Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
83
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 83 KR 6564/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird auf 3.425,45 EUR festgesetzt. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Zweitversorgung eines Kin-des vor Vollendung des dritten Lebensjahres mit einem Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertageseinrichtung.
Das bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kind B S (Versicherter), geboren am XX.XX.XXXX, leidet an einer spinalen Muskelatrophie mit proximal- und beinbetonter Muskelschwäche und einer Entwicklungsverzögerung der Grobmotorik. Die Beklagte versorgte ihn daher für die Einhaltung einer sitzenden Körperhaltung mit einem Therapiestuhl im häuslichen Bereich.
Unter Vorlage einer Verordnung der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedi-zin Dr. M/C beantragte der Versicherte am 04.04.2018 bei der Beklagten die Zweitversor-gung mit einem Therapiestuhl mit High-Low Untergestell, Therapietisch, anatomische Sitzeinheit und Zubehör für den Besuch des Kindergartens. Dem Antrag fügte er einen Kostenvorschlag der Sanitätshaus I GmbH in Höhe von 3.425,45 EUR bei. Am 09.04.2018 leitete die Beklagte den Antrag an die Klägerin weiter. Zur Begründung führte sie aus, dass die Weiterleitung nach § 14 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) angezeigt sei, da eine Zuständigkeit der Klägerin für eine Versorgung des unter drei Jah-re alten Versicherten mit einem Therapiestuhl für den Besuch eines Kindergartens als Zweitversorgung nicht bestehe. Mit Bescheid vom 05.07.2018 bewilligte die Klägerin die vorläufige Kostenübernahme für die beantragte Zweitversorgung gemäß § 54 Sozialge-setzbuch – Zwölftes Buch – (SGB XII) in Verbindung mit § 26 SGB IX.
Am 19.12.2018 meldete die Klägerin bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch ge-mäß § 16 SGB IX an. In einem weiteren Schreiben vom 15.03.2019 bezifferte sie den Er-stattungsanspruch auf 3.425,45 EUR. Im Übrigen führte sie aus, dass die Beklagte zu-ständig sei, da durch den Besuch einer Kinderkrippe die Erschließung eines körperli-chen und geistigen Freiraums sowie die Integration unter Gleichaltrigen gewährleistet werde. Ferner sei die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit Aufgabe der gesetz-lichen Krankenversicherung. Mit Schreiben vom 01.04.2019 lehnte die Beklagte eine Er-stattung unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 03.11.2011 mit den Aktenzeichen B 3 KR 13/10 R, B 3 KR 8/11 R und B 3 KR 7/11 R ab. Mit ihrer am 02.12.2019 bei Gericht eingegangen Klage verfolgt die Klägerin ihr Erstat-tungsbegehren in Höhe von 3.425,45 EUR nebst fünf Prozent Verwaltungskostenpau-schale sowie Zinsen weiter. Der tägliche Transport des von der Beklagten bewilligten Therapiestuhls von Zuhause in den Kindergarten und wieder zurück sei wegen Sperrig-keit und Gewicht des Stuhls weder geeignet noch zumutbar. Die Beklagte sei für die Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) ori-ginär zuständig, weil sie dem mittelbaren Behinderungsausgleich zur Erfüllung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens diene. Schließlich stelle unter Verweis auf § 24 Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – (SGB VIII) sowie auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg vom 19.09.2018 (Az.: S 11 KR 328/17) der Besuch einer Kindertagesstätte auch für Kinder unter drei Jahren ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.425,45 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 01.02.2019 nach den ge-setzlichen Bestimmungen des § 16 Abs. 6 SGB IX in Verbindung mit § 108 Abs. 2 SGB X sowie eine Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5 Prozent der erstat-tungsfähigen Leistungsaufwendungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf ihr Ablehnungsschreiben vom 01.04.2019.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von den Beteiligten vorgelegten Verwaltungsakten. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl in Höhe von 3.425,45 EUR aus § 16 Abs. 1 SGB IX gegen die Beklagte.
§ 16 Abs. 1 SGB IX enthält folgende Regelung: Hat ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 S. 4 Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger ins-gesamt zuständig ist, erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften. § 16 Abs. 1 SGB IX räumt dem zweitangegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein. Er ist begründet, soweit der Versicher-te/Leistungsberechtigte vom Träger, der ohne die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können. Die Regelung begründet einen Ausgleich dafür, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger – bei Vorliegen eines entsprechenden Bedarfs – die erforderlichen Leistungen (spätestens nach drei Wochen bzw. zwei Wochen nach Einholung eines Gutachtens) selbst dann erbringen muss, wenn er der Meinung ist, hierfür nicht zuständig zu sein. Dabei handelt es sich um eine gleichsam "aufgedrängte Zuständigkeit". Diese in § 14 Abs. 2 S. 1 und 4 SGB IX geregelte Zuständigkeitszuweisung erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versi-cherten/Leistungsberechtigten auf alle Rechtsgrundlagen sämtlicher Rehabilitationsträ-ger im Sinne des § 6 Abs. 1 SGB IX, die für die spezifische Bedarfssituation vorgesehen sind. Im Verhältnis zum behinderten Menschen wird dadurch eine eigene gesetzliche Verpflichtung des zweitangegangenen Trägers begründet, die – vergleichbar der Rege-lung des § 107 SGB X – einen endgültigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung in diesem Rechtsverhältnis bildet. Im Verhältnis der Rehabilitationsträger unter-einander ist jedoch eine Lastenverschiebung ohne Ausgleich nicht bezweckt. Den Aus-gleich bewirkt der Anspruch nach § 16 Abs. 1 SGB IX (vgl. noch zu § 14 Abs. 4 SGB IX a. F. BSG, Urteil vom 08.09.2009, Az.: B 1 KR 9/09 R, Rn. 11 zit. nach juris).
Die Klägerin ist als zweitangegangener Rehabilitationsträger grundsätzlich erstattungs-berechtigt nach den §§ 16 Abs. 1, 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX. Schließlich hat die Beklagte den am 04.04.2018 gestellten Antrag auf Kostenübernahme für einen Therapiestuhl mit High-Low Untergestell, Therapietisch, anatomische Sitzeinheit und Zubehör mit Schrei-ben vom 09.04.2018 fristgerecht binnen zwei Wochen gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX an die von ihr für zuständig erachtete Klägerin als Rehabilitationsträger, der für Leis-tungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuständig ist (§ 5 Nr. 4 SGB IX in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX), weitergeleitet. Die Klägerin hat auch das be-gehrte Hilfsmittel als nunmehr im Außenverhältnis zu dem Versicherten zuständiger zweitangegangener Rehabilitationsträger nach Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (§ 14 Abs. 2 S. 4 und 1 SGB IX) bewilligt, weil die Ausstattung des Versicherten mit dem bereits vorhandenen Therapiestuhl nicht ausreichend war. Dem Grunde nach benötigte er in der Kindertageseinrichtung daher unstreitig dieses Hilfsmittel. Nach Auffassung der Kammer fehlt es jedoch an der Zuständigkeit der Beklagten als anderer Rehabilitations-leistungsträger. Eine solche Zuständigkeit kommt hier nur nach § 33 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit §§ 5 Nr. 1, 6 Abs.1 Nr. 1 SGB IX in Betracht. Die materiell-rechtlichen Vo-raussetzungen der Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 SGB V sind vorliegend jedoch nicht erfüllt.
Gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hör-hilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Die begehrte Zweitversorgung mit dem Thera-piestuhl diente hier ersichtlich nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und auch nicht der Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung, sondern allein dem Ausgleich der Folgen der seit Geburt vorhandenen Behinderung des Versicherten (3. Variante). Der Behinderungsausgleich nach der dritten Variante des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst zwei Zielrichtungen (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2011, Az.: B 3 KR 7/10 R, Rn. 31 f., zit. nach juris). Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder be-einträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem so genannten unmittelbaren Behinde-rungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktions-defizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2009, Az.: B 3 KR 2/08 R, Rn. 18, zit. nach juris). Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses so genannten mittelbaren Behinde-rungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleich-ziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitati-on, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organ-funktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständi-ges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinaus gehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2010, Az.: B 3 KR 13/09 R, Rn. 18, zit. nach juris). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der ge-setzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Be-hinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.2011, Az.: B 3 KR 9/10 R, Rn. 13 ff., zit. nach juris).
Der Therapiestuhl dient ersichtlich nicht dem Ausgleich einer ausgefallenen oder beein-trächtigten Körperfunktion, weil dieser dem Versicherten lediglich bei der Einhaltung ei-ner sitzenden Körperhaltung unterstützt. Es handelt sich damit um einen Fall des mittel-baren Behinderungsausgleichs; für einen Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung fehlt aber das Betroffensein eines allgemeinen Grundbedürfnis-ses des täglichen Lebens. Nach Auffassung der Kammer gehört die Versorgung mit ei-nem Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertagesstätte bei einem Versicherten, der im Zeitpunkt der Antragstellung sowie der Leistungsbewilligung noch nicht das dritte Le-bensjahr vollendet hat – wie im vorliegenden Fall – nicht zu den Grundbedürfnissen des Versicherten im Sinne der medizinischen Rehabilitation. Ein Anspruch auf Zweitversor-gung nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V kommt im Hinblick auf die Förderung der Schulfähig-keit erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres in Betracht. Die Kammer schließt sich insoweit nach eingehender Prüfung den überzeugenden Entscheidungsgründen des BSG (Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 22, zit. nach juris) sowie des Sächsi-schen Landessozialgerichts (Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, zit. nach juris) an.
Zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen gehören die körperlichen Grundfunktionen (z. B. Gehen, Stehen, Sitzen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausschei-dung) sowie die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen und die Erschlie-ßung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Information, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst. Daneben hat die Recht-sprechung des BSG die Herstellung oder Erhaltung der Schulfähigkeit bzw. den Erwerb einer elementaren Schulausbildung als allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers an-erkannt. Dies kann auch die Hinführung eines Kindes auf die Schulfähigkeit und die Vorbereitung auf den Erwerb eines elementaren Schulwissens im Rahmen der Aktivitä-ten in einer Kindertageseinrichtung umfassen. Die Schulfähigkeit ist aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens im Sinne des § 33 SGB V anzu-sehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischem Wissen und Können an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Förder- bzw. Sonderschul-pflicht geht. Wenn die GKV dafür einzustehen hat, behinderten Menschen im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so muss sie zwar die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese Menschen das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben und die ihnen insoweit auferlegten staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen zu können; darüber hinaus-gehende Bildungsziele hat sie aber nicht mehr zu fördern. Das ist vielmehr Aufgabe an-derer Leistungsträger (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 15-17, zit. nach juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze folgt die Kammer der Rechtsprechung des BSG, dass der Besuch eines Kindergartens an sich nicht als allgemeines Grundbedürf-nis des täglichen Lebens anzuerkennen ist, weil dieser Besuch – anders als der Besuch einer Schule im Rahmen der Schulpflicht – vom Gesetzgeber bisher nicht als gesetzli-che Pflicht ausgestaltet ist (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 22, zit. nach juris). Vielmehr sieht die Kammer im Anspruch auf frühkindliche Förderung für Kinder vor Vollendung des dritten Lebensjahres eine Teilhabeleistung, welche unter Be-rücksichtigung der speziellen Bedürfnisse des Kindes eine klassische Leistung der Trä-ger der Jugendhilfe und/oder der Eingliederungshilfe darstellt. Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung als medizinische Rehabilitation bleibt es, die Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben als allgemeines Grundbedürfnis zu beseiti-gen bzw. zu mildern. Diesen Bedarf hat die Beklagte mit der Erstversorgung befriedigt. Im Übrigen hält die Kammer an der am Alter des Versicherten/Leistungsberechtigten an-knüpfenden Differenzierung des BSG, wonach der Besuch einer Kindertageseinrich-tung erst dann der Hinführung eines Kindes auf die Schulfähigkeit bzw. der Vorberei-tung auf den Erwerb eines elementaren Schulwissens dient, wenn dieses im Zeitpunkt der Antragsstellung das dritte Lebensjahr vollendet hat, fest. Insbesondere überzeugt auch weiterhin der Auffassung des BSG, dass sich gerade in der Phase zwischen dem dritten bis sechsten Lebensjahr die elementaren – insbesondere die für die Schulfähig-keit maßgebenden körperlichen, kognitiven und sozialen – Voraussetzungen herausbil-den und insoweit pädagogischer Einfluss genommen werden kann. In dieser Zeit entwi-ckelt sich unter anderem das Sozialverhalten im Sinne des Erlernens sozialer Grundre-geln (z. B. Teilen, Ausdruck von Gefühlen) (vgl. BSG, Urteil 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 20, zit. nach juris).
Diese Altersdifferenzierung überzeugt auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neu-regelung des § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII mit Wirkung zum 01.08.2013, wonach nunmehr bereits für Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ein Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kinder-tagespflege besteht. Das Ziel des frühkindlichen Förderungsauftrages umfasst zwar auch Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht auch die soziale, emo-tionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes mit ein, jedoch nicht unter Au-ßerachtlassung des altersimmanenten Entwicklungsstandes. Daher kann dieser allge-meine Bildungsauftrag der Krippen und Kindertagesstätten nicht mit dem gezielten "Hin-führen zur Schulfähigkeit gemäß § 22 Abs. 3 S. 1 SGB VIII gleichgesetzt werden (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, Rn. 23, zit. nach juris). Das Festhalten an der Differenzierung nach Altersgruppen hat auch einen Niederschlag in der gesetzlichen Neuregelung gefunden. So besteht unter Beachtung des Wortlautes von § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII explizit ein Anspruch auf frühkindliche Förderung und nicht wie bei Kindern, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, ein allgemeiner Förde-rungsanspruch im Sinne des § 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII. Die frühkindliche Förderung ori-entiert sich vielmehr an einem individuellen Bedarf (vgl. § 24 Abs. 2 S. 2 SGB VIII) und ist damit nicht mit dem allgemeinen Bedürfnis auf Erhalt oder Erwerb der Schulfähigkeit gleichzusetzen. Für die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung kommt es daher weiterhin entscheidend im Sinne einer generalisierenden Betrachtung auf den Besuch einer Kindereinrichtung frühestens "ab Vollendung des dritten Lebensjahres" an. Dies gilt unabhängig von Typ/Bezeichnung der Betreuungseinrichtung und auch vom krankheits- oder behinderungsbedingt ggf. erhöhten individuellen Förderungsbedarf des jeweils betroffenen Kindes (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, Rn. 25, zit. nach juris). Schließlich führt die Altersdifferenzierung auch zu einer Vereinfachung und Rechtsklarheit innerhalb des komplizierten Zuständigkeitsgeflechtes der Rehabilitationsträger untereinander und dient so einer effizienten Entscheidungsfin-dung und Versorgung der Versicherten/Leistungsberechtigten im Außenverhältnis. Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die Einholung eines pädagogi-schen/psychologischen Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich (aA. SG Nürnberg, Urteil vom 19.09.2018, Az.: S 11 KR 328/17, zit. nach juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und trägt dem Unterliegen der Klägerin Rechnung.
Der Streitwert richtet sich nach der Höhe der streitgegenständlichen Forderung, § 197a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Kammer hat die Berufung im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung des § 24 SGB VIII wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Zweitversorgung eines Kin-des vor Vollendung des dritten Lebensjahres mit einem Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertageseinrichtung.
Das bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kind B S (Versicherter), geboren am XX.XX.XXXX, leidet an einer spinalen Muskelatrophie mit proximal- und beinbetonter Muskelschwäche und einer Entwicklungsverzögerung der Grobmotorik. Die Beklagte versorgte ihn daher für die Einhaltung einer sitzenden Körperhaltung mit einem Therapiestuhl im häuslichen Bereich.
Unter Vorlage einer Verordnung der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedi-zin Dr. M/C beantragte der Versicherte am 04.04.2018 bei der Beklagten die Zweitversor-gung mit einem Therapiestuhl mit High-Low Untergestell, Therapietisch, anatomische Sitzeinheit und Zubehör für den Besuch des Kindergartens. Dem Antrag fügte er einen Kostenvorschlag der Sanitätshaus I GmbH in Höhe von 3.425,45 EUR bei. Am 09.04.2018 leitete die Beklagte den Antrag an die Klägerin weiter. Zur Begründung führte sie aus, dass die Weiterleitung nach § 14 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) angezeigt sei, da eine Zuständigkeit der Klägerin für eine Versorgung des unter drei Jah-re alten Versicherten mit einem Therapiestuhl für den Besuch eines Kindergartens als Zweitversorgung nicht bestehe. Mit Bescheid vom 05.07.2018 bewilligte die Klägerin die vorläufige Kostenübernahme für die beantragte Zweitversorgung gemäß § 54 Sozialge-setzbuch – Zwölftes Buch – (SGB XII) in Verbindung mit § 26 SGB IX.
Am 19.12.2018 meldete die Klägerin bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch ge-mäß § 16 SGB IX an. In einem weiteren Schreiben vom 15.03.2019 bezifferte sie den Er-stattungsanspruch auf 3.425,45 EUR. Im Übrigen führte sie aus, dass die Beklagte zu-ständig sei, da durch den Besuch einer Kinderkrippe die Erschließung eines körperli-chen und geistigen Freiraums sowie die Integration unter Gleichaltrigen gewährleistet werde. Ferner sei die Herstellung und Sicherung der Schulfähigkeit Aufgabe der gesetz-lichen Krankenversicherung. Mit Schreiben vom 01.04.2019 lehnte die Beklagte eine Er-stattung unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 03.11.2011 mit den Aktenzeichen B 3 KR 13/10 R, B 3 KR 8/11 R und B 3 KR 7/11 R ab. Mit ihrer am 02.12.2019 bei Gericht eingegangen Klage verfolgt die Klägerin ihr Erstat-tungsbegehren in Höhe von 3.425,45 EUR nebst fünf Prozent Verwaltungskostenpau-schale sowie Zinsen weiter. Der tägliche Transport des von der Beklagten bewilligten Therapiestuhls von Zuhause in den Kindergarten und wieder zurück sei wegen Sperrig-keit und Gewicht des Stuhls weder geeignet noch zumutbar. Die Beklagte sei für die Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) ori-ginär zuständig, weil sie dem mittelbaren Behinderungsausgleich zur Erfüllung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens diene. Schließlich stelle unter Verweis auf § 24 Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – (SGB VIII) sowie auf ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Nürnberg vom 19.09.2018 (Az.: S 11 KR 328/17) der Besuch einer Kindertagesstätte auch für Kinder unter drei Jahren ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.425,45 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 01.02.2019 nach den ge-setzlichen Bestimmungen des § 16 Abs. 6 SGB IX in Verbindung mit § 108 Abs. 2 SGB X sowie eine Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5 Prozent der erstat-tungsfähigen Leistungsaufwendungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf ihr Ablehnungsschreiben vom 01.04.2019.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von den Beteiligten vorgelegten Verwaltungsakten. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl in Höhe von 3.425,45 EUR aus § 16 Abs. 1 SGB IX gegen die Beklagte.
§ 16 Abs. 1 SGB IX enthält folgende Regelung: Hat ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 S. 4 Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger ins-gesamt zuständig ist, erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften. § 16 Abs. 1 SGB IX räumt dem zweitangegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein. Er ist begründet, soweit der Versicher-te/Leistungsberechtigte vom Träger, der ohne die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können. Die Regelung begründet einen Ausgleich dafür, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger – bei Vorliegen eines entsprechenden Bedarfs – die erforderlichen Leistungen (spätestens nach drei Wochen bzw. zwei Wochen nach Einholung eines Gutachtens) selbst dann erbringen muss, wenn er der Meinung ist, hierfür nicht zuständig zu sein. Dabei handelt es sich um eine gleichsam "aufgedrängte Zuständigkeit". Diese in § 14 Abs. 2 S. 1 und 4 SGB IX geregelte Zuständigkeitszuweisung erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versi-cherten/Leistungsberechtigten auf alle Rechtsgrundlagen sämtlicher Rehabilitationsträ-ger im Sinne des § 6 Abs. 1 SGB IX, die für die spezifische Bedarfssituation vorgesehen sind. Im Verhältnis zum behinderten Menschen wird dadurch eine eigene gesetzliche Verpflichtung des zweitangegangenen Trägers begründet, die – vergleichbar der Rege-lung des § 107 SGB X – einen endgültigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung in diesem Rechtsverhältnis bildet. Im Verhältnis der Rehabilitationsträger unter-einander ist jedoch eine Lastenverschiebung ohne Ausgleich nicht bezweckt. Den Aus-gleich bewirkt der Anspruch nach § 16 Abs. 1 SGB IX (vgl. noch zu § 14 Abs. 4 SGB IX a. F. BSG, Urteil vom 08.09.2009, Az.: B 1 KR 9/09 R, Rn. 11 zit. nach juris).
Die Klägerin ist als zweitangegangener Rehabilitationsträger grundsätzlich erstattungs-berechtigt nach den §§ 16 Abs. 1, 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX. Schließlich hat die Beklagte den am 04.04.2018 gestellten Antrag auf Kostenübernahme für einen Therapiestuhl mit High-Low Untergestell, Therapietisch, anatomische Sitzeinheit und Zubehör mit Schrei-ben vom 09.04.2018 fristgerecht binnen zwei Wochen gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX an die von ihr für zuständig erachtete Klägerin als Rehabilitationsträger, der für Leis-tungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuständig ist (§ 5 Nr. 4 SGB IX in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX), weitergeleitet. Die Klägerin hat auch das be-gehrte Hilfsmittel als nunmehr im Außenverhältnis zu dem Versicherten zuständiger zweitangegangener Rehabilitationsträger nach Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (§ 14 Abs. 2 S. 4 und 1 SGB IX) bewilligt, weil die Ausstattung des Versicherten mit dem bereits vorhandenen Therapiestuhl nicht ausreichend war. Dem Grunde nach benötigte er in der Kindertageseinrichtung daher unstreitig dieses Hilfsmittel. Nach Auffassung der Kammer fehlt es jedoch an der Zuständigkeit der Beklagten als anderer Rehabilitations-leistungsträger. Eine solche Zuständigkeit kommt hier nur nach § 33 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit §§ 5 Nr. 1, 6 Abs.1 Nr. 1 SGB IX in Betracht. Die materiell-rechtlichen Vo-raussetzungen der Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 SGB V sind vorliegend jedoch nicht erfüllt.
Gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hör-hilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Die begehrte Zweitversorgung mit dem Thera-piestuhl diente hier ersichtlich nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und auch nicht der Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung, sondern allein dem Ausgleich der Folgen der seit Geburt vorhandenen Behinderung des Versicherten (3. Variante). Der Behinderungsausgleich nach der dritten Variante des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst zwei Zielrichtungen (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2011, Az.: B 3 KR 7/10 R, Rn. 31 f., zit. nach juris). Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder be-einträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem so genannten unmittelbaren Behinde-rungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktions-defizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2009, Az.: B 3 KR 2/08 R, Rn. 18, zit. nach juris). Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses so genannten mittelbaren Behinde-rungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleich-ziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitati-on, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organ-funktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständi-ges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinaus gehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2010, Az.: B 3 KR 13/09 R, Rn. 18, zit. nach juris). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der ge-setzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Be-hinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.2011, Az.: B 3 KR 9/10 R, Rn. 13 ff., zit. nach juris).
Der Therapiestuhl dient ersichtlich nicht dem Ausgleich einer ausgefallenen oder beein-trächtigten Körperfunktion, weil dieser dem Versicherten lediglich bei der Einhaltung ei-ner sitzenden Körperhaltung unterstützt. Es handelt sich damit um einen Fall des mittel-baren Behinderungsausgleichs; für einen Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung fehlt aber das Betroffensein eines allgemeinen Grundbedürfnis-ses des täglichen Lebens. Nach Auffassung der Kammer gehört die Versorgung mit ei-nem Therapiestuhl für den Besuch einer Kindertagesstätte bei einem Versicherten, der im Zeitpunkt der Antragstellung sowie der Leistungsbewilligung noch nicht das dritte Le-bensjahr vollendet hat – wie im vorliegenden Fall – nicht zu den Grundbedürfnissen des Versicherten im Sinne der medizinischen Rehabilitation. Ein Anspruch auf Zweitversor-gung nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V kommt im Hinblick auf die Förderung der Schulfähig-keit erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres in Betracht. Die Kammer schließt sich insoweit nach eingehender Prüfung den überzeugenden Entscheidungsgründen des BSG (Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 22, zit. nach juris) sowie des Sächsi-schen Landessozialgerichts (Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, zit. nach juris) an.
Zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen gehören die körperlichen Grundfunktionen (z. B. Gehen, Stehen, Sitzen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausschei-dung) sowie die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen und die Erschlie-ßung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Information, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst. Daneben hat die Recht-sprechung des BSG die Herstellung oder Erhaltung der Schulfähigkeit bzw. den Erwerb einer elementaren Schulausbildung als allgemeines Grundbedürfnis eines Schülers an-erkannt. Dies kann auch die Hinführung eines Kindes auf die Schulfähigkeit und die Vorbereitung auf den Erwerb eines elementaren Schulwissens im Rahmen der Aktivitä-ten in einer Kindertageseinrichtung umfassen. Die Schulfähigkeit ist aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens im Sinne des § 33 SGB V anzu-sehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischem Wissen und Können an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Förder- bzw. Sonderschul-pflicht geht. Wenn die GKV dafür einzustehen hat, behinderten Menschen im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so muss sie zwar die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese Menschen das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben und die ihnen insoweit auferlegten staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen zu können; darüber hinaus-gehende Bildungsziele hat sie aber nicht mehr zu fördern. Das ist vielmehr Aufgabe an-derer Leistungsträger (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 15-17, zit. nach juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze folgt die Kammer der Rechtsprechung des BSG, dass der Besuch eines Kindergartens an sich nicht als allgemeines Grundbedürf-nis des täglichen Lebens anzuerkennen ist, weil dieser Besuch – anders als der Besuch einer Schule im Rahmen der Schulpflicht – vom Gesetzgeber bisher nicht als gesetzli-che Pflicht ausgestaltet ist (vgl. BSG, Urteil vom 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 22, zit. nach juris). Vielmehr sieht die Kammer im Anspruch auf frühkindliche Förderung für Kinder vor Vollendung des dritten Lebensjahres eine Teilhabeleistung, welche unter Be-rücksichtigung der speziellen Bedürfnisse des Kindes eine klassische Leistung der Trä-ger der Jugendhilfe und/oder der Eingliederungshilfe darstellt. Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung als medizinische Rehabilitation bleibt es, die Auswirkungen einer Behinderung im gesamten täglichen Leben als allgemeines Grundbedürfnis zu beseiti-gen bzw. zu mildern. Diesen Bedarf hat die Beklagte mit der Erstversorgung befriedigt. Im Übrigen hält die Kammer an der am Alter des Versicherten/Leistungsberechtigten an-knüpfenden Differenzierung des BSG, wonach der Besuch einer Kindertageseinrich-tung erst dann der Hinführung eines Kindes auf die Schulfähigkeit bzw. der Vorberei-tung auf den Erwerb eines elementaren Schulwissens dient, wenn dieses im Zeitpunkt der Antragsstellung das dritte Lebensjahr vollendet hat, fest. Insbesondere überzeugt auch weiterhin der Auffassung des BSG, dass sich gerade in der Phase zwischen dem dritten bis sechsten Lebensjahr die elementaren – insbesondere die für die Schulfähig-keit maßgebenden körperlichen, kognitiven und sozialen – Voraussetzungen herausbil-den und insoweit pädagogischer Einfluss genommen werden kann. In dieser Zeit entwi-ckelt sich unter anderem das Sozialverhalten im Sinne des Erlernens sozialer Grundre-geln (z. B. Teilen, Ausdruck von Gefühlen) (vgl. BSG, Urteil 03.11.2011, Az.: B 3 KR 8/11 R, Rn. 20, zit. nach juris).
Diese Altersdifferenzierung überzeugt auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neu-regelung des § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII mit Wirkung zum 01.08.2013, wonach nunmehr bereits für Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ein Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in der Kinder-tagespflege besteht. Das Ziel des frühkindlichen Förderungsauftrages umfasst zwar auch Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht auch die soziale, emo-tionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes mit ein, jedoch nicht unter Au-ßerachtlassung des altersimmanenten Entwicklungsstandes. Daher kann dieser allge-meine Bildungsauftrag der Krippen und Kindertagesstätten nicht mit dem gezielten "Hin-führen zur Schulfähigkeit gemäß § 22 Abs. 3 S. 1 SGB VIII gleichgesetzt werden (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, Rn. 23, zit. nach juris). Das Festhalten an der Differenzierung nach Altersgruppen hat auch einen Niederschlag in der gesetzlichen Neuregelung gefunden. So besteht unter Beachtung des Wortlautes von § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII explizit ein Anspruch auf frühkindliche Förderung und nicht wie bei Kindern, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, ein allgemeiner Förde-rungsanspruch im Sinne des § 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII. Die frühkindliche Förderung ori-entiert sich vielmehr an einem individuellen Bedarf (vgl. § 24 Abs. 2 S. 2 SGB VIII) und ist damit nicht mit dem allgemeinen Bedürfnis auf Erhalt oder Erwerb der Schulfähigkeit gleichzusetzen. Für die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung kommt es daher weiterhin entscheidend im Sinne einer generalisierenden Betrachtung auf den Besuch einer Kindereinrichtung frühestens "ab Vollendung des dritten Lebensjahres" an. Dies gilt unabhängig von Typ/Bezeichnung der Betreuungseinrichtung und auch vom krankheits- oder behinderungsbedingt ggf. erhöhten individuellen Förderungsbedarf des jeweils betroffenen Kindes (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 18.06.2020, Az.: L 9 KR 761/17, Rn. 25, zit. nach juris). Schließlich führt die Altersdifferenzierung auch zu einer Vereinfachung und Rechtsklarheit innerhalb des komplizierten Zuständigkeitsgeflechtes der Rehabilitationsträger untereinander und dient so einer effizienten Entscheidungsfin-dung und Versorgung der Versicherten/Leistungsberechtigten im Außenverhältnis. Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die Einholung eines pädagogi-schen/psychologischen Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich (aA. SG Nürnberg, Urteil vom 19.09.2018, Az.: S 11 KR 328/17, zit. nach juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und trägt dem Unterliegen der Klägerin Rechnung.
Der Streitwert richtet sich nach der Höhe der streitgegenständlichen Forderung, § 197a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Kammer hat die Berufung im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung des § 24 SGB VIII wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
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