L 4 AS 50/19

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 22 AS 4507/16
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 50/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Januar 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten streitig ist, ob der Klägerin tatsächlich Kosten der Unterkunft und Heizung entstanden sind. Die von der Klägerin bewohnte Wohnung steht im Eigentum ihrer Mutter. Die Klägerin meldete sich zum 1. Februar 2010 in der Wohnung E.-Straße 5 an, die die Mutter der Klägerin im Herbst 2009 erworben hatte. Die Klägerin betrieb ein Studium bis einschließlich September 2013. In dieser Zeit leistete sie für das Bewohnen der Wohnung keine Zahlungen an ihre Mutter. Die Klägerin meldete sich für das Wintersemester 2013/2014 (beginnend am 1. Oktober 2013) nicht für das Studium zurück. Sie beantragte erstmals am 19. September 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 1. Oktober 2013 beim Beklagten und gab an, die Wohnung während des Studiums mietfrei bewohnt zu haben. Mit den Eintragungen in der Anlage KDU machte die Klägerin Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 360,- Euro Grundmiete und 69,- Euro Nebenkosten geltend. Sie reichte einen schriftlichen Mietvertrag zwischen ihr und ihrer Mutter über die Wohnung ein, in dem als Beginn des Mietverhältnisses der 1. Februar 2010 eingetragen war und der unter dem 25. September 2013 von Mutter und Klägerin unterschrieben wurde. In der Folgezeit bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II, jedoch ohne jeweils den Mietzins gegenüber der Mutter als Aufwendungen für die Unterkunft anzuerkennen. Mit Bewilligungsbescheid vom 3. März 2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen für die Zeit vom 1. April 2016 bis 30. September 2016. Dabei berücksichtigte er keine Aufwendungen aus dem Mietvertrag mit der Mutter. Einen Widerspruch gegen den Bescheid erhob die Klägerin nicht. Am 2. August beim Sozialgericht stellte die Klägerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (S 22 AS 2852/16 ER = L 4 AS 297/16 B ER). Das Sozialgericht (S 22 AS 2852/16 ER) verpflichtete den Beklagten mit Beschluss vom 5. August 2016, der Klägerin weitere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 2. August 2016 bis 30. September 2016 zu gewähren und dabei die Kosten der Wohnung E.-Straße 5 zu berücksichtigen. Unter dem 23. August 2016 schrieb der Beklagte der Klägerin: "In Ausführung des Beschlusses des Sozialgerichtes Hamburg vom 5.8.2016 [ ] werden Ihnen vorläufig Leistungen gemäß anliegendem Berechnungsbogen ausgezahlt. Es wird auf Folgendes hingewiesen: Unterliegen Sie im Einstweiligen Rechtschutz- oder Hauptsacheverfahren, werden die Leistungen in voller Höhe zurückgefordert. [ ]". Der Beschluss des Sozialgerichts vom 4. August 2016 wurde vom Landessozialgericht mit Beschluss vom 5. September 2016 (L 4 AS 297/16 B ER) aufgehoben und der Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Ebenfalls mit Schreiben vom 2. August 2016 stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag bzgl. des Bewilligungsbescheides vom 3. März 2016, den der Beklagte mit Bescheid vom 25. August 2016 ablehnte. Einen weiteren Widerspruch hiergegen erhob die Klägerin nicht. Mit Erstattungsbescheid vom 12. September 2016 forderte der Beklagte die aufgrund der einstweiligen Anordnung erbrachten Zahlungen in Höhe von 843,70 Euro auf der Grundlage von § 50 Abs. 2 SGB X zurück. Zur Begründung gab er an, es handele sich um eine irrtümliche Überweisung ohne Verwaltungsakt. Der Klägerin sei bekannt gewesen, dass die Überweisung fehlerhaft war. Sie habe somit nicht darauf vertrauen können, dass ihr der überwiesene Betrag zugestanden hätte. Mit Schreiben vom 19. September 2016 wandte sich die Klägerin gegen die im Bescheid aufgeführten Gründe. Mit Widerspruchsbescheid W-11997/16 vom 14. Dezember 2016 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Auskehrung von Leistungen für Kosten der Unterkunft habe auf Angaben beruht, die von der Klägerin im Eilverfahren vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig bzw. unvollständig gemacht worden seien. Der Klägerin habe auch bewusst sein müssen, dass Leistungen für Unterkunft nur gewährt würden, wenn solche anfielen, was hier nicht der Fall sei. Ermessen sei nicht auszuüben gewesen. Zwar sei durch eine entsprechende Anwendung des § 45 SGB X grundsätzlich auch Ermessen auszuüben, letztlich jedoch wegen der Anordnung der gebundenen Entscheidung durch § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III im Ergebnis nicht. Am 19. Dezember 2016 erhob die Klägerin Klage. Mit Urteil vom 17. Januar 2019 gab das Sozialgericht Hamburg der Klage statt und hob den Erstattungsbescheid vom 12. September 2016 und den Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 2016 auf. Zur Begründung führte es aus, der Beklagte habe zu Unrecht Erstattung der festgesetzten Leistungen gem. § 50 SGB X gefordert. Denn die aufgrund der aufgehobenen einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts gewährten Leistungen seien nicht im Sinne des § 50 Abs. 2 SGB X "zu Unrecht" erfolgt, weil die Klägerin einen materiellen Anspruch auf die Gewährung weiterer Leistungen habe. Die Klägerin sei einer wirksamen Mietzinsforderung ihrer Mutter ausgesetzt und habe einen Anspruch auf entsprechende Gewährung der Kosten der Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Gegen das ihm am 6. Februar 2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 1. März 2019 Berufung eingelegt. Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg bedürfe der Korrektur. Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Januar 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie hält das erstinstanzliche Urteil für richtig.

Am 6. August 2020 hat der Senat eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird den Inhalt der Sitzungsniederschrift sowie auf den Inhalt der der Prozess- und Verwaltungsakten verwiesen. Diese haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Erstattungsbescheid vom 12. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Rechtsgrundlage für die Erstattungsforderung ist § 50 Abs. 2 SGB X. Die Zahlung der Kosten der Unterkunft für den Zeitraum vom 2. August 2016 bis 30. September 2016 in Höhe von 843,70 Euro entspricht lediglich der Ausführung des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 5. August 2016. Eine solche Ausführung bzw. ein solcher sog. Ausführungsbescheid enthält insoweit keine Regelung. Die Ausführung steht unter dem Vorbehalt, dass sie nur gelten soll, wenn die der Behörde auferlegte Verpflichtung in Rechtskraft erwächst. (Engelmann in: von Wulffen/Schütze, SGB X, Kommentar, 8. Aufl., 2014, § 31 Rn. 30 mwN). Hat der Antragsgegner im Eilverfahren aufgrund der Entscheidung des Gerichts Leistungen vorläufig erbracht, hat er bei Obsiegen in der Hauptsache einen Erstattungsanspruch entsprechend § 50 Abs. 2 SGB X und muss diesen durch Verwaltungsakt geltend machen (BSG, Urteil vom 9.3.1988, 9/9a RV 24/85). § 45 SGB X ist im Hinblick auf Vertrauensschutz und Ermessensausübung entsprechend anzuwenden (BSG, Urteil vom 31. 10. 1991, 7 Rar 60/89). Allerdings dürfte im Regelfall der Betroffene nicht gutgläubig im Sinne des § 50 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sein, da er nicht darauf vertrauen durfte, dass die Entscheidung im Hauptsacheverfahren derjenigen im vorläufigen Rechtsschutz entsprechen werde und er mit der Rückzahlung immer rechnen müsse (Keller, aaO, § 86b Rn. 22 und § 154, Rn. 4). Die Voraussetzungen für die Rückforderung gem. § 50 Abs. 2 SGB X sind vorliegend erfüllt. Ein "Rechtsgrund" im Sinne des § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X kann nicht in der materiellen Rechtslage gesehen werden. Vielmehr fehlt für die Zahlung aufgrund des sozialgerichtlichen Beschlusses bereits der Rechtsgrund, weil der Beschluss des Sozialgerichts vom 5. August 2016 durch Beschluss des Landessozialgerichts vom 5. September 2016 aufgehoben wurde und es kein Hauptsacheverfahren gibt, in dem über den Anspruch der Klägerin auf die höheren Kosten der Unterkunft anderweitig entschieden wurde. Der Bewilligungsbescheid vom 3. März 2016, der für den Zeitraum April 2016 bis September 2016 Kosten der Unterkunft in Höhe von 28 Euro vorsieht, ist mangels Erhebung eines Widerspruchs bestandskräftig geworden. Der am 2. August 2016 gestellte Überprüfungsantrag der Klägerin wurde mit Bescheid vom 25. August 2016 abgelehnt; dieser ist ebenfalls bestandskräftig geworden, denn einen Widerspruch hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben. Ein weiterführendes Hauptsacheverfahren im Sinne eines Widerspruchsverfahrens oder Klageverfahrens den Leistungszeitraum von April 2016 bis September 2016 betreffend hat die Klägerin nicht verfolgt. Es verbleibt damit bei dem bestandskräftigen Bewilligungsbescheid vom 3. März 2016, der den Anspruch der Klägerin abschließend und verbindlich festlegt. Die Voraussetzungen des § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sind erfüllt. Danach kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Bei wörtlicher Auslegung ist diese Norm in Fällen der vorliegenden Art niemals erfüllt; denn der Begünstigte vertraut auf das erstinstanzliche Urteil und auf die Rechtmäßigkeit der Ausführungsbescheide (BSG, Urteil vom 31. Oktober 1991, 7 Rar 60/89, Rn. 29). Die Gesamtumstände sprechen allerdings deutlich dafür, dass die Klägerin die Vorläufigkeit kannte bzw. kennen musste und nicht auf den Bestand des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 5. August 2016 vertrauen durfte. Sie kannte die ablehnende Haltung des Beklagten seit mehreren Jahren und führte zum Zeitpunkt des Beschlusses bereits Klageverfahren sowie weitere Verwaltungsverfahren, die andere Leistungszeiträume betrafen. Die Auszahlung am 23. August 2016 erfolgte zudem erst, nachdem der Antrag des Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung durch Beschluss des Landessozialgerichts vom 15. August 2016 abgelehnt worden war. Die Klägerin wurde auf die Vorläufigkeit und Erstattungspflicht mit Schreiben des Beklagten vom 23. August 2016 hingewiesen. Schließlich schrieb die Klägerin in ihrem Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 12. September 2016, ihr sei bewusst, dass der Beschluss in dem Verfahren S 22 AS 2852/16 ER aufgehoben worden sei. Ermessen war gem. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III nicht auszuüben, da die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X – wie soeben dargelegt – vorliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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