L 3 SB 10/17

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 3 SB 314/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 SB 10/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 22/19 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Januar 2017 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) sowie das Vorliegen des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) streitig.

Bei dem 1968 geborenen Kläger hat das beklagte Land zuletzt mit bestandkräftigem Bescheid vom 10. Februar 2016 einen GdB von 50 festgestellt und dabei die Auswirkungen der folgenden Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:
• Seelische Störungen (Einzel-GdB 30)
• Armfunktionsstörungen, Ulnarislähmung links (Einzel-GdB 30)

Die Erteilung dieses Bescheides, dem insbesondere ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. C. vom 16. Dezember 2015 zugrunde lag, führte zum Abschluss des damals bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main anhängigen Rechtsstreits S 3 SB 487/14.

Am 3. Mai 2016 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "G" unter Vorlage eines Befundberichtes von Dr. D. vom 2. Mai 2016, der angab, der Kläger leide an einer erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit bedingt durch eine 1985 erlittene Granatsplitterverletzung im Bereich des rechten Oberschenkels. Das beklagte Land lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6. Juni 2016 ab und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2016 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 11. August 2016 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) erhoben, mit der er die Zuerkennung eines GdB von 70 und des Merkzeichens "G" geltend gemacht hat.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid 17. Januar 2017 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger erfülle die Voraussetzungen des § 145 SGB IX für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht. Die aktenkundigen medizinischen Unterlagen belegten keine Behinderung seitens der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von 40 bis 50 bedingen und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" rechtfertigen würden. Auch die von dem Kläger geklagten Schwindelerscheinungen seien nicht in einer solchen Ausprägung objektiviert, dass darauf die Zuerkennung des Merkzeichens "G" gründen könnte. Hier seien insbesondere der Romberg´sche Stehversuch und der Unterberg´sche Tretversuch bei der Untersuchung durch Dr. C. im Dezember 2015 ohne Abweichungen ausgeführt worden. Auch eine Anerkennung einer weiteren Behinderung in Folge der Granatsplitterverletzung im Oberschenkel bedinge ausweislich der vorliegenden medizinischen Unterlagen keine solchen Funktionsstörungen, dass hier eine eigenständige Behinderung abgeleitet werden könnte.

Gegen diesen ihm am 19. Januar 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit am 24. Januar 2017 bei dem Sozialgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung zum Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.

Der Kläger trägt vor, der angefochtene Gerichtsbescheid bediene sich – ausschließlich und eindeutig zum Nachteil des Klägers - hauptsächlich abwegiger, haltloser und willkürlicher Vermutungen des beklagten Landes. Er bezeichne vor allem die fachärztliche Diagnostik des Dr. D. vom 2. Mai 2016 als die eigene, subjektive Darstellung des Klägers, ohne dafür auch nur den geringsten Beweis erbringen zu können oder zu wollen. Die dokumentierten Beinverletzungen, die definitiv mitursächlich für sein erheblich eingeschränktes Geh- und Stehvermögen seien, würden heruntergespielt. Auch würde außer Acht gelassen, dass sich seine seelischen Störungen negativ auf seine Schmerzwahrnehmung und Orientierungsfähigkeit sowie seine Gesamtbalance und die damit verbundene Ausdauer auswirkten. Praktisch sei er – sowohl psychisch als auch physisch – außerstande, im Ortsverkehr auch nur annähernd eine Dauerleistungsfähigkeit mit der Vorgabe von zwei Kilometern binnen 30 Minuten ohne erhebliche progressive Schmerzen, Erschöpfungserscheinungen, Ausdauer-, Gleichgewichts- und Orientierungsprobleme zu erbringen. Selbst an Tagen mit guter Motivation und Zielsetzung bewältige er maximal eine Wegstrecke von ca. 1000 Metern. Insbesondere bei Kälte und Niederschlag sowie in Phasen seelisch-emotionaler Abgeschlagenheit und Melancholie komme er nur sehr langsam voran und müsse dementsprechend unzumutbar viel Zeit einkalkulieren. Erschwerend komme hinzu, dass er aus beruflichem Anlass regelmäßig zahlreiche Dokumente und Arbeitsmittel mit sich führen müsse, wobei ihn das Gewicht auf seinen Schultern zusätzlich belaste. Auch der Aspekt der Verkehrsgefährdung sei nicht in Betracht gezogen worden. Unvermittelt eintretender Straßen- und Verkehrslärm lösten bei ihm nicht oder kaum zu kontrollierende Reaktionen aus; es komme vor, dass er in Schrecksituationen an roten Fußgängerampeln loslaufe oder orientierungslos seitlich auf eine befahrene Straße ausweiche. Vorliegend handele es sich um authentische und prägende Kriegsverletzungen erheblicher Dimension, weshalb der Fall eine sensible und hinreichende Gesamtwürdigung der Gesamtumstände verdiene.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12. März 2019 hat der Kläger erklärt, dass er den Rechtsstreit nur noch wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Januar 2017 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 6. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2016 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, ihm das Merkzeichen G zuzuerkennen ab Antragstellung am 3. Mai 2016,

hilfsweise von Amts wegen ein neurologisches und ein orthopädisches Fachgutachten zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" einzuholen.

Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Es hält die erstinstanzliche Entscheidung für rechtmäßig.

Der Senat hat die Akte des vor dem Sozialgericht abgeschlossenen Rechtsstreits S 3 SB 487/14 beigezogen.

Mit Beschluss vom 29. August 2018 hat der Senat die Berufung der Berichterstatterin zur Entscheidung gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des beklagten Landes und der beigezogenen Gerichtsakte des abgeschlossenen Verfahrens S 3 SB 487/14 (Sozialgericht Frankfurt am Main) Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Über die zulässige Berufung des Klägers konnte aufgrund des Beschlusses vom 29. August 2018 in der Besetzung des Senates gemäß § 153 Abs. 5 SGG entschieden werden.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts und die Bescheide der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden. Mit der Erklärung, die Zuerkennung eines höheren GdB nicht mehr weiter zu verfolgen, hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G".

Das Sozialgericht ist rechtlich zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung nicht erfüllt sind. Zwar zitiert das Sozialgericht im Hinblick auf die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung noch die alte Regelung des § 145 SGB IX, diese findet sich jedoch in der Neufassung des SGB IX nunmehr in § 228 SGB IX (in der Fassung vom 23. Dezember 2016), ist inhaltlich aber unverändert geblieben, so dass sich hieraus keine abweichenden Kriterien ergeben. Dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" vorliegend nicht erfüllt sind, hat das Sozialgericht in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Gerichtsbescheides bereits ausführlich und überzeugend dargelegt. Das Sozialgericht hat die von dem als einzigen behandelnden Arzt angegebenen Dr. D. mitgeteilten sowie die dem neuropsychiatrischen Gutachten des Dr. C. vom 16. Dezember 2015 zu entnehmenden Befunde, insbesondere hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Gehvermögen, unter zutreffender Heranziehung der seit Januar 2009 als Anlage zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV –) vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2412 und vom 14. Juli 2010, BGBl. I Nr. 37 S. 928 i.V.m. §§ 69 Abs. 1, 70 SGB IX (seit 1. Januar 2018: § 152 Abs. 1, 153 SGB IX) maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) bewertet. Hinsichtlich der eingehenden Würdigung der Befunde wird daher zunächst in vollem Umfang auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen, die sich der Senat zu Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG zu Eigen macht, und von einer erneuten Darstellung der Entscheidungsgründe im Wesentlichen abgesehen.

Auch aus dem Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren ergeben sich keine Hinweise auf zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen, die die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" begründen könnten, oder sonstige Anhaltspunkte, die zumindest weitere medizinische Sachermittlungen erforderlich gemacht hätten.

Der Kläger bezieht sich zur Begründung seiner Berufung grundlegend auf eine 1985 erlittene Granatsplitterpenetrationsverletzung im Bereich des rechten Oberschenkels mit Hautdefekt. Dr. D. hat hierzu unter dem 2. Mai 2016 berichtet, aus der erfolgten Granatsplitterentfernung resultiere eine erhebliche Verklebung und narbige Umstrukturierung der Beinmuskelstreckergruppe. Seither habe der Kläger Schmerzen im Bereich des rechten Oberschenkels, die zu einer Gehbehinderung führten.

Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob es im Bereich des rechten Oberschenkels des Klägers, wie Dr. D. als vorbestehend angibt, zu einer Granatsplitterpenetration gekommen ist. Aus den früheren Berichten des Dr. E. vom 6. März 2014 und des Dr. D. vom 2. Oktober 2014 ergibt sich eine Granatsplitterverletzung nur im Bereich des linken Oberarms. Im Bereich des rechten Oberschenkels wird hingegen lediglich eine Entnahmestelle für die zum linken Oberarm erfolgte Hauttransplantation beschrieben. Dies entspricht im Übrigen auch den dem neuropsychiatrischen Gutachten des Dr. C. vom 16. Dezember 2015 zu entnehmenden Angaben in dem Rechtsstreit S 3 SB 487/14 (Sozialgericht Frankfurt am Main). Unabhängig von der Widersprüchlichkeit der Angaben in Bezug auf eine Verletzung des rechten Oberschenkels steht vorliegend aufgrund des Gutachtens des Dr. C. fest, dass bei dem Kläger eine Nervenschädigung mit Funktionsstörung im Bereich des linken Arms sowie eine somatoforme Schmerzstörung und depressive Anpassungsstörung bestehen. Beeinträchtigungen im Bereich der Beine hat der Kläger zu diesem Zeitpunkt weder geklagt noch ergaben sich entsprechende Befunde. Die neurologischen Untersuchungen durch Dr. C. ergaben keine Auffälligkeiten der unteren Extremitäten; der rechte Oberschenkel zeigte lediglich eine kaum sichtbare Narbe nach Hauttransplantation. Auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen des Dr. C. erfolgte die Feststellung des GdB von 50 mit dem bestandskräftigen Bescheid vom 10. Februar 2016. Eine wesentliche Befundverschlimmerung, die zwischenzeitlich den Eintritt einer erheblichen Gehbehinderung begründen könnte, ist nicht aktenkundig.

Vor dem Hintergrund der aktenkundigen Befundlage fehlt es an jeglichen Anknüpfungspunkten, dass bei dem Kläger Gesundheitsstörungen bestehen könnten, die zu einer Beeinträchtigung des Gehvermögens in einem Umfang führen könnten, die einer erheblichen Gehbehinderung im Sinne des Merkzeichens "G" entspricht. Dem Hilfsantrag des Klägers auf Einholung eines neurologischen und eines orthopädischen Sachverständigengutachtens war damit auch nicht nachzukommen, denn auch im Amtsermittlungsverfahren sind Ermittlungen "ins Blaue hinein" ohne greifbare Anhaltspunkte nicht durchzuführen (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, Rdn. 8a zu § 103).

Damit konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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