich 70 betrage.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung begehrt die Klägerin weiterhin das Merkzeichen aG. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Arbeitsmediziners Dr. G vom 10. Februar 2020, auf das Bezug genommen wird.

Die Klägerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. April 2018 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Februar 2016 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 2016 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 30. September 2015 das Vorliegen der gesundheitli-chen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der Beratung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze und die Verwaltungsvor-änge des Beklagten.

II.

Die Berufung der Klägerin wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Sozialgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Recht abgewiesen. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, bei ihr mit Wirkung ab dem 30. September 2015 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Über das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale treffen nach § 69 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 30. September 2015 bis zum 29. Dezember 2016 wird der hier maßgebliche Rechtsbegriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung in Teil D Nr. 3b der als Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen und insoweit bis zum 29. Dezember 2016 gelten-den "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG a.F.) ausgeformt, die in Übernahme der Vorgängerregelungen in Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der All-gemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) und in Nr. 31 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz bzw. -recht (AHP) be-stimmte:

1Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ih-res Kraftfahrzeuges bewegen können. 2Hierzu zählen Querschnittgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexarti-kulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwer-behinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Dieser Regelung liegt die Differenzierung zwischen Regelbeispielen und Gleichstellungsfällen zugrunde: Beim Vorliegen eines der in D 3b Satz 2 Halbsatz 1 VMG a.F. genannten Regelbeispiels wird unwiderleglich vermutet, dass sich der dort aufgeführte schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, juris Rn. 15). Ist bei einem schwerbehinderten Menschen hingegen kein Regelbeispiel erfüllt, muss nach D 3b Satz 2 Halbsatz 2 VMG a.F. im Einzelfall geprüft werden, ob er den dort genannten Gruppen gleich-zustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. März 1998 – B 9 SB 1/97 R –, BSGE 82, 37, juris Rn. 18 m.w.N.). Diese unter Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände (so BSG, Beschluss vom 11. Mai 2016 – B 9 SB 94/15 B –, juris Rn. 9) zu treffende Ent-scheidung hat sich strikt an dem Obersatz in D 3b Satz 1 VMG a.F. zu orientieren (so BSG, Urteile vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, juris Rn. 20). Hierbei ist auch der Gesichtspunkt zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden soll, denen längere Wege zu Fuß nicht zuzumuten sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R –, BSGE 90, 180, juris Rn. 22, sowie die Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 13, und – B 9a SB 1/06 R –, juris Rn. 17, jeweils unter Hinweis auf BT-Drucks 8/3150, S. 9f. in der Begründung zu § 6 StVG). Ansatzpunkt bildet das Rest-gehvermögen des Betroffenen. Allerdings lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O., juris Rn. 23), weshalb ein an einer bestimmten Wegstrecke und an einem bestimmten Zeitmaß orientierter Maßstab ausscheidet (vgl. BSG, Urteile vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 15, 17, und – B 9a SB 1/06 R –, juris Rn. 18, 21). Vielmehr ist darauf abzustellen, unter welchen Bedingungen es dem schwerbehinderten Menschen noch möglich war, sich außerhalb seines Kraft-fahrzeuges zu bewegen: Vermochte er dies – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung, sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG selbst dann erfüllt, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (so BSG in ständiger Rechtsprechung; siehe Urteil vom 16. März 2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 22, juris Rn. 19 m.w.N.).

Gemessen an diesen Maßstäben erfüllte die Klägerin hinsichtlich des Zeitraums vom 30. September 2015 bis zum 29. Dezember 2016 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass sie wegen der Schwere ihres Leidens nicht in so ungewöhnlich hohem Maße in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt war, dass sie sich dauernd nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen konnte. Der Senat folgt hierbei den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung; hierauf nimmt er Bezug und sieht daher von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ermittlungen des Senats im Berufungsverfahren. Zwar hat der Sachverständige Dr. G bei der Klägerin im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung auch Bewegungseinschränkungen in den oberen und unteren Sprunggelenken festgestellt, jedoch ist der Senat nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die hieraus folgende Verschlechterung der Gehfähigkeit der Klägerin bereits in dem Zeitraum vom 30. September 2015 bis zum 29. Dezember 2016 eingetreten ist. Der Sachverständige sah sich außerstande zu datieren, seit wann diese Einschränkungen bestehen. Weder dem im Klageverfahren eingeholten Gutachten noch den übrigen medizinischen Unterlagen sind Bewegungseinschränkungen in den Sprunggelenken zu entnehmen.

Auch hinsichtlich des Zeitraums ab 30. Dezember 2016 kann die Klägerin nicht erfolgreich die Zuerkennung des Merkzeichens aG beanspruchen. Die Voraussetzun-gen der außergewöhnlichen Gehbehinderung ergeben sich aus der vom 30. De-zember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Übergangsvorschrift des § 146 Abs. 3 SGB IX a.F., die durch Art. 2 Nr. 13 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) neu geschaffen wurde, bzw. aus der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Regelung des § 229 Abs. 3 SGB IX n.F. Nach diesen gleichlautenden Vorschriften sind schwerbehinderte Menschen mit außer-gewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX n.F vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außer-halb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Bei der Klägerin liegt bereits keine – wie § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX n.F. fordern – erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Auf der Grundlage der medizinischen Feststellungen des Sachverständigen Dr. G ist der Senats zu der Überzeugung gelangt, dass die mobili-tätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bei der Klägerin mit einem GdB von unter 80 zu bewerten ist. Der Einzel-GdB für die polyneuropathisch bedingte Gangstörung von 50 ist selbst bei Berücksichtigung der Bewegungseinschränkungen in den Sprunggelenken mit einem Einzel-GdB von 20 höchstens um einen Zehnergrad auf einen mobilitätsbezogenen GdB von 60 anzuheben. Die Addition der Einzel-GdB, für die sich der Sachverständige ausgesprochen hat, ist nach A 3a VMG nicht zulässig. Eine psychogene Gangstörung liegt ausweislich des Befundes der Dipl.-Psych. W vom 20. Februar 2013, deren Einschätzung sich die Klägerin ausdrücklich zu eigen macht, nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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