L 20 KR 356/20 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 KR 342/20 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 KR 356/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und ein Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt haben unterschiedliche Zielsetzungen. Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bei Gericht beinhaltet daher in der Regel keinen Widerspruch.
2. Der Widerspruch gegen die Feststellung des Leistungsruhens hat wegen § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 16 Abs. 3a Satz 2 Halbsatz 1 SGB V i.V.m. § 16 Abs. 2 Satz 4 KSVG keine aufschiebende Wirkung.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg ("Würzburg" - berichtigt mit Beschluss vom 18.11.2020) vom 17.08.2020 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Beschwerdeführer) wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Feststellung des Leistungsruhens wegen Beitragsrückständen.

Der Beschwerdeführer war bis 29.02.2020 wegen Bezugs von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) krankenversichert. Seit 01.03.2020 bezieht er - so seine Angaben vom 06.05.2020 im Einkommensfragebogen der Beschwerdegegnerin - keine Leistungen nach dem SGB II mehr und ist als Rentenantragsteller nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 11, 189 SGB V bei der Beschwerdegegnerin krankenversichert.

Gegen den Bescheid der Beschwerdegegnerin vom 12.05.2020, mit dem die monatlichen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf insgesamt 195,35 EUR festgesetzt und Beitragsrückstände in Höhe von 397,20 EUR gefordert worden waren, erhob der Antragsteller am 18.05.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg. Mit Bescheiden vom 22.05.2020 und 19.06.2020 wurden die offenen Beitragszahlungen des Beschwerdeführers angemahnt und dieser jeweils darauf hingewiesen, dass im Fall von Beitragsrückständen die Leistungsansprüche in der Krankenversicherung ruhen würden, sofern der Rückstand zwei Wochen nach Zugang der Mahnung höher als der Beitragsanteil für einen Monat sei. Auf die Möglichkeit der Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen durch den Sozialhilfeträger bei Vorliegen der Voraussetzungen des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch wurde ebenfalls hingewiesen. Am 17.06.2020 erließ die Beschwerdegegnerin zum Bescheid vom 12.05.2020 einen Widerspruchsbescheid.

Mit Schreiben vom 22.06.2020, versehen mit einer Rechtsmittelbelehrung, stellte die Beschwerdegegnerin unter Bezifferung der bis zum 31.05.2020 aufgelaufenen Beitragsrückstände das Ruhen des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Leistungen aus der Krankenversicherung ab dem 29.06.2020 fest. Am 21.07.2020 erging ein weiteres, wiederum mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenes und weitgehend inhaltsgleiches Schreiben der Beschwerdegegnerin, mit dem unter Bezifferung der bis zum 30.06.2020 aufgelaufenen Beitragsrückstände das Ruhen des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Leistungen aus der Krankenversicherung ab dem 27.07.2020 festgestellt wurde.

Im Klageverfahren S 4 KR 222/20 vor dem SG hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 22.07.2020 die erste Seite des Schreibens der Beschwerdegegnerin vom 21.07.2020 übersandt und Folgendes erklärt: "Ich stelle sofort den Antrag auf - Versicherungs AOK Schutz - seid. 1. März 2020 Antrag ER.-Rechtschutz."

Mit Beschluss vom 17.08.2020 hat das SG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich des Bescheids vom 22.06.2020 abgelehnt. Der Antrag auf Eilrechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG sei - so das SG - bereits unzulässig, da das Ruhen bestandskräftig festgestellt worden sei. Der Ruhensbescheid vom 22.06.2020 sei mit Ablauf der Widerspruchsfrist bestandskräftig geworden. Das Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 21.07.2020 sei rein wiederholender und deklaratorischer Natur, weise gegenüber dem Bescheid vom 22.06.2020 keine eigenständigen Regelungen auf und sei daher kein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).

Gegen den Beschluss vom 17.08.2020 hat der Beschwerdeführer Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Einen expliziten Antrag hat der Beschwerdeführer nicht gestellt. Zur Begründung verweist er darauf, dass ihm seit dem 01.03.2020 ein Versicherungsschutz fehle.

Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihren bisherigen Vortrag und die Begründung in der Entscheidung des SG.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des Antrags- und Klageverfahrens (S 4 KR 222/20) vor dem SG, des Beschwerdeverfahrens sowie der Behördenakte Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

1. Auslegung des Begehrens des Beschwerdeführers

Die Beschwerde des Beschwerdeführers ist dahingehend auszulegen, dass er eine Aufhebung der Ruhensfeststellung begehrt, wie sie von der Beschwerdegegnerin am 22.06.2020 ausgesprochen und am 21.07.2020 wiederholt worden ist.

Zwar hat der Beschwerdeführer keinen expliziten Antrag gestellt. Seinem Vorbringen, dass er seit dem 01.03.2020 über keinen Versicherungsschutz verfüge - tatsächlich ist nur das Ruhen und dieses erst ab dem 29.06.2020 festgestellt worden -, ist aber zu entnehmen (zur Auslegung prozessualer Anträge vgl. z.B. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 30.04.2003, 1 PBvU 1/02, und vom 03.03.2004, 1 BvR 461/03; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt SGG, 13. Aufl. 2020, § 123, Rdnr. 3), dass er sich gegen die Feststellung des Leistungsruhens wendet und sein Beschwerdebegehren darauf gerichtet ist, ihm einen uneingeschränkten Krankenversicherungsschutz durch die Beschwerdegegnerin zu ermöglichen. Dafür, dass der Beschwerdeführer auch eine Überprüfung der Beitrags(nach)forderungen der Beschwerdegegnerin im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes anstreben würde, ist nichts ersichtlich.

Da das Leistungsruhen mit Wirkung ab dem 29.06.2020 festgestellt worden ist, ist für das Beschwerdeverfahren davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer beantragt, den Beschluss des SG vom 17.08.2020 aufzuheben und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG hinsichtlich der Feststellung des Leistungsruhens auszusprechen.

2. Rechtliche Bewertung des Begehren des Beschwerdeführers

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, wie er hier in Betracht kommt, scheitert vorliegend schon daran, dass die Feststellung des Leistungsruhens bindend geworden ist (vgl. § 77 SGG).

Wendet sich ein Antragsteller im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Feststellung des Leistungsruhens, ist dies ein Fall des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, weil der Widerspruch gegen die Feststellung des Leistungsruhens wegen § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 16 Abs. 3a Satz 2 Halbsatz 1 SGB V i.V.m. § 16 Abs. 2 Satz 4 Künstlersozialversicherungsgesetz keine aufschiebende Wirkung hat, wie dies das SG zutreffend erläutert hat (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. 09.2008, L 16 B 36/08 KR ER - mit ausführlichen Erläuterungen; Bayer. LSG, Beschluss vom 18.05.2011, L 5 KR 164/11 B ER). Eine Anordnung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann nur ergehen, wenn Widerspruch eingelegt oder Anfechtungsklage erhoben worden ist, dessen bzw. deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden könnte (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ders., SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b, Rdnr. 7), was wiederum bedeutet, dass eine einstweilige Anordnung ausgeschlossen ist, wenn der Ruhensfeststellungsbescheid bindend gemäß § 77 SGG, also bestandskräftig geworden ist.

Von einer Bestandskraft der Feststellung des Leistungsruhens ist im Falle des Beschwerdeführers auszugehen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Leistungsruhen lediglich mit Bescheid vom 22.06.2020 festgestellt worden ist, wie dies das SG angenommen hat, oder ob auch das Schreiben vom 21.07.2020 einen weiteren Bescheid darstellt, mit dem das Leistungsruhen festgestellt worden ist, worauf neben der im Schreiben vom 21.07.2020 enthaltenen Feststellung des Leistungsruhens ab dem 27.07.2020 auch die zutreffende Rechtsmittelbelehrung in diesem Schreiben spricht. Denn der Beschwerdeführer hat weder binnen Monatsfrist nach dem Bescheid vom 22.06.2020 noch binnen Monatsfrist nach dem Schreiben vom 21.07.2020, die beide mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehen waren, Widerspruch eingelegt.

Auch den im Klageverfahren vor dem SG mit dem Aktenzeichen S 4 KR 222/20 und den im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sowohl vor dem SG als auch dem LSG eingegangenen Schreiben des Beschwerdeführers sind keine Ausführungen zu entnehmen, die als Antrag auf Selbstüberprüfung der Feststellung des Leistungsruhens durch die Beschwerdegegnerin und damit als Einlegung eines Widerspruchs - entweder gegen den Bescheid vom 22.06.2020 oder das Schreiben vom 21.07.2020 - gedeutet werden könnten. Insbesondere liegt auch im Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, wie er im Schreiben des Beschwerdeführers vom 22.07.2020 enthalten ist, kein Widerspruch gegen die Feststellung des Leistungsruhens, sei dieses am 22.06.2020 oder am 21.07.2020 festgestellt worden. Denn ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz an das SG kann einen Widerspruch nicht ersetzen und beinhaltet auch keinen Widerspruch. Ein Antrag an das Gericht in einem Eilverfahren, der auf eine vorläufige Regelung gerichtet ist, ist etwas grundlegend Anderes als ein an die zuständige Behörde gerichteter Widerspruch, der das Ziel hat, einen Bescheid nochmals auf Rechtmäßigkeit und gegebenenfalls Zweckmäßigkeit überprüfen und endgültig korrigieren zu lassen (vgl. Bayer. LSG, Beschlüsse vom 11.04.2011; L 7 AS 214/11 B ER, und vom 22.06.2017, L 7 AS 300/17 B ER; Bayer. LSG, Urteil vom 11.11.2013, L 7 AS 411/13; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.12.2016, L 7 AS 4120/16 ER-B; Oberverwaltungsgericht - OVG - Hamburg, Urteil vom 28.07.1995, Bf IV 14/94; Gall, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. Stand: 15.07.2017, § 83, Rdnr. 13; Jüttner, in: Fichte/ders., SGG, 3. Aufl. 2020, § 83, Rdnr. 4; vgl. auch die ständige höchstrichterliche Rspr., die - auch bei Rechtsunkundigen [vgl. BSG, Urteil vom 20.05.2003, B 1 KR 25/01 R] - die Umdeutung eines - wie hier im Schreiben des Klägers vom 22.07.2020 an das SG ["Ich stelle sofort den Antrag auf - Versicherungs AOK Schutz - seid. 1. März 2020 Antrag ER.-Rechtschutz."] - eindeutig bezeichneten Rechtsbehelfs in einen anderen nicht zulässt: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 04.07.1985, 5 AZR 318/85; Bundesfinanzhof, Beschluss vom 03. Juni 1993, VII R 24/93; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 13.06.1994, 9 B 374/94; BSG, Urteil vom 19.11.1996, 1 RK 18/95). Etwas Anderes gilt allenfalls dann, wenn in dem an das Gericht gerichteten Schreiben "mit hinlänglicher Deutlichkeit zugleich der Wunsch nach Einleitung und Durchführung des förmlichen Widerspruchsverfahrens ... bei der Behörde zum Ausdruck gebracht wird" (OVG Hamburg, Urteil vom 28.07.1995, Bf IV 14/94). Vorliegend lässt sich aber dem Schreiben des Beschwerdeführers vom 22.07.2020 nichts - geschweige denn mit ausreichende Deutlichkeit - entnehmen, was dahin verstanden werden könnte, dass der Beschwerdeführer die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens wünsche. Nur der Vollständigkeit halber merkt der Senat daher in diesem Zusammenhang an, dass dem Beschwerdeführer der Unterschied zwischen einem Antrag an das Gericht und einem an die Behörde gerichteten Widerspruch sehr wohl bekannt gewesen ist. So hat der aufgrund zahlreicher gerichtlicher Verfahren gerichtserfahrene Beschwerdeführer beispielsweise im Verfahren S 4 KR 222/20, in dem es um eine Beitragsfestsetzung ging, gegen einen Beitragsbescheid gleichzeitig "Wiederspruch/Klage" erhoben, woraufhin auch im Schreiben der dortigen Beklagten vom 29.05.2020, also nicht lange vor dem hier streitgegenständlichen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, nochmals das Erfordernis der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens aufgezeigt worden ist.

Mit der Frage, ob die Feststellung des Leistungsruhens rechtmäßig gewesen ist, hat sich der Senat im Rahmen der Entscheidung über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wegen der eingetretenen Bestandskraft der Feststellung des Leistungsruhens nicht zu befassen.

Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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