L 7 AS 1199/20 B ER; L 7 AS 1258/20 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 25 AS 2211/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1199/20 B ER; L 7 AS 1258/20 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 13.07.2020 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Beschwerdeverfahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung eines höheren Mehrbedarfs für Ernährung.

Der 1972 geborene Antragsteller bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Er leidet unter einer Achalasie (Funktionsstörung des Schließmuskels der Speiseröhre), die zu einer erheblichen Mangelernährung führt. Neben dem Regelbedarf und Bedarfen für Unterkunft und Heizung berücksichtigt der Antragsgegner einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung iHv 10 % des maßgebenden Regelbedarfs (zuletzt monatlich 43,20 EUR). Der Antragsteller ist mit der Höhe des Mehrbedarfs nicht einverstanden und erhob gegen den Bewilligungsbescheid vom 27.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2020 (Leistungszeitraum September 2019 bis Februar 2020) Klage bei dem Sozialgericht Köln (S 25 AS 490/20). Im Rahmen dieses Verfahrens holte das Sozialgericht einen Befundbericht der behandelnden Hausärztin, Frau Dr. B. C (Fachärztin für Allgemeinmedizin) vom 06.06.2020 ein, die u.a. mitteilte, die Substituierung durch Trinknahrung bei dem Antragsteller, der ein BMI von 17,9 aufweise, erfolge zu Lasten der Krankenkasse.

Im Rahmen des Weitergewährungsantrags für Leistungen ab dem 01.03.2020 beantragte der Antragsteller erneut einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung. Wegen der Achalasie, die eine Kachexie (Abmagerung) verursacht habe, komme eine konventionelle Ernährungsform bei ihm nicht in Betracht. Er sei auf die ergänzende Aufnahme von kalorienreicher Trinknahrung (Fortimel Energy) angewiesen.

Nach den Ausführungen von Frau Dr. B. C betrage der ernährungsbedingte Mehraufwand für diese Erkrankung 2,30 EUR täglich. Der Sozialmediziner Dr. F H teilte nach ambulanter Untersuchung und Auswertung der zur Verfügung stehenden Unterlagen bei dem Antragsteller eine anlagebedingte Funktionsstörung der Speiseröhre fest, die die Aufnahme normaler Nahrung massiv erschwere und zu einer relevanten Gewichtsreduzierung beigetragen habe. Der Einsatz hochkalorischer flüssiger bzw. breiartiger Nahrung sei erforderlich, welche einen Mehrbedarf begründe, deren Höhe analog der Empfehlungen des Vereins für öffentliche und private Fürsorge für verzehrende Erkrankungen mit 10 % des Regelbedarfs bewertet werde (gutachterliche Stellungnahme vom 10.12.2019).

Gestützt hierauf bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 19.02.2020 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 03.03.2020 u.a. einen Mehrbedarf von monatlich 10 % des Regelbedarfs (43,20 EUR) für den Zeitraum vom 01.03.2020 bis 28.02.2021. Gegen den Bescheid vom 19.02.2020 hat der Antragsteller am 05.03.2020 Widerspruch eingelegt, über den bisher noch nicht entschieden wurde.

Am 10.06.2020 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Köln unter Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung vom 08.06.2020 beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs iHv von monatlich insgesamt 286,72 EUR zu verpflichten und ihm Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Er sei krankheitsbedingt auf die ergänzende Aufnahme kalorienreicher Kost angewiesen, wobei ihm angesichts der angeordneten Kalorienmenge Kosten von 9,56 EUR/Tag entstünden. Die Durchsetzung von Ansprüchen gegen die Krankenkasse sei aufgrund der Coronapandemie zu unsicher, dauere zu lange und scheitere an einem Systemversagen, weil er die ärztlichen Verordnungen nicht in einem Umfang erhalte, wie er sie benötige. Die restriktive Verordnungspraxis von Dr. C sei darauf zurückzuführen, dass diese ihr Budget nicht überschreiten wolle bzw. Arzneimittelregresse befürchten müsse. Der Antragsteller hat eine ärztliche Bescheinigung von Frau Dr. C vom 23.06.2020 vorgelegt, in der diese attestiert, der Antragsteller benötige aufgrund einer Erkrankung eine Substitution der Ernährung in Form von Trinknahrung (Fortimel Energy). Der Monatsbedarf betrage zwei Kartons je 32 Flaschen.

Mit Beschluss vom 13.07.2020 hat das Sozialgericht den Antrag und Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antragsteller könne die von ihm geltend gemachte Substitutionsnahrung durch ärztliche Verordnung zu Lasten der Krankenkasse beschaffen. Ein Systemversagen habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Gegen den ihm am 23.07.2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 17.08.2020 Beschwerde eingelegt. Eine bedarfsgerechte Verordnung lebensnotwendiger Trinknahrung zu Lasten der Krankenkasse sei nicht sichergestellt. Ein kräftezehrender Umweg über die Arztpraxis, in der man geübt sei, ihm mit seinen bekannten Anliegen aus dem Weg zu gehen, sei ihm nicht zumutbar. Er sei im Wesentlichen auf die Substitutionsnahrung angewiesen. Aufgrund seiner Erkrankung scheitere jeder Versuch, konventionelle Kost im nennenswerten Umfang aufzunehmen. Es könne nicht angehen, dass er seine Basisernährung ausschließlich über den Rezeptweg bestreiten müsse, zumal pandemie- oder urlaubsbedingte Praxisschließungen berücksichtigt werden müssten.

Der Senat hat die Kontoauszüge des Antragstellers für Juni 2020 und Juli 2020 eingeholt. Auf diese wird Bezug genommen. Darüber hinaus hat der Senat die Gerichtsakte des Sozialgerichts Köln mit dem Aktenzeichen S 25 AS 490/20 sowie die Verwaltungsakten des Antragsgegners beigezogen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf einstweilige Anordnung und Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 20.02.2019 - L 7 AS 1916/18 B ER und vom 30.08.2018 - L 7 AS 1268/18 B ER). Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 30.08.2018 - L 7 AS 1268/18 B ER, vom 05.09.2017 - L 7 AS 1419/17 B ER und vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Gemäß § 21 Abs. 5 SGB II wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Dass diese Voraussetzungen bei dem Antragsteller vorliegen, ist zwischen den Beteiligten unstreitig, weswegen dem Antragsteller zurzeit monatlich 43,20 EUR Mehrbedarf gewährt wird. Dass dieser Betrag nicht auskömmlich ist, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Mit dem Begriff der kostenaufwändigen Ernährung ist eine krankheitsbedingte Ernährungsform gemeint, die teurer ist, als im Regelbedarf vorgesehen (vgl. Knickrehm/Hahn, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl., § 21 Rn. 55 - derzeit nach § 5 Abs. 1 RBEG, Abteilung 1 für Alleinstehende, 137,66 EUR). Es ist nicht dargelegt und erst recht nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller mit einem Budget für Nahrungsmittel und Getränke von monatlich rund 180 EUR (137,66 EUR Regelbedarf + 43,20 EUR Mehrbedarf) eine gesunde, ausgewogene und bedarfsgerechte Ernährung nicht finanzieren kann. Vielmehr entspricht dieser Betrag in etwa der übereinstimmenden Einschätzung der Hausärztin des Antragstellers, Frau Dr. C, der sozialmedizinischen Einschätzung des Amtsarztes Dr. H und den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen (4. Aufl. 2014 III 3.3 und 4), die als Orientierungshilfe (LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 04.10.2012 - L 5 AS 15/09) herangezogen werden können. Ob, wie die Hausärztin, Dr. C meint, ein leicht höherer Mehrbedarf von monatlich 69 EUR geboten ist (ärztliche Bescheinigung vom 05.10.2019), kann im Hauptsacheverfahren abschließend geklärt werden.

Die Notwendigkeit, den Kläger mit hochkalorienreicher Trinknahrung zu versorgen, begründet keinen höheren Mehrbedarf. Medizinisch erforderliche Elementardiäten können nach Maßgabe der Arzneimittelrichtlinien zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet und von dieser erbracht werden (hierzu BSG Urteil vom 05.07.2005 - B 1 KR 12/03 R). Es ist nicht Sinn und Zweck der gesetzlichen Mehrbedarfe iSd § 21 Abs. 5 oder Abs. 6 SGB II, Bedarfe abzudecken, die krankenversicherungsrechtlich aus Gründen der medizinischen Qualitätssicherung dem Arztvorbehalt unterliegen und nur auf ärztliche Verordnung erbracht werden können. Der Antragsteller trägt ausdrücklich vor, dass er den Antragsgegner in Anspruch nehmen möchte, weil ihm die Verordnungen durch seine behandelnde Ärztin als unzureichend erscheinen. Damit begehrt er letztlich, den Antragsgegner zu Leistungen zu verpflichten, die dem Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung unterfallen, ohne sich an die durch den Gesetzgeber im SGB V festgelegten Voraussetzungen zur Erbringung medizinischer Leistungen halten zu müssen. Ein solches Unterlaufen der Restriktionen des SGB V ist weder durch eine Erhöhung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB noch durch eine Begründung eines Anspruchs nach § 21 Abs. 6 SGB II möglich. Ein Sonderbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II scheitert zudem an der Unabweisbarkeit des Bedarfs.

Dem stehen die Ausführungen des BSG im Urteil vom 08.11.2011 - B 1 KR 20/10 R nicht entgegen. Hiernach begründet es nach der gesetzlichen Konzeption keinen Anspruch gegen die Gesetzliche Krankenversicherung, dass ein Versicherter, der wirtschaftlich nicht hinreichend leistungsfähig ist, sich selbst mit Lebensmitteln und einfacher Diätnahrung versorgen muss, selbst wenn dies zur Vermeidung schwerwiegender gesundheitlicher Störungen unverzichtbar ist. Das Gesetz sehe bei fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit insoweit Ansprüche gegen die Sozialleistungsträger vor, zu deren Aufgaben die Existenzsicherung des Einzelnen im Falle der Bedürftigkeit zählt. Das treffe namentlich auf die SGB II- und die SGB XII-Leistungsträger zu. Diese Ausführungen beziehen sich jedoch auf die Versorgung mit Lebensmitteln, die von vornherein - unabhängig von ihrer medizinischen Notwendigkeit - nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Derartige Lebensmittel sind vorliegend nicht betroffen, da - wie ausgeführt - der Antragsteller grundsätzlich einen Versorgungsanspruch gegen die Gesetzliche Krankenversicherung hat, der allein von einer ärztlichen Verordnung abhängig ist. Wenn der Antragssteller insoweit Mängel oder Anhaltspunkte für ein Systemversagen sieht, hat er sich an die Krankenkasse zu wenden und diese ggfs. im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes in Anspruch zu nehmen.

Da der Antrag aus den genannten Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht hatte, hat das Sozialgericht zu Recht den Antrag auf Prozesskostenhilfe gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO abgelehnt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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