L 13 SB 58/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 41 SB 2045/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 58/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2018 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 24. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016 verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin mit Wirkung zum 1. Juli 2019 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zu einem Drittel zu er-statten. Im Übrigen findet für das gesamte Verfahren keine Kostenerstattung statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).

Die 1963 geborene Klägerin, bei der 2014 ein GdB von 40 festgestellt worden war, beantragte am 28. September 2015 bei dem Beklagten die Feststellung eines höheren GdB. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 24. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016 die Neufeststellung ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

1. Lungenfunktionseinschränkung, chronische Bronchitis, bronchiale Allergie (Einzel-GdB von 30), 2. Funktionsbehinderung des Kniegelenks links, Knorpelschäden am Kniegelenk links, Kunstgelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenks rechts (Einzel-GdB von 20), 3. chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB von 10).

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin einen GdB von mindestens 50 begehrt. Soweit sie daneben zunächst die Zuerkennung des Merkzeichens G verfolgt hat, hat sie die Klage zurückgenommen. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. Sch vom 19. Juni 2017 eingeholt, der vorgeschlagen hat, den Ge-samt-GdB bei der Klägerin mit 40 zu bewerten. Hierzu hat der Sachverständige folgende GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:

1. Lendenwirbelsäulenschaden mit geringen funktionellen Auswirkungen und andauernden Wirbelsäulensyndromen (Einzel-GdB von 10), 2. ausgeprägte Knorpelschäden des linken Kniegelenks mit anhaltenden Reizerscheinungen, einseitig ohne Bewegungseinschränkung (Einzel-GdB von 20), 3. Hüftgelenkendoprothese links mit geringer Bewegungseinschränkung und Belastungsminderung (Einzel-GdB von 30), 4. degenerative Veränderungen im unteren Sprunggelenk rechts ohne Bewegungseinschränkung mit geringer Belastungsminderung (Einzel-GdB von 10), 5. chronische Bronchitis mit Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-GdB von 30), 6. chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB von 10).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen bedingten keinen höheren Gesamt-GdB als 40.

Mit ihrer Berufung hat die Klägerin ihr Begehren unter Vorlage diverser medizinischer Unterlagen, u.a. des Befundberichts des Facharztes für Innere Medizin und Rheumatologie W vom 5. März 2018, zunächst weiterverfolgt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten und des Gut-achtens des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Prof. Dr. Sp vom 10. September 2019. Der Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin am 5. Juli 2019 den Gesamt-GdB mit 50 ab Antragstellung eingeschätzt. Die von ihm fest-gestellten Funktionsbeeinträchtigungen hat er wie folgt bewertet:

1. degenerative Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 20), 2. Funktionsbehinderungen des Kniegelenks, Kunstgelenkersatz Hüfte links, Funktionseinschränkungen im oberen Sprunggelenk (Einzel-GdB von 30), 3. rheumatoide Arthritis mit geringer Krankheitsaktivität (Einzel-GdB von 30), 4. Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-GdB von 30), 5. chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB von 10), 6. seelisches Leiden (Einzel-GdB von 10).

Nachdem dem Sachverständigen mitgeteilt worden war, dass er sich auf Befundberichte des Facharztes für Innere Medizin und Rheumatologie W bezogen hatte, die eine andere Patientin als die Klägerin betrafen, hat der Gutachter in der ergänzen-den Stellungnahme vom 16. Dezember 2019 an seiner Diagnose einer rheumatoiden Arthritis festgehalten, diese jedoch nur noch mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Von seiner Einschätzung des Gesamt-GdB mit 50 ist er nicht abgewichen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2018 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Mai 2016 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2016 zu verpflichten, mit Wirkung ab dem 28. September 2015 bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist zum Teil begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB 50 erst ab dem 1. Juli 2019.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.

Die degenerativen Erkrankungen der Lendenwirbelsäule bedingen ab Antragstellung einen Einzel-GdB von 20. Nach den gutachterlichen Feststellungen leidet die Klägerin an Bandscheibenerkrankungen mit Vorwölbungen und einem Bandscheibenvorfall. Angesichts der von dem Sachverständigen Prof. Dr. Sp beschriebenen Nervenwurzelreizerscheinungen liegen bei der Klägerin Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor, für die nach B 18.9 VMG ein Einzel-GdB von 20 vorgesehen ist.

Im Funktionssystem der unteren Extremitäten bestehen Funktionsbehinderungen des Kniegelenks, ein Kunstgelenkersatz der linken Hüfte und Funktionseinschränkungen im oberen Sprunggelenk. Der Senat folgt dem überzeugenden Vorschlag des Sachverständigen Prof. Dr. Sp, hierfür einen Einzel-GdB von 30 anzusetzen, weil dies den Vorgaben in B 18.12 und 18.14 VMG entspricht.

Nach den medizinischen Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. S leidet die Klägerin an einer rheumatoiden Arthritis mit geringer Krankheitsaktivität. Der Senat folgt dem Vorschlag des Sachverständigen, hierfür einen Einzel-GdB von 20 zu vergeben. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind nach B 18.1 VMG unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen. Wegen der rheumatischen Ergussbildung an den Grundgelenken der Finger III und IV ist die Feinmotorik der Hände einge-schränkt. Deren Grobkraft ist aufgehoben. Ein Einzel-GdB von 20 besteht erst ab dem Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung der Klägerin im Juni 2019. Auf der Grundlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen hat der Senat nicht die Überzeugung bilden können, dass ein Einzel-GdB in dieser Höhe zu einem früheren Zeit-punkt bestand. Die Erkrankungen der Atemwege der Klägerin haben sich nach dem Befundbericht des die Klägerin behandelnden Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. G vom 21. Oktober 2018 bereits vor der Antragstellung im Hinblick auf den Husten, die Luftnot und Infekte deutlich verbessert. Die Bodypletysmographien vom 9. November 2017 und vom 7. Juni 2018 ergaben eine normale ventilatorische Funktion. Ein höherer Einzel-GdB als 10 ist nach Maßgabe von B 8.5 VMG nicht gerechtfertigt.

Die chronische Magenschleimhautentzündung bedingt nach B 10.2.1 VMG einen Einzel-GdB von 10.

Ausweislich des Arztbriefs der Fachärztin für Anästhesie, spezielle Schmerztherapie, Palliativmedizin Dr. S vom 23. März 2018 und deren Befundberichts vom 4. März 2019 besteht bei der Klägerin eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Hinsichtlich des seelischen Leidens ist in Ansehung der Vor-gaben in B 3.7 VMG ein Einzel-GdB von 10 angemessen. Die in den genannten Be-richten angegebenen Ein- und Durchschlafstörungen stellen sich als leichtere psychovegetative bzw. psychische Störungen dar, die nach Überzeugung des Senats mit einem Einzel-GdB von 10 angemessen berücksichtigt sind.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 3 SGB IX n.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben beträgt der bei der Klägerin festzustellende Gesamt-GdB 40 ab Antragstellung und 50 mit Wirkung ab Juni 2019.

Der Einzel-GdB von 30 für die Funktionseinschränkungen der unteren Extremitäten ist ab Antragstellung im Hinblick auf die Erkrankung der Wirbelsäule, die einen Einzel-GdB von 20 bedingt, um einen Zehnergrad heraufzusetzen. Dieser GdB ist mit Wirkung ab Juni 2019 im Hinblick auf die rheumatoide Arthritis um einen weiteren Zehnergrad auf 50 zu erhöhen, da sich die Funktionsbeeinträchtigungen nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sparmann nachhaltig aufeinander auswirken (vgl. A 3d bb VMG). Die übrigen Behinderungen wirken sich bei der Bildung des Gesamt-GdB nicht erhöhend aus. Denn leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zu-nahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte (vgl. A 3d ee VMG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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