L 1 KR 61/20 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 4039/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 61/20 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beigeladenen wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist ein Bescheid der Beklagten als Einzugsstelle, in welchem diese feststellt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1) (nachfolgend nur noch: "der Beigeladene") als Gesellschafter-Geschäftsführer der Beigeladenen zu 2), einer GmbH, (nachfolgend nur noch: "die Beigeladene") ab 1. August 2014 nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegt.

Der Beigeladene ist aufgrund des Geschäftsführer-Anstellungsvertrag zwischen ihm und der Beigeladenen (damals noch unter anderer Firma) seit 1. Mai 2005 als Geschäftsführer angestellt. Er hält 34% der Anteile der Beigeladenen. Mitgesellschafter sind seine Brüder, die je 33% innehalten.

Bis 30. Juni 2014 war der Beigeladene Mitglied bei der AOK Rheinland und wechselte ab dem 1. Juli 2014 zur Beklagten. Zum 1. August 2014 vereinbarten die Beigeladenen in einem Nachtrag zum Geschäftsführervertrag, dass der Beigeladene als Geschäftsführer keinem Weisungsrecht unterliege was Zeit, den Ort und die Art der Tätigkeit als Geschäftsführer betreffe. Er reichte einen Feststellungsbogen zur versicherungsrechtlichen Beurteilung eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH ein.

Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 11. Juli 2014 fest, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit als Geschäftsführer für die Beigeladene ab 1. August 2014 nicht der Versicherungspflicht in der Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung sowie der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung unterliege. Er verfüge nämlich als Gesellschafter-Geschäftsführer mit 34% der Gesellschaftsanteile über einen entscheidenden Einfluss auf die Beigeladene, sei zum alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer bestellt und von den Beschränkungen des § 181 Bürgerliches Gesetzbuch befreit. Auch habe er als einziger Geschäftsführer die zur Führung der Gesellschaft erforderlichen Branchenkenntnisse. Seinen Urlaub müsse er sich nicht genehmigen lassen. Er könne seine Tätigkeit frei bestimmen und gestalten und unterliege hinsichtlich Zeit, Ort und Art der Tätigkeit keinem Weisungsrecht. Eine Bekanntgabe dieser Entscheidung an die Klägerin als Rentenversicherungsträger erfolgte nicht. Diese erfuhr anlässlich einer Einzugsstellenprüfung am 26./27. Oktober 2015 vom Bescheid und erhob am 24. November 2015 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG).

Der Beigeladene hat im Klageverfahren vorgebracht, dass die Gesellschafter der Beigeladenen eine einstimmige Beschlussfassung vereinbart hätten. Auch sehe er sein Recht auf Vertrauensschutz verletzt.

Das SG hat mit Urteil vom 16. November 2016 den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2014 aufgehoben, soweit die Beklagte das Nichtbestehen der Versicherungspflicht des Beigeladenen im Rahmen seiner Tätigkeit für die Beigeladene in der gesetzlichen Rentenversicherung ab dem 1. August 2014 festgestellt hat. Es hat festgestellt, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit für die Beigeladene ab dem 1. August 2014 der Rentenversicherungspflicht unterliege. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, dass die Klagefrist gewahrt sei. Die Klägerin habe sie innerhalb eines Monats nach Kenntnisnahme erhoben. Das Klagerecht sei auch nicht verwirkt. Insbesondere habe die Klägerin hier nicht nach der (mittlerweile aufgehobenen) "Gemeinsamen Verlautbarung zur Behandlung von Verwaltungsakten (Beitragsbescheiden) durch die am gemeinsamen Beitragseinzug beteiligten Versicherungsträger" vom 21. November 2006 auf eine förmliche Bekanntgabe verzichtet. Die Klägerin sei klagebefugt gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), als zuständiger Rentenversicherungsträger, soweit die Festsetzung die Rentenversicherung betreffe. Hingegen werde sie nicht in eigenen Rechten beschwert, soweit das Nichtbestehen von Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung festgestellt worden sei.

Gegen diese am 24. November 2016 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Beigeladenen vom 22. Dezember 2016. Zu deren Begründung führen sie aus, das SG habe eine Auseinandersetzung mit §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) versäumt. Auch habe es nicht von Amts wegen geprüft, ob der streitgegenständliche Bescheid der Klägerin gegenüber bekanntgegeben worden sei.

Die Beigeladenen beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. November 2016 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das angegriffene Urteil des SG aufgrund der heutigen Rechtslage zu akzeptieren. Der Berufung der Beigeladenen fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Die Beigeladenen könnten sich zudem nicht auf Vertrauensschutz berufen.

Auf die erwähnten Verträge, welche sich in Kopie im Verwaltungsvorgang befinden, wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Berufung bleibt Erfolg versagt. Das angegriffene Urteil ist jedenfalls nicht rechtswidrig und verletzt die Beigeladenen nicht in ihren Rechten, soweit das SG den streitgegenständlichen Bescheid vom 11. Juli 2014 hinsichtlich der Feststellung von Rentenversicherungspflicht aufgehoben und eine entsprechend gegenteilige Feststellung getroffen hat.

Die Klage ist zulässig. Mit Recht hat das SG angenommen, dass die Klagefrist von einem Monat nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht zu laufen begonnen hat. Ist der Verwaltungsakt einem Dritten wie hier der Klägerin nicht bekannt gegeben worden, kommt auch eine analoge Anwendung der Vorschrift nicht in Betracht. (BSG, Urteil vom 3. Juli 2013 - B 12 KR 8/11 R -, BSGE 114, 69-83, Rdnr. 20). Dass die Beklagte der Klägerin den streitgegenständlichen Verwaltungsakt nicht bekannt gegeben hat, folgt nicht nur auf der glaubhaften Versicherung der Klägerin selbst. Auch dem Verwaltungsvorgang der Beklagten lässt sich eine (formlose oder förmliche) Übersendung des Bescheides vom 11. Juli 2014 an die Klägerin nicht entnehmen.

Der von einem Dritten eingelegte Rechtsbehelf kann allerdings gleichwohl unzulässig sein, soweit er seine Befugnis zur Einlegung des Rechtsbehelfs verwirkt hat (BSG, a. a. O. Rdnr. 20 mit Nachweisen). Denn die Ausübung prozessualer Befugnisse muss sich am Gebot von Treu und Glauben messen lassen. Prozessuale Befugnisse können daher verwirkt sein, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt, das heißt wenn ein gewisser Zeitraum verstrichen ist (Zeitmoment) und der Berechtigte -hier die Klägerin- unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung von Ansprüchen unternommen wird (Umstandsmoment); erst durch die Kombination beider Elemente wird eine Situation geschaffen, auf die der jeweilige Gegner -hier die Beigeladenen- vertrauen, sich einstellen und einrichten darf. Weiterhin ist bei der Verwirkung prozessualer Befugnisse im öffentlichen Recht zu berücksichtigen, dass es nicht nur ein schutzwürdiges Vertrauen des Adressaten auf das Untätigbleiben eines Anfechtungsberechtigten rechtfertigen kann, die Anrufung eines Gerichts erst nach langer Zeit als unzulässig anzusehen, sondern auch ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens (BSG a. a. O. Rdnr. 28 mit Bezugnahme auf BVerfGE 32, 305, 308 f). Dass die Kläger tatsächlich darauf vertraut haben, dass der Rentenversicherungsträger Rechte nicht mehr ausüben werden und sich in Folge dessen in ihren Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet haben (Vertrauensverhalten) dass ihnen durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstanden ist (so ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Urteil des Senats vom 17. April 2014 - L 1 KR 215/12 -, juris-Rdnr. 34 unter Bezugnahme u. a auf BSG, Urteil vom 29. Januar 1997 BSGE 80, 41, Juris-Rdnr. 18) ist nicht ersichtlich. Ein Vertrauenstatbestand im Sinne eines Zeit- bzw. Umstandsmoment bestand nicht. Die Beigeladenen tragen nur vor, im Hinblick auf die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht private Verträge abgeschlossen haben. Nach Kenntnisnahme hat die Klägerin zeitnah innerhalb eines Monats Klage erhoben.

Die Klägerin ist hier bereits als Clearingstelle klagebefugt, da sie sich in einem obligatorischen Statusfeststellungsverfahren (§ 7a Abs 1 Satz 2 und 3 SGB IV) gegen eine Statusentscheidung der Einzugsstelle wendet (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2019 - B 12 KR 6/18 R -Rdnr. 22). Hier steht die Beschäftigung des Beigeladenen als geschäftsführender Gesellschafter der Beigeladenen im Streit. Die Pflicht zur Weiterleitung besteht für die Einzugsstellen nicht nur bei der Erstanmeldung durch den Arbeitgeber im Sinne des § 28 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB. Auch bei einer Meldung des Arbeitgebers bei einem Wechsel der Einzugsstelle nach § 28 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB IV wird vielmehr das obligatorische Statusfeststellungsverfahren ausgelöst (BSG, a. a. O. Rdnr 35 f). Eine solche Meldung liegt hier vor: Von der Formulierung "Meldung des Arbeitgebers" in § 7 a Abs. 1 Satz 2 SGB IV ist nicht nur der Vorgang einer Formalmeldung erfasst, in der regelgerecht die Annahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung dokumentiert ist. Mit diesem Rechtsbegriff wird vielmehr überhaupt die Kundgabe des Arbeitgebers bezüglich des - nach seiner Einschätzung - vorliegenden einschlägigen Beschäftigungsverhältnisses gegenüber der Einzugsstelle umschrieben (BSG, a. a. O. Rdnr. 39). Die der Klägerin als Clearingstelle nach § 7a Abs. 2 S. 2 und 3 SGB IV eingeräumte Alleinentscheidungsbefugnis im obligatorischen Statusfeststellungsverfahren räumt ihr ein eigenes Recht ein, gegen kompetenzwidrig erlassene Verwaltungsakte vorzugehen. Diese Alleinzuständigkeit ist gemeinwohlorientiert, da sie Interessenskonflikte anderer Hoheitsträger vermeidet und ihr die Entscheidung sowohl über die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft als auch über das individuelle soziale Vorsorgebedürfnis beschäftigter Versicherter obliegt. Die Gemeinwohlbelange müssen deshalb rechtlich durchsetzbar sein (BSG, a. a. O. Rdnr. 47ff). Die Klägerin ist zudem beschwert, weil der Verwaltungsakt Regelungen zur Rentenversicherung trifft, die Ansprüche auf die Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen und Leistungspflichten begründen können (BSG, Urteil vom 28. September 2011 - B 12 KR 15/10 R -, juris- Rdnr. 19).

Die Klägerin kann für sich auch ein Rechtsschutzbedürfnis in Anspruch nehmen. Die angestrebte Aufhebung des Statusbescheids kann nicht auf einfachere Weise als durch die Drittanfechtungsklage erreicht werden, insbesondere, weil bei einer Rücknahme gemäß § 45 Abs 5, § 44 Abs 3 SGB X durch sie selbst die Einschränkungen der Vertrauensschutz- und Fristenregelungen in § 45 Abs 2 bis 4 SGB X zu beachten wären (BSG, Urteil vom 16. Juli 2019, Rdnr. 31).

Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 11. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Zu Recht hat das SG Versicherungspflicht in der Rentenversicherung angenommen. Auf die zutreffenden Ausführungen wird zur Vermeidung bloßer Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG verwiesen. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des BSG, dass Minderheitengesellschafter einer GmbH mit Geschäftsführeranstellungsvertrag ohne spezifische, im Gesellschaftervertrag festgelegte qualifizierte Sperrminorität, als Beschäftigte im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV anzusehen sind (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 19. September 2019 - B 12 R 25/18 R - Rdnr. 15). Eine qualifizierte Sperrminorität in diesem Sinne ist vorliegend nicht festzustellen. Soweit sich die Gesellschafter untereinander (formlos) verständigt haben sollten, Entscheidungen immer nur einstimmig zu treffen, reicht dies ohne entsprechende notarielle vertragliche Änderung des Gesellschaftervertrages nicht aus. Auch die im Geschäftsführer-Anstellungsvertrag (Nachtrag) eingeräumte Weisungsfreiheit verhilft den Beigeladenen nicht zu einer qualifizierten Sperrminorität im erforderlichen Sinne. Das SG hat es hier auch nicht zu Unrecht unterlassen, Vertrauensschutz nach Maßgabe der §§ 45, 48 SGB X zu prüfen. Diese Vorschriften sind nicht einschlägig. Die Klägerin begehrt im Wege der Gestaltungsklage die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides und nicht eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung. Zudem regelt § 49 SGB X, dass §§ 45 Abs. 1 bis 4, 47 und 48 SGB X nicht gelten, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder -wie hier- während des sozialgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch abgeholfen oder der Klage stattgegeben wird.

Die Kostenentscheidung folgt für das zweitinstanzliche Verfahren aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG ist in diesem Rechtszug nicht einschlägig, weil der Beigeladene als Berufungskläger als Versicherter zum Personenkreis des § 183 Satz 1 SGG gehört. Die Beklagte kann Aufwendungsersatz nicht verlangen, § 193 Abs. 4 SGG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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