L 8 KR 687/18

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 11 KR 40/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 687/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zum Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V bei objektiv rechtswidriger Leistungsablehnung durch die Krankenkasse.

Eine Krankenkasse kann sich im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in welchem den Versicherten Sachleistungen durch ein von den Krankenkassen verantwortetes System zugelassener Vertragsärzte und Krankenhäuser zur Verfügung gestellt werden, nicht auf Diagnosefehler der in diesem System agierenden Ärzte und Krankenhäuser berufen, um den Anspruch des Versicherten auf Erbringung der ihm objektiv zustehenden Sachleistungen bzw. bei deren unrechtmäßiger Ablehnung von daraus folgenden Sekundäransprüchen auf Kostenerstattung abzulehnen.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2018 sowie der Bescheid vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. März 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten für die selbstbeschafften intravenös applizierten Immunglobuline in Höhe von 34.773,35 EUR zu erstatten.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für selbstbeschaffte intravenös applizierte Immunglobuline.

Der 1964 geborene Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Seit 2009 machten sich bei dem Kläger zunehmende multimodale Sensibilitätsstörungen der unteren Extremitäten bemerkbar. Zur Abklärung unterzog sich der Kläger ab März 2014 einer Behandlung im Universitätsklinikum Würzburg - Neurologische Klinik und Poliklinik. In einem Arztbrief vom 29. September 2014 stellte das Universitätsklinikum die Diagnose "seit 2010 progrediente multimodale Sensibilitätsstörung der unteren Extremitäten rechts ) links unklarer Genese, DD Ganglionitis". Aufgrund des Krankheits- und Behandlungsverlaufs sah das Klinikum Würzburg die Behandlung mittels Immunglobulinen im Rahmen eines "Off-label-use" (Einsatz von Medikamenten außerhalb des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsbereichs) als indiziert an.

Unter Bezugnahme u.a. auf diesen Bericht beantragte der Kläger am 29. September 2014 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für diese Therapie. Die Beklagte veranlasste hierzu eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Hessen. Über die Einschaltung des MDK unterrichtete die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 2. Oktober 2014. In seiner Stellungnahme vom 9. Oktober 2014 teilte der MDK mit, dass intravenös applizierbare Immunglobuline (IVIG)-Präparate zur Behandlung bei Verdacht auf Ganglionitis nicht zugelassen seien. Es läge weder eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung noch eine wertungsmäßig gleichgestellte Krankheit vor. Die Voraussetzungen für einen Off-label-use seien nicht erfüllt.

Am 14. Oktober 2014 informierte die Beklagte den Kläger zunächst fernmündlich über das Ergebnis der MDK-Beurteilung und erklärte, dass eine Kostenübernahmeerklärung nicht abgegeben werden könne. Nach einer weiteren negativen Bewertung des MDK vom 20. Oktober 2014 lehnte die Beklagte sodann mit Bescheid vom 22. Oktober 2014 den Antrag des Klägers unter Bezugnahme auf die Bewertungen des MDK ab. Der Kläger erhob am 25. Oktober 2014 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2015 zurückwies.

Der Kläger hat am 9. März 2015 Klage beim Sozialgericht Fulda erhoben. Im Zeitraum Mai 2015 bis einschließlich März 2016 sind dem Kläger seitens des Universitätsklinikums Würzburg insgesamt sechs Behandlungszyklen IVIG (Gamunex®) verabreicht worden; fünf der Zyklen beschaffte sich der Kläger ab Juli 2015 auf eigene Kosten selbst.

Das Sozialgericht hat ärztliche Unterlagen angefordert und ein neurologisches Sachverständigengutachten nach körperlicher Untersuchung des Klägers bei dem Sachverständigen Prof. Dr. D. eingeholt. Im Gutachten vom Dezember 2015 kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Kläger mit höchster Wahrscheinlichkeit an einer Autoimmun-Ganglionitis leide. Ein Einsatz von IVIG im Rahmen eines Off-label-use sei angesichts des schweren Krankheitsbildes des Klägers und fehlenden Behandlungsalternativen zu befürworten.

Nachdem sich der Gesundheitszustand infolge der verabreichten Zyklen von IVIG zunächst stabilisiert und erheblich verbessert hatte, kam es bei dem Kläger im Herbst 2016 nach einer Therapiepause zu einer Verschlechterung der Gehfähigkeit. Ab Oktober 2016 erfolgten deshalb stationäre Behandlungen des Klägers im Universitätsklinikum Würzburg, aufgrund derer das Universitätsklinikum (u.a. mit Berichten vom 6. Dezember 2016 und 8. Juni 2016) über eine erneute Besserung des Krankheitsbildes unter IVIG-Gabe berichtete. Das Universitätsklinikum ging nunmehr von der Diagnose einer IVIG-responsiven, entzündlichen Hinterstrang/Hinterwurzelaffektion aus.

Der hierzu ergänzend gehörte Sachverständige Prof. Dr. D. hat in einer Stellungnahme vom 30. Juni 2018 ausgeführt, die Strukturen im Bereich des Spinalganglions und der Hinterwurzel hingen funktionell so eng zusammen, dass eine Trennung oder gar eine neu zu benennende Krankheit nicht zur Diskussion stehen könne. Es handele sich um ein seltenes Leiden mit schwerwiegendem Verlauf, bei dem eine andere Therapie nicht verfügbar und der Einsatz von IVIG im Off-label-use gerechtfertigt sei.

In der mündlichen Verhandlung vom 16. August 2018 hat das Sozialgericht den Sachverständigen Prof. Dr. D. und den behandelnden Arzt am Universitätsklinikum Würzburg, Prof. Dr. E., gehört und sodann mit Urteil vom selben Tag die Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten beziehungsweise Versorgung zu Lasten der Beklagten bestehe nicht aufgrund der sog. Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V), da die Beklagte die maßgebliche 5-Wochen-Frist zur Bescheidung des Klägers eingehalten habe. Der Kläger habe aber auch keinen Kostenerstattungsanspruch wegen unrechtmäßiger Leistungsablehnung durch die Beklagte nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V, denn der Kläger habe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Primäranspruch gegen die Beklagte auf eine Therapie mittels Immunglobulinen. Immunglobuline seien zur Behandlung des bei dem Kläger bestehenden Krankheitsbildes nicht zugelassen. Die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Voraussetzungen für einen Off-label-use seien nicht erfüllt. Die Behandlung mit IVIG sei auch nicht nach den Grundsätzen eines sog. Seltenheitsfalles zulässig, weil das Mittel der Behandlung einer einzigartigen Krankheit in einer außergewöhnlichen medizinischen Situation diene. Prof. Dr. D. habe im Gutachten ausführlich beschrieben, dass sowohl die chronisch inflammatorische demyelisierende Polyneuropathie (CIDP) als auch das Guillan-Barre-Syndrom häufiger aufträten und sie mit dem Krankheitsbild des Klägers wegen des ähnlichen Pathomechanismus vergleichbar seien. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a S. 1 SGB V seien letztendlich ebenfalls nicht erfüllt. Die Erkrankung des Klägers sei trotz ihrer Progression weder lebensbedrohlich noch regelmäßig tödlich.

Gegen das am 23. Oktober 2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31. Oktober 2018 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 16. August 2018 sowie den Bescheid vom 22. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. März 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die selbstbeschafften intravenös applizierten Immunglobuline in Höhe von 34.773,35 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein Gutachten nach Aktenlage bei dem Ltd. Oberarzt der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Prof. Dr. F., eingeholt, welches dieser am 10. Oktober 2019 erstattet hat. Er diagnostiziert bei dem Kläger eine autoimmun bedingte Entzündung der Spinalhinterwurzel, die sich in das erweiterte Spektrum der CIDP einordnen lasse. Bei dem Kläger liege eine extrem seltene Variante der CIDP vor, die aufgrund der ungewöhnlichen klinischen Manifestation zunächst als Ganglionitis verkannt worden sei. Diese Diagnose sei im Verlauf durch die behandelnde Klinik zu Recht revidiert worden, da die vorliegende Befundkonstellation nicht für eine entzündliche Schädigung der Nervenzelle, sondern der Nervenhinterwurzel spreche. Es handele sich um eine schwerwiegende Erkrankung, da es durch die schwere Sensibilitätsstörung der Beine zu einer ausgeprägten Gangunsicherheit komme, die unbehandelt zur Gehunfähigkeit und weiteren schwerwiegenden, potentiell tödlich verlaufenden Komplikationen wie Lungenentzündungen, Thrombosen und Lungenembolien führe. Die intravenöse Gabe von IVIG sei zur Behandlung der CIDP zugelassen. Sie sei im Fall des Klägers nachgewiesenermaßen hocheffektiv. Therapeutische Alternativen bestünden nicht bzw. seien erfolglos durchgeführt worden.

Der Kläger sieht sich durch das Gutachten bestätigt. Er legt ein Schreiben des behandelnden Arztes Prof. Dr. E. vom 21. Februar 2020 vor, der dem Sachverständigen hinsichtlich der Diagnose einer CIDP in der seltenen Variante einer CISP (chronic inflammatory sensory polyradiculopathy) beipflichtet. Die ursprüngliche Diagnose einer Ganglionitis habe er revidiert, weil bei dem Kläger die sensiblen Nervenleitungen im Abschnitt körperabwärts des Spinalganglions völlig in Ordnung gewesen seien und deshalb anatomisch korrekt von einer Hinterwurzel/-strangaffektion gesprochen werde, ohne dass sich dadurch an dem medizinischen Sachverhalt irgendetwas ändere. Der klinische Erfolg der Behandlung mit IVIG sei unbestreitbar und werde nachdrücklich durch Videoaufnahmen vom Gangbild des Klägers mit und ohne IVIG-Therapie belegt.

Die Beklagte hat hierzu zwei Stellungnahmen des MDK vorgelegt, zunächst des Arztes für Allgemeinmedizin/Apotheker Dr. G. vom 27. Oktober 2019 und sodann vom 28. April 2020 von der Fachärztin für Neurologie Dr. H ... Frau Dr. H. führt in Auswertung des Schreibens von Prof. Dr. E. zusammenfassend aus, die Erkrankung des Klägers könne nachvollziehbar als sehr seltene CIDP-Manifestationsform zu verstehen sein, weshalb für die hier beantragte intravenöse IVIG-Therapie eine zulassungskonforme Indikation vorliege.

Nachdem die Beklagte zunächst die von dem Sachverständigen Prof. Dr. F. gestellte Diagnose einer CIPD angezweifelt hat, hat sie dies nach Eingang des MDK-Gutachtens von Dr. H. nicht mehr wiederholt. Sie meint aber, der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V setze voraus, dass die Leistung von der Krankenkasse zu Unrecht abgelehnt worden sei. Daher müsse es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behandlungsentscheidung bzw. der Entscheidung der Krankenkasse ankommen. Ausgehend von der Diagnose "Verdacht auf Ganglionitis" seien im Zeitpunkt der Entscheidung jedoch die Kriterien des Off-label-use maßgeblich gewesen. Spätere medizinische Erkenntnisse könnten daher keine Berücksichtigung finden. Maßgeblich sei daher, wann die Diagnose einer Ganglionitis revidiert worden sei. Hierzu beantragt die Beklagte eine ergänzende Stellungnahme bei Prof. Dr. E. einzuholen zu der Frage, wann die Diagnose einer Ganglionitis revidiert wurde und wo dies dokumentiert wurde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts kann nicht aufrechterhalten bleiben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Dieser hat Anspruch auf Erstattung der von ihm verauslagten Kosten der IVIG-Therapie in Höhe von 34.773,35 EUR.

Der Kostenerstattungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte beruht auf § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Nach dieser Norm besitzt ein Versicherter Anspruch auf Erstattung der ihm entstandenen Kosten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig hatte erbringen können (1. Alt.) oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten dadurch Kosten entstanden sind, jedoch nur soweit die selbstbeschaffte Leistung notwendig gewesen ist (2. Alt.). Die Vorschrift gibt damit abweichend von dem Sachleistungssystem der GKV dem Versicherten einen Erstattungsanspruch für den Ausnahmefall, dass eine von der Krankenkasse geschuldete notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der Krankenversicherung als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden konnte. Die Vorschrift des § 13 Abs. 3 SGB V ist damit insbesondere auf Fälle zugeschnitten, in denen die Krankenkasse die Erbringung einer an sich geschuldeten Dienst- oder Sachleistung zu Unrecht ablehnt und der Anspruchsteller hierdurch gezwungen ist, sich außerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung behandeln zu lassen, indem er einen nicht zugelassenen Leistungserbringer aufsucht oder mit einem zugelassenen Leistungserbringer vom öffentlich-rechtlichen Leistungsrahmen abweichende privatrechtliche Vereinbarungen trifft (vgl. statt vieler: BSG, Urteil vom 2. September 2014 – B 1 KR 11/13 R –, juris Rn. 8).

Vorliegend hat die Beklagte es zu Unrecht abgelehnt, im Rahmen der ambulanten Behandlungen des Klägers in der Universitätsklinik Würzburg ab Mai 2015 die Kosten der Versorgung mit Immunglobulinen (Gamunex®) zu übernehmen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (stRspr., vgl. z. B. BSGE 111, 168 – Avastin). Eine arzneimittelrechtliche Zulassung in diesem Sinne liegt nur vor, wenn das Arzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll (BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 1/06 R –, BSGE 97, 112-125).

Die vorliegend streitige intravenöse Gabe von Immunglobulinen erfüllt diese Voraussetzungen. Denn die IVIG-Therapie mittels des hier eingesetzten Präparats Gamunex® verfügt über eine Zulassung zur Behandlung der chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP). Diese Krankheit liegt bei dem Kläger nach dem Gutachten von Prof. Dr. J. vor, und zwar in der seltenen Variante einer CISP, also einer chronisch verlaufenden entzündlichen Wurzelläsion. Zwar liegt das Krankheitsbild der CIPD bei dem Kläger nicht im Vollbild vor, da hierzu in der Regel der Nachweis von Läsionen der peripheren Nerven und der Nervenwurzeln gehört, die mit deutlichen, oft sogar im Vordergrund stehenden motorischen Defiziten in Form von Lähmungen der Extremitäten verbunden sind. Jedoch legt der Sachverständige dar, dass das Krankheitsbild der CIPD ausgesprochen heterogen ist und auch in anderen Manifestationsformen mit einem vergleichbaren klinischen Bild wie bei dem Kläger vorkommt, weshalb bei dem Kläger von einem Vorliegen einer immunvermittelten Hinterwurzelaffektion als einer äußerst seltenen Sonderform innerhalb des komplexen CIDP-Spektrums auszugehen ist. Prof. Dr. J. stützt dies auf den klinischen Befund und Verlauf, den Nachweis entzündlicher Liquorveränderungen und die elektrophysiologischen Befunde mit Leitungsblockierung in den somatosensibel evozierten Potentialen.

Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Feststellungen des Sachverständigen zu zweifeln. Sie sind wissenschaftlich begründet und werden vollumfänglich gestützt durch das sozialmedizinische Gutachten des MDK (Fachärztin für Neurologie Dr. H.) vom 28. April 2020. Wie diese auf der Grundlage einer Sichtung der wissenschaftlichen Literatur darlegt, kann die Diagnose einer CIDP in der speziellen Form einer CISP bestätigt werden, die nach gegenwärtigem Expertenkonsens als Variante des CIDP-Spektrums angesehen wird. Überzeugend für die Diagnose einer CIDP seien vorliegend der klinische, MRT- und Liquorbefund. Für die beantragte intravenöse IVG-Therapie liege damit eine zulassungskonforme Indikation vor.

Vor diesem Hintergrund ist die Auffassung des erstinstanzlichen Sachverständigen Prof. Dr. D., der bei dem Kläger insbesondere vor dem Hintergrund der damaligen Einschätzung des behandelnden Arztes Prof. Dr. E. eine Ganglionitis diagnostizierte, durch die weitere Entwicklung als überholt anzusehen. Denn eine Ganglionitis – darauf weisen sowohl Prof. Dr. E. als auch der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. F. hin – würde zu einer kombinierten Schädigung des peripheren und zentralen Fortsatzes der sensiblen Nervenzelle führen mit kombiniertem Ausfall der peripheren Reizantwort des Nervus suralis und des Tibialis-SSEP. Bei dem Kläger ist die periphere Reizantwort des Nervus suralis jedoch intakt, weshalb nur die Möglichkeit verbleibt, dass es sich um eine Läsion der noch außerhalb des Rückenmarks liegenden Hinterwurzel oder des bereits im Rückenmark verlaufenden Hinterstranges handelt. Angesichts dessen kann – wie Prof. Dr. E. in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. F. darlegt – die Verdachtsdiagnose einer Ganglionitis nicht mehr aufrechterhalten bleiben. Vielmehr ist bei dem Kläger von dem Vorliegen einer CISP als einer äußerst seltenen entzündlichen Nervenerkrankung auszugehen, die von internationalen Experten eindeutig als Teil des Krankheitsspektrums der CIDP betrachtet wird. Insoweit besteht nunmehr Einigkeit zwischen behandelndem Arzt, dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. F. und dem MDK.

Dem Beweisantrag der Beklagten, eine Stellungnahme von Prof. Dr. E. zu der Frage einzuholen, wann er die Diagnose einer Ganglionitis revidiert und wo er dies dokumentiert hat, war angesichts dieser Sachlage nicht nachzukommen. Denn darauf kommt es nicht an. Maßgeblich ist allein, dass die Diagnose einer bei dem Kläger vorliegenden CIDP medizinisch unstreitig bereits seit Beginn der streitgegenständlichen Behandlung mit Immunglobulinen vorlag, woran nach übereinstimmender Aussage von Prof. Dr. F., Prof. Dr. E. und der MDK-Gutachterin kein Zweifel besteht. Dies begründet den Anspruch des Klägers auf die entsprechende Behandlung mit dem für die Behandlung der CIDP zugelassenen Medikament Ganumex® ab dem Zeitpunkt des Behandlungsbeginns und daran anknüpfend – da die Beklagte diesen Sachleistungsanspruch zu Unrecht abgelehnt hat – den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V, da der Kläger infolge der rechtswidrigen Leistungsablehnung der Beklagten gezwungen war, sich die Behandlung auf eigene Kosten zu verschaffen. Die Auffassung der Beklagten, ein Anspruch bestehe erst ab dem Zeitpunkt der erfolgten Diagnoseänderung, verkennt, dass sich an der Rechtswidrigkeit ihrer Leistungsablehnung nichts dadurch ändert, dass dies erst im weiteren Verlauf des Verfahrens offenbar geworden ist. Bei dem Kläger bestand bei zutreffender Bewertung der medizinischen Befunde von Behandlungsbeginn an eine CIDP, zu deren Behandlung der Einsatz von Immunglobulinen zugelassen und im Fall des Klägers nach allgemeiner Auffassung indiziert war; Prof. Dr. E. hat nachdrücklich auf die schwerwiegende Verschlechterung des Gangbilds des Klägers ohne die Behandlung mit IVG und die eindeutigen Behandlungserfolge unter dieser Therapie hingewiesen. Diese Krankheit wurde seitens der behandelnden Ärzte ursprünglich lediglich falsch als Ganglionitis diagnostiziert und der Einsatz von IVG daher als Behandlung im Off-label-use angesehen, da Gamunex® für die Behandlung der Ganglionitis keine Zulassung besitzt. Es entspricht aber der ständigen medizinischen und sozialgerichtlichen Erfahrung, dass eine einmal gestellte Diagnose aufgrund besserer Erkenntnis in der Folge revidiert werden muss. Eine solche Diagnoseänderung ändert aber an der Krankheit des Versicherten und dem daraus folgenden Behandlungsbedarf nichts. Die Leistungsablehnung der Beklagten war damit objektiv rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten.

Insoweit geht der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des BSG vom 8. Februar 2000 (B 1 KR 18/99 B) fehl. Dort ging es um die Zulassung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) und die Frage, ob neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurückwirken. Dies hat das BSG im Hinblick auf das Verbot des § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V verneint, da diese Vorschrift die Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der gesetzlichen Krankenversicherung von dem formalen Erfordernis der Empfehlung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen abhängig macht und die Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt es nicht zulässt, bei der Entscheidung über die Leistungspflicht der Krankenkasse spätere, im Behandlungszeitpunkt noch nicht verfügbare medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen (BSG a.a.O., juris Rn. 8). Diese Fallgestaltung ist mit der vorliegenden nicht ansatzweise vergleichbar, da es hier – bei zutreffender rückwirkender Bewertung der Krankheit des Klägers – von Beginn an um eine Behandlung mit einem zur Versorgung der Versicherten zugelassenen und indikationsgerecht angewandten Medikament ging. Die Beklagte kann sich im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in dem den Versicherten Sachleistungen durch ein von den Krankenkassen verantwortetes System zugelassener Vertragsärzte und Krankenhäuser zur Verfügung gestellt werden, nicht auf Diagnosefehler der in diesem System agierenden Ärzte und Krankenhäuser berufen, um den Anspruch des Versicherten auf Erbringung der ihm objektiv zustehenden Sachleistungen (bzw. bei deren unrechtmäßiger Ablehnung von daraus folgenden Sekundäransprüchen auf Kostenerstattung) abzulehnen mit der Folge, dass der Versicherte die Behandlungskosten selbst tragen muss, bis die Fehldiagnose erkannt ist. Dies würde den dargestellten Verantwortungszusammenhang auf den Kopf stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved