L 3 U 56/16

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 U 6/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 56/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 148/20 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Grundvoraussetzung für die Anerkennung einer Polyneuropathie als BK Nr. 1317 ist nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand (vgl. BK-Reporte 2/2007 (2. Auflage) und 1/2018 (3. Auflage)) der Nachweis einer beruflichen Exposition mit den Lösungsmitteln n-Hexan und/oder 2-Hexanon.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 26. Oktober 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

III. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Feststellung der Berufskrankheit BK Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische" (BK 1317) durch die Beklagte.

Die Klägerin war die Lebensgefährtin und ist die Alleinerbin des 1944 geborenen und 2015 verstorbenen Versicherten. Der Versicherte war ledig und hatte keine Kinder. Seine Eltern sind bereits vor seinem Tod verstorben. Er absolvierte von 1985 bis 1961 eine Ausbildung zum Dachdecker. Im Anschluss war er eine Zeit bei einer weiteren Firma tätig. 1962/1963 begann er im elterlichen Betrieb zu arbeiten, den er dann übernahm. Für ca. 10 bis 15 Jahre bestand seine Arbeit zu 80% aus dem Verlegen von Estrich und Bodenbelegen und zu 20% aus dem Verlegen von Parkett, danach zu 40% aus dem Verlegen von Estrich und zu 60% aus Bodenbelagsarbeiten. Im Rahmen der Parkettverlegearbeiten wurden Eiche-, Buche- und afrikanische Hölzer verwandt, seltener Fichte. Verlegt wurden von dem Versicherten auch Flexplatten in bituminösen Massen der Firmen Bauder und Klefa. In Altbauten wurde von ihm u.a. auch Parkett entfernt oder abgeschliffen und versiegelt. Dabei wurde bis 1990 u.a. mit dem Produkt D 503 gearbeitet. Im Rahmen der Arbeiten mussten ggf. auch zunächst alte Beläge abgespachtelt werden. Im Anschluss wurde der Boden neu gespachtelt und ein Vorstrich aufgetragen. Hierfür wurden Neoprenklebstoffe der Firmen Thomsit und Uzin verwandt. Vor dem Verlegen von Estrich wurde eine Polystroldämmung auf dem Boden aufgebracht, die mit Quellschweißmittel verschweißt wurde.

Im Januar 1998 stellte sich der Versicherte aufgrund zunehmender Heiserkeit und fortschreitender Stimmlosigkeit bei seinem Hausarzt Dr. D. vor. Dieser überwies den Kläger im Jahr 2003 u.a. an die Deutsche Klinik für Diagnostik. Dort wurden von Frau Dr. E. die Diagnosen leicht distal symmetrische sensible Polyneuropathie, leichtes Karpaltunnelsyndrom, Hirnatrophie und Zustand nach Stimmbandparese/-Dysfunktion gestellt und eine leicht erhöhte Creatinkinase festgestellt. Im Befundbericht vom 24. September 2003 teilte sie mit, dass der Kläger sich nach eigenen Angaben bis 1999 wohl gefühlt habe. 1987 habe er eine Stimmbandlähmung entwickelt, später das Gefühl kalter Füße und des "Ameisenlaufens". Die Beschwerden des Versicherten beruhten auf einer Polyneuropathie, deren Genese unklar sei (vgl. Befundbericht vom 24. September 2003).

Mit Schreiben vom 22. Oktober 2003 beantragte der Versicherte bei der Beklagten die Zahlung einer Rente. Er leide unter Beschwerden in den Armen, Beinen und Füßen und sei seit März 2003 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beschwerden seien auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Im Rahmen der Ermittlungen teilte er außerdem mit, dass die Beschwerden erstmals Ende 2002 aufgetreten seien.

Aus den von der privaten Krankenversicherung des Versicherten übersandten Unterlagen ergab sich, dass am 1. Juli 1998 zunächst der Verdacht auf eine Polyneuritis aufgekommen und dann am 6. Juli 1998 eine gemischte Polyneuropathie diagnostiziert worden war.

Auf Anfrage teilte der Bereich Arbeitssicherheit am 1. März 2004 nach einem Gespräch mit dem Versicherten der Beklagten mit, dass eine Überschreitung des neurotoxischen Schwellenwertes bei einer Verwendung von G3- und SH1-Produkten zumindest bis 1990 bestanden habe. In einer beratungsärztlichen Stellungnahme gab daraufhin Herr F. an, dass keine Kausalität vorliege, da eine Gefährdung im Sinne der BK 1317 nur bis 1990 bestanden habe. Sofern die Symptomatik auf externe Noxen zurückgeführt werden solle, müssten diese zum Zeitpunkt der Krankheitsentwicklung eingewirkt haben. Die Krankheit habe sich aber erst seit 1998 progredient entwickelt. Weitere Ermittlungen seien nicht erforderlich. Dieser Stellungnahme schloss sich der Landesgewerbearzt an.

Mit Bescheid "über die Ablehnung von Entschädigungsleistungen" vom 4. Mai 2004 teilte die Beklagte mit, dass sie Entschädigungsleistungen im Zusammenhang mit der Polyneuropathie ablehne, weil keine BK nach der Nr. 1317 vorläge. In der Begründung führte sie aus, dass aufgrund des Antrags geprüft worden sei, ob eine Berufskrankheit vorliege. Hierfür fehle es am engen zeitlichen Zusammenhang. Neurologische Symptome seien erstmals 1998 aufgetreten. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen hätten jedoch nur bis 1990 vorgelegen, so dass der Zeitraum zwischen dem Auftreten der Erkrankung und der Exposition mit entsprechenden Stoffen zu lang sei. Den vom Versicherten eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2004 nach Einholung einer weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme bei Dr. G. zur Frage der Kausalität zurück. Erneut ging sie darauf ein, dass sich die Polyneuropathie erst ca. 8 Jahre nach der letzten Exposition manifestiert habe.

Im Mai 2005 ging bei der Beklagten erneut das Schreiben des Versicherten vom 22. Oktober 2003 ein. Dem Schreiben war der Schwerbehindertenausweis des Versicherten und eine handschriftliche Bitte um "Klärung und Anerkennung" beigefügt. Mit Bescheid vom 8. Juni 2005 teilte die Beklagte, die das Schreiben als Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X - wertete, mit, dass dem Antrag auf Rücknahme der Bescheide nicht entsprochen werden könne. Es fehle aufgrund des Auftretens der Erkrankung lange nach Ende einer Exposition weiterhin am Nachweis der Kausalität. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Versicherten zurück.

Am 9. Januar 2006 hat der Versicherte Klage beim Sozialgericht Fulda erhoben. Er sei seit 1962 bis heute ständig und unverändert in Kontakt mit verschiedenen lösungsmittelhaltigen Stoffen. Das von der Beklagten angenommene Ende einer Exposition im Jahr 1990 sei auf ein Missverständnis zurückzuführen. Im Jahr 1990 habe er seinen Betrieb verkleinert, so dass der Kontakt mit Lösungsmitteln eher zugenommen habe. Die Diagnose einer Polyneuropathie erst im Jahr 1998 sei zufällig.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG - bei dem Facharzt für Arbeits- und Allgemeinmedizin Dr. H. eingeholt. Dieser hat im Gutachten vom 18. November 2007 u.a. eine leichte bis mittelschwere sensomotorische, vorwiegend axonal demyelisierende Polyneuropathie der Beine diagnostiziert. Der Versicherte sei seit 1963 bis zum Zeitpunkt der Begutachtung u.a. organischen Lösungsmitteln ausgesetzt gewesen. Es sei allgemein bekannt, dass bis in die 90er Jahre für Bodenbelagsarbeiten stark lösemittelhaltige Klebstoffe und Vorstriche verwandt worden seien. Insbesondere seien in Neoprenklebstoffen Spezialbenzine, Lösemittelgemische aus aliphatischen, cycloaliphatischen und aromatischen Kohlenwasserstoffen verwandt worden. Bei den stark lösemittelhaltigen Vorstrichen und Klebstoffen seien als Lösemittel üblicherweise Aromate wie Toluol und Xylol, Ester, wie Methylacetat und Äthylacetat, Ketone, wie Aceton, Metyhläthylketon, Methylisobutylketon und Alkohol, wie Methanol, Äthanol und Isopropanol zum Einsatz gekommen. In den 90er Jahren seien zunehmend Dispersionsklebstoffe für das Verlegen von Bodenbelägen verwandt worden. Hier könne die Lösemittelkonzentration weitgehend vernachlässigt werden. Es seien jedoch bis Anfang der 90er Jahre vielfach stark lösemittelhaltige Kunstharzkleber eingesetzt worden. Zur Oberflächenbehandlung von Holzfußböden seien bis in die 90er Jahre lösemittelhaltige Versiegelungen verwandt worden, die u.a. Toluol, Äthanol, Butanon und Xylol enthalten hätten. Bei einer Kombination von Butanon und Toluol würden niedrige neurotoxische Schwellenwerte gelten. Der Versicherte habe teils sehr ungünstige arbeitshygienische Bedingungen und den Einsatz von stark lösemittelhaltigen Klebstoffen glaubhaft geschildert. Erst ab Ende der 90er Jahre seien lösemittelarme Dispersionsklebestoffe zum Einsatz gekommen. Aufgrund der teils ungünstigen arbeitshygienischen Bedingungen, den angegebenen Verbrauchsmengen, einem sorglosen Umgang mit Waschbenzin zur Händereinigung, sei unter Berücksichtigung der Resorption über Haut und Atemwege zumindest von einer erheblichen Belastung gegenüber organischen Lösemitteln auszugehen. Es sei insbesondere der additive Effekt der einzelnen Substanzen zu berücksichtigen. Deshalb sei bis Mitte/Ende der 90er Jahre von einer erheblichen Belastung auszugehen. Die von der Beklagten vollzogene Abgrenzung der Belastung bis 1990 sei aufgrund der glaubhaften Angaben des Versicherten nicht nachvollziehbar. Da er medizinischer Sachverständiger sei, könne er allerdings nicht abschließend zur Exposition Stellung nehmen. Der Versicherte habe nach eigenen Angaben erstmals ca. Anfang der 90er Jahre über Beschwerden im Bereich der Beine in Form von "Ameisenlaufen" und "kalten Füßen" geklagt, obwohl die Füße objektiv gut durchblutet gewesen seien. Seit ca. 5 bis 10 Jahren klage der Versicherte außerdem über Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen und Einschränkungen der Merkfähigkeit. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den aktuellen Beschwerden des Versicherten und der beruflichen Exposition gegenüber organischen Lösemitteln im Sinne einer toxischen Enzephalopathie lasse sich zum derzeitigen Zeitpunkt nicht "im Sinne eines Vollbeweises" nachweisen. Andere mögliche Ursachen für die beim Kläger bestehende Polyneuropathie seien aufgrund der unterschiedlichsten in den letzten Jahren durchgeführten Untersuchungen auszuschließen. Es spreche mehr für als gegen eine beruflich bedingte Polyneuropathie.

Nachdem der Versicherte unterschiedliche Unterlagen zum Nachweis einer Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln vorgelegt hat, hat zunächst die Beklagte eine weitere Stellungnahme ihres Präventionsdienstes vorgelegt, in der dieser angibt, dass sich auch aus diesen Unterlagen keine Exposition für die Zeit nach 1990 ergebe.

Darüber hinaus hat das Sozialgericht ein arbeitstechnisches Gutachten bei Dr. J. eingeholt. Im Gutachten vom 10. März 2010 teilt der Sachverständige mit, dass ein erhöhtes Risiko neurotoxischer Einwirkungen für die Berufe Bodenleger, Parkettleger, Handlaminierer, Tankreiniger (teilweise) und Säurebaumonteure bestehe. Dabei bestünden bei den Tätigkeiten Abbeizen, Versiegeln, großflächiges Aufbringen von Klebstoffen oder Lacken und großflächiges Aufbringen von Polyesterharzen erhöhte Risiken. Nach Angaben des Versicherten sei dieser vor 1990 zu 60% mit Estricharbeiten und zu 40% vornehmlich mit Boden- und Parkettverlegearbeiten befasst gewesen. 1990 habe sich das Verhältnis umgekehrt. Ab 2005 habe sich die unmittelbar berufsbedingte Arbeit als Fußbodenleger um 1/3 reduziert, da der Versicherte verstärkt Büroarbeiten ausgeführt habe. In der Zeit ab 1979 habe es unterschiedliche Maßnahmen gegeben, die in den 80er Jahren insbesondere durch die Einführung wasserlöslicher Dispersionsklebstoffe für das Verkleben von Bodenbelägen zu einer deutlichen Reduzierung der lösungsmittelhaltigen Produktpalette und der damit verbundenen Lösungsmittelemissionen geführt hätten. Dies ändere nichts daran, dass auch ab 1990 bis heute aus unterschiedlichen Gründen für die Boden- und Parkettlegerbranche noch eine Vielzahl von Verlegewerkstoffen und bauchemischen Spezialprodukten angeboten und verwandt werde, die teilweise noch erhebliche Mengen an Lösungsmitteln enthielten und die eine neurotoxische Relevanz im Sinne der BK 1317 aufwiesen. Der Kläger sei ausgehend von seiner beruflichen Tätigkeit deshalb auch nach 1990 gegenüber neurotoxischen und anderen Lösungsmitteln aus Verlegewerkstoffen, Baustoffen u.a. Arbeitsmaterialien exponiert gewesen. Dabei dürfe die Belastungsdosis allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund des statistisch höheren Angebots an lösungsmittelärmeren und lösungsmittelfreien Produkten und der verminderten körperlichen Arbeit ab 2005 geringer gewesen sein als bis 1990. Der Einschätzung des Präventionsdienstes der Beklagten werde in Grundzügen zugestimmt, es werde jedoch wenig Bezug auf die Komplexität der aufgelisteten Tätigkeiten des Versicherten genommen, so dass Ergänzungen, die zu anderslautenden Schlussfolgerungen in Bezug auf die Lösungsmittelrelevanz führten, erforderlich seien. Aufgrund der anzunehmenden Mischexposition zu verschiedenen potentiell neurotoxischen, organischen Lösemitteln sei auch für den Zeitraum von 1990 bis ca. 2005 entsprechend der aktuellen Marktlage vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1317 auszugehen. Die vom Präventionsdienst angenommene Begrenzung bis zum Jahr 1990 sei nicht nachvollziehbar.

In einer weiteren Stellungnahme hat der Präventionsdienst der Beklagten zu dem Gutachten ausgeführt, dass die Darstellung und die damit verbundene Lösemittelexposition verschiedene Tätigkeiten im Baugewerbe betreffe, die nicht die eigentlichen Tätigkeiten des Versicherten widerspiegelten. So würden z.B. Polyesterharze und Vinylesterharze genannt, Produkte, die ausschließlich als Spezialanwendung im Säurebau verwendet würden. Bei der Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen der BK 1317 sei nicht auf eine Lösungsmittelexposition generell, sondern auf die Exposition mit neurotoxischen Lösemitteln und der damit verbundenen Überschreitung des neurotoxischen Schwellenwerts einzugehen. Betrachte man die neurotoxischen Schwellenwerte, so müsse für alle Stoffe der Arbeitsplatzgrenzwert erreicht bzw. mitunter sogar um das Dreifache überschritten werden, um eine Exposition im Sinne der BK 1317 zu bestätigen. Arbeitsplatzmessungen zeigten, dass bei Bodenbelagsarbeiten der neurotoxische Schwellenwert für keinen der genannten Stoffe überschritten werde. Die vom Sachverständigen aufgezählten Produkte seien vom Versicherten nicht benannt worden, sondern wahllos aus dem Internet gezogen worden. Die Sammlung stelle aus technischer Sicht nicht die Vielfalt der Produkte mit ihren unterschiedlichen Zusammensetzungen dar, wie sie von Boden- und Parkettlegern verwandt werde. Aus den gesamten Unterlagen gehe nicht hervor, welche Produkte der Versicherte tatsächlich verwandt habe.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 26. Juli 2010 hat der Sachverständige hierzu ausgeführt, dass aus dem unmittelbaren Berufsfeld des Versicherten keine Emissionsmessungen vorlägen, so dass auch keine Quantifizierung der relevanten neurotoxischen Einzelstoffe hinsichtlich Expositionsdauer und –konzentration bekannt seien. Deshalb seien die im BK-Report 2/2007 genannten Schwellenwerte für die Beurteilung der tatsächlich aufgetretenen Exposition im Fall des Versicherten nicht heranzuziehen. Eine generelle lösemittelbedingte Exposition unter Beachtung neurotoxischer Stoffe sei deshalb für den Beurteilungszeitraum nur abschätzbar und für den Berufsstand des Fußboden- und Parkettlegers auch nachgewiesen.

In der mündlichen Verhandlung vom 26. Oktober 2010 hat der Versicherte beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2005 aufzuheben, festzustellen, dass es sich bei der Polyneuropathie um eine BK 1317 handelt und ihm ab dem 1. Januar 1999 eine Rente nach einer MdE von 50 v.H. zu zahlen. Mit Urteil vom 26. Oktober 2010 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, ihren Bescheid vom 4. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. August 2004 aufzuheben und dem Versicherten eine Rente nach einer MdE von 20 v.H. zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Am 5. Januar 2011 hat die Beklagte gegen das am 9. Dezember 2010 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Sie trägt erneut vor, dass nicht nachgewiesen sei, dass der Versicherte auch nach 1990 einer entsprechenden Exposition ausgesetzt gewesen sei. Das Gutachten Dr. J.s möge zwar die gewöhnlichen Arbeitsbedingungen in der Branche wiedergeben, jedoch nicht die tatsächlichen Bedingungen des Versicherten. Außer Frage stehe, dass die Verwendung von lösemittelhaltigen Boden- und Parkettklebestoffen und Versiegelungen mit Überschreitungen der Arbeitsplatzgrenzwerte einhergehe. Jedoch sei nicht jedes Lösemittel auch neurotoxisch. Eine gefährdende Tätigkeit sei nur dann anzunehmen, wenn eine Überschreitung der neurotoxischen Schwellenwerte vorliege. Ein entsprechender Nachweis sei durch das Gutachten von Dr. J. nicht erbracht. Der Versicherte trage die Beweislast dafür, mit welchen Arbeitsstoffen er in welchem Umfang nach 1990 Kontakt gehabt habe. Soweit am jeweiligen Arbeitsplatz nicht mehr alle Fakten ermittelbar seien, biete der BK-Report 2/2007 eine fundierte Beurteilungsgrundlage. Der Report ermögliche eine einheitliche Rechtsanwendung auf einer gesicherten wissenschaftlichen Basis. Aus den im Berufungsverfahren vorgelegten weiteren Belegen ergebe sich nichts Neues.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 26. Oktober 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin, die mit Schriftsatz vom 30. August 2013 Anschlussberufung eingelegt hat, beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 26. Oktober 2010 aufzuheben, soweit dem Versicherten lediglich eine Rente aufgrund einer MdE von 20 v.H. gewährt worden ist, die Beklagte zur Zahlung einer Rente unter Berücksichtigung einer MdE von 50 v.H. zu verurteilen und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Im Schriftsatz vom 30. August 2013 trägt der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor, dass erhebliche Beeinträchtigungen aufgrund der lösemittelbedingten Polyneuropathie bestünden und dem Versicherten deshalb eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 50 v.H. zu zahlen sei. Im Übrigen verweist die Klägerin insbesondere auf die beiden Gutachten und legt außerdem weitere Belege über den Bezug von unterschiedlichen Werkstoffen für die Arbeit vor. Sämtliche hier aufgeführte Produkte könnten nur unter einer Exposition mit Lösungsmitteln verarbeitet werden.

Mit Schriftsätzen vom 22. März 2016 und vom 5. Dezember 2016 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen, deren Inhalt Gegenstand der Beratung war.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gem. § 153 Abs. 1 SGG i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG aufgrund des von den Beteiligten erteilten Einverständnisses ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

Die Berufung der Beklagten und die sich aus dem Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 30. August 2013 ergebende Anschlussberufung sind zulässig. Insbesondere ist die Klägerin als Alleinerbin des Versicherten im Rahmen der gewillkürten Erbfolge prozessführungsbefugt.

Darüber hinaus ist die Berufung der Beklagten in vollem Umfang begründet, da das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 26. Oktober 2010 rechtswidrig ist. Die Anschlussberufung der Klägerin ist hingegen unbegründet.

Hinsichtlich der vom Sozialgericht Fulda ausgesprochenen Verurteilung zur Zahlung einer Rente unter Berücksichtigung einer MdE von 20 v.H. fehlt es bereits an der Zulässigkeit der Klage. Der Versicherte hat zwar einen Antrag auf die Gewährung einer Rente gestellt. Hierüber hat die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid jedoch keine anfechtbare Verwaltungsentscheidung getroffen. Der Verfügungssatz im Ausgangsbescheid vom 4. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. September 2004, dessen Überprüfung von der Klägerin mit dem Antrag nach § 44 SGB X begehrt wird, geht lediglich darauf ein, dass die Polyneuropathie des Versicherten keine Berufskrankheit im Sinne der BK 1317 sei, und lehnt pauschal jegliche Ansprüche des Versicherten auf Leistungen ab. Auch in der Begründung setzt sich die Beklagte nicht mit den einzelnen potentiellen Leistungen der Unfallversicherung, die dem Versicherten zustehen könnten, auseinander, sondern verneint bereits das Vorliegen der Kausalität zwischen der Erkrankung und der Tätigkeit des Versicherten. Soweit die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid die Gewährung von Entschädigungsleistungen abgelehnt hat, liegt hierin unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizonts deshalb keine gerichtlich überprüfbare Entscheidung durch die Beklagte (vgl. zur Frage der Zulässigkeit einer Leistungsklage auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. August 2017, L 8 U 1894/17 – juris).

Da die Klage bezüglich der Rente bereits unzulässig ist, konnte auch die Anschlussberufung der Klägerin keinen Erfolg haben.

Zulässige Streitgegenstände im vorliegenden Verfahren sind allein die Aufhebung des Bescheids vom 8. Juni 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2005, die Rücknahme des Bescheids vom 4. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2004 und die Feststellung des Vorliegens der BK 1317. Richtige Klageart ist in diesem Zusammenhang die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage. Einer zusätzlichen Verpflichtungsklage, mit der die Beklagte verpflichtet werden soll, ihren früheren, dem Anspruch entgegenstehenden Bescheid selbst aufzuheben, bedarf es im sozialgerichtlichen Verfahren nicht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 5. September 2006 – B 2 U 24/05 R).

Die grundsätzliche Zulässigkeit einer derartigen Klage folgt aus § 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –. Das Feststellungsinteresse der Klägerin ergibt sich aus den §§ 59, 58 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – SGB I. Hiernach erlöschen Ansprüche auf Geldleistungen nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Soweit fällige Ansprüche auf Geldleistungen nicht nach den §§ 56 und 57 einem Sonderrechtsnachfolger zustehen, werden sie nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs vererbt. Sonderrechtsnachfolger sind hier nicht vorhanden, so dass die Klägerin als Erbin Rechtsnachfolgerin des Versicherten ist. Wie bereits ausgeführt, hat der Versicherte noch zu Lebzeiten einen Antrag auf die Zahlung einer Rente gestellt, der von der Beklagten noch nicht beschieden worden ist. Bei Bejahung des Vorliegens einer Berufskrankheit könnten der Klägerin deshalb Geldleistungen in Form dieser Lebzeitenrente zustehen (zum Feststellungsinteresse eines Rechtsnachfolgers vgl. auch BSG, Urteil vom 12. Januar 2010 – B 2 U 21/08 R – juris; HLSG, Beschluss vom 23. Februar 2016 – L 3 U 56/16).

Die Bescheide der Beklagten vom 8. Juni 2005 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2005) und vom 4. Mai 2004 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2004) sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass bei dem Versicherten die Berufskrankheit BK 1317 vorlag.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Vorliegend wurde bei Erlass des Bescheids vom 4. Mai 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2004 weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen.

Gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als Berufskrankheiten bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den nach den §§ 2, 3 begründenden Tätigkeit erleiden (Satz 1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann Berufskrankheiten auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung einer gefährdenden Tätigkeit versehen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen o. ä. auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK. Die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" müssen dabei im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 15. September 2011 - B 2 U 25/10 R - juris Rdnr. 14; Urteil vom 2. April 2009 - B 1 U 30/07 R - = BSGE 103, 45; BSGE 103, 59).

Der Verordnungsgeber hat die BK 1317 wie folgt bezeichnet: "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische". Demnach muss für die Feststellung einer BK 1317 zunächst eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie im Sinne des Vollbeweises – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen.

Für den Vollbeweis ist nicht die absolute, jeden möglichen Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit zu fordern, vielmehr genügt für die entsprechende richterliche Überzeugung eine an die Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Die volle Überzeugung wird als gegeben angesehen, wenn die Tatsache in so hohem Maß wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 12. Auflage 2017, § 128, Rn. 3b, m.w.N.).

Eine Enzephalopathie ist zur Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung des Vorstehenden und der hierzu schlüssigen Ausführungen des Dr. H. beim Versicherten nicht im Vollbeweis nachgewiesen. Eine toxische Enzephalopathie äußert sich durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen stehen im Vordergrund. Dabei unterscheidet man vier Schweregrade einer Enzephalopathie. Die Diagnose einer Enzephalopathie stützt sich auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund. Wichtige anamnestische Hinweise sind u.a. häufige pränarkotische Symptome in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition. Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Neurophysiologische Untersuchungen sowie bildgebende Verfahren sind für die Differentialdiagnostik von Bedeutung. Erhöhte Werte im Biomonitoring können die Diagnose stützen. Differentialdiagnostisch sind körpereigene Erkrankungen wie beispielsweise ein Morbus Alzheimer auszuschließen (zu weiteren Einzelheiten s. Ziffer III des Ärztlichen Merkblatts zu BK Nr. 1317, Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheiten-Verordnung, M 1317 bzw. Seite 30 ff. des Gutachtens von Dr. H. vom 18. November 2007). Festzustellen ist, dass bis zum Tod des Versicherten schon die Diagnose einer Enzephalopathie nicht gestellt wurde. Selbst der Sachverständige Dr. H. nimmt aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen, die im Rahmen der Begutachtung durch den Versicherten umfangreich ergänzt wurden, als Diagnose lediglich eine kernspintomographisch gesicherte kombinierte Atrophie mit Einbeziehung des Kleinhirns an und führt aus, dass der psychopathologische Befund durch psychologische Testverfahren objektiviert werden müsse. Zwar könnten außerberufliche Faktoren als Ursache der kognitiven Beschwerden weitestgehend ausgeschlossen werden, zur weiteren Abklärung des Beschwerdebildes und zur Einordnung der kognitiven Beschwerden werde jedoch die Durchführung einer validen testpsychologischen Untersuchung empfohlen. Eine derartige Testung ist beim Versicherten aufgrund seines Todes jedoch nicht mehr möglich.

Nachgewiesen ist in den Augen des Senats aufgrund des Gutachtens von Dr. H. allerdings ab dem Zeitpunkt der Untersuchung des Versicherten am 20. Juni 2003 in der Deutschen Klinik für Diagnostik eine Polyneuropathie. Der Sachverständige führt hierzu aus, dass die Diagnose durch fachneurologische Untersuchungen gesichert wurde. Dies ergibt sich auch aus dem Befundbericht von Frau Dr. E. vom 24. September 2003. Für die Zeit davor ist der Vollbeweis einer Polyneuropathie hingegen nicht geführt. Nachvollziehbare medizinische Unterlagen liegen aus dieser Zeit nicht vor. Lediglich im Vorerkrankungsverzeichnis taucht im Juli 1998 eine gemischte Polyneuropathie als Diagnose auf. Medizinische Unterlagen zu dieser Diagnose gibt es nicht. Weder legte Dr. D. hierzu Unterlagen vor, noch ergaben sich aus den vom Versicherten im Rahmen der Begutachtung vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte. Auch taucht Prof. K., dessen Name im Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenversicherung im Zusammenhang mit der Polyneuropathie genannt wird, nicht in der Schweigepflichtentbindungserklärung des Versicherten auf. Zur Überzeugung des Senats standen deshalb in den Jahren 1998/1999 vielmehr die Beschwerden des Versicherten mit seinen Stimmbändern im Vordergrund. Erst 2003 wurde sich intensiver medizinisch mit einer beim Versicherten ggf. bestehenden Polyneuropathie auseinandergesetzt. Dies zeigt auch der Bericht Dr. D.s vom 18. Mai 2004 (Bl. 20 der GA), in dem er mitteilt, dass seit dem 24. Februar 2003 eine unklare Polyneuropathie bestehe. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Versicherte dem Sachverständigen Dr. H. anscheinend mitgeteilt hat, dass er bereits seit ca. Anfang der 90er Jahre erstmals Beschwerden in Form von Ameisenlaufen und kalten Füßen bei subjektiv warmen Füßen bemerkt habe. Die vom Versicherten zum erstmaligen Auftreten von Beschwerden getätigten Angaben sind bereits nicht konsistent. So hat er bei Frau Dr. E. angegeben, dass er sich bis 1999 wohl gefühlt habe, 1987 eine Stimmbandlähmung entwickelt und später ein Gefühl der kalten Füße und des Ameisenlaufens. Im von ihm im Jahr 2003 ausgefüllten Formular gab er dann an, dass Beschwerden erstmals Ende 2002 aufgetreten seien.

Hinsichtlich der beruflichen Einwirkungen steht in den Augen des Senats – entgegen der Ausführungen der Beklagten – aufgrund des Gutachtens von Dr. J. vom 10. März 2010 zunächst fest, dass der Versicherte bei seiner beruflichen Tätigkeit über das Jahr 1990 hinaus Einwirkungen grundsätzlich neurotoxisch wirkender organischer Lösungsmittel ausgesetzt war. Der Sachverständige hat schlüssig dargelegt, dass nach 1990 insbesondere bei Tätigkeiten im Bereich der Boden- und Parkettlegearbeiten, die von dem Versicherten auch nach 1990 in erheblichem Umfang (60%) ausgeführt wurden, Produkte verwandt wurden, die organische Lösungsmittel oder deren Gemische enthielten. Trotz der Einführung von wasserlöslichen Dispersionsklebstoffen würden auch ab 1990 bis zur "Gegenwart" (das Gutachten wurde im Jahr 2010 erstellt) im Bereich der Boden- und Parkettlegearbeiten noch eine Vielzahl von Verlegewerkstoffen und bauchemischen Spezialprodukten vom Handel angeboten, die teilweise noch erhebliche Mengen an Lösungsmitteln mit neurotoxischer Relevanz enthielten. Mangels sinnvoller Produktalternativen kämen in bestimmten Situationen weiterhin nur lösemittelhaltige Produkte mit neurotoxischer Relevanz zum Einsatz, z.B. zur Versiegelung einiger Holzarten. Der Umfang an Materialien, die auch noch nach 1990 Lösemittel mit neurotoxischer Wirkung enthielten, reiche von Betonzusatzmitteln und bitumenhaltigen Anstrichen und Klebern über Spachtel-, Fugendichtungs- und Vergussmassen und Styropordämmstoffen bis zu Verlegewerkstoffen, Flächenabdichtungen und Oberflächenbehandlungsmitteln von Parkett. Die Ausführungen des Sachverständigen geben zur Überzeugung des Senats den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zumindest bis zum Jahr 2010 wieder. Dies folgt insbesondere aus der 2. Auflage des BK-Reports zur BK 1317, der das Datenmaterial vor 2003 auswertet (vgl. BK-Report 2/2007 unter https://www.dguv.de/ifa/publikationen/reports-download/bgia-reports-2007-bis-2008/bk report-2-2007/index.jsp). In dem Report wird zunächst festgestellt, dass bei der Verarbeitung von Klebstoffen bei Bodenbelagsarbeiten und der Verarbeitung von Holzkitten und Parkettsiegeln als mögliche relevante neurotoxische Lösungsmittel Butanon, Ethanol, n-Heptan, n-Hexan, Methanol, Toluol und Xylol in Betracht kämen (vgl. Seite 34 des Reports). Auf den folgenden Seiten wird dann dargestellt, dass die Exposition mit neurotoxischen Lösemitteln ab 1990 grundsätzlich zurückgegangen sei, dass eine derartige Exposition in größerem Umfang jedoch nicht ausgeschlossen werden könne und insbesondere in Spezialfällen weiterhin bestehe. Die Ausführungen des Präventionsdienstes der Beklagten, der zunächst eine relevante Exposition des Versicherten mit für die BK 1317 relevanten Stoffen ab 1990 ausschließt, können vor diesem Hintergrund nicht nachvollzogen werden, da sie mit der auch ab 1990 bestehenden Arbeitsrealität nicht im Einklang stehen und in den Augen des Senats lebensfremd sind.

Trotzdem liegen zur Überzeugung des Senats die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Anerkennung der Polyneuropathie als BK 1317 nicht vor, da von der insoweit beweispflichtigen Klägerin nicht nachgewiesen ist, dass der Versicherte im Verlauf seines Berufslebens den Lösungsmitteln n-Hexan und/oder 2-Hexanon ausgesetzt war. Bei diesen beiden Lösungsmitteln handelt es sich nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand um die beiden Listenstoffe, die grundsätzlich in der Lage sind nach meist chronischer und erhöhter Exposition eine Polyneuropathie zu verursachen (vgl. zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand BK-Report 1/2018 (3. Auflage) unter https://www.dguv.de/ifa/publikationen/reports-download/bgia-reports-2007-bis-2008/bk-report-2-2007/index.jsp). Bei gleichzeitiger Einwirkung von 2-Butanon kann die neurotoxische Wirkung der beiden Stoffe verstärkt werden. Die übrigen Stoffe sind vorwiegend bezüglich ihrer Wirkungen auf das zentrale Nervensystem (Enzephalopathie) maßgeblich (vgl. Seite 89 f. der 3. Auflage des BK-Reports 1/2018 a.a.O.; so auch schon BK-Report 2/2007, S. 126 f., a.a.O.). Der Versicherte hat im Verlauf des Verfahrens wenig Angaben zu den von ihm verwendeten Materialien gemacht. Selbst wenn man diese Angaben auch ohne Nachweis als wahr unterstellt, kann hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass der Versicherte den Stoffen n-Hexan und 2-Hexanon ausgesetzt war. Nach eigenen Angaben hat er bis 1990 das Produkt D 503 verwandt. Dieses ist nach Auskunft des Präventionsdienstes der Beklagten in seiner Stellungnahme vom 1. März 2004 in den GISCODE SH1 einzuordnen und enthält Butanon, Toluol, Xylol und Ethanol. Außerdem hat er angegeben, Produkte der Hersteller Thomsit und Uzin zu verwenden, u.a. bis Ende der 90er das Produkt Thomsit P 600. Wie sich aus der Aufstellung des Sachverständigen Dr. J. ergibt (vgl. Seite 22 des Gutachtens vom 10. März 2010), enthalten nur die Produkte R 730 (Verdünner für Neoprenkleber) und K 182 (Neoprenkontaktkleber) der Firma Thomsit n-Hexan. Das Produkt P 600 und die Produkte der Firma Uzin (ebenfalls Verdünner für Neoprenkontaktkleber und Parkettklebstoff) enthalten weder n-Hexan noch 2-Hexanon. Welche Produkte der Versicherte tatsächlich genutzt hat, bleibt unklar. Die vom Versicherten weiter angegebenen Produkte EPX Color und EPX Colorpur enthalten nach Auskunft des Präventionsdienstes keine neurotoxischen Substanzen. Eine Änderung der Sichtweise ergibt sich für die Zeit bis 1990 auch nicht aus der Angabe des Präventionsdienstes in seiner Stellungnahme vom 1. März 2004, dass eine Überschreitung des neurotoxischen Schwellenwerts bei der Verwendung von G3- und SH1-Produkten zumindest bis 1990 bestanden hat und somit auch eine Exposition im Sinn der BK 1317. Der Präventionsdienst hat in seinen Stellungnahmen ersichtlich keine Trennung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Polyneuropathie einerseits und die Enzephalopathie andererseits vorgenommen, sondern nur allgemein festgestellt, dass der Versicherte bis 1990 organischen Lösemitteln und entsprechenden Gemischen in einem für die BK 1317 relevanten Umfang ausgesetzt war. Bereits aus den in der Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 1. März 2004 ergibt sich aber, dass nur die S1-Klebstoffe und zum Teil die S4-Klebstoffe n-Hexan beinhalten. Zur tatsächlichen Verwendung derartiger Produkte durch den Versicherten oder durch die Branche der Parkett- und Bodenverleger finden sich keine Angaben. Mangels einer Differenzierung der für die Polyneuropathie relevanten und nicht relevanten Lösemittel konnte auch das Gutachten Dr. J.s hier nicht überzeugen. Schon die exemplarische Benennung unterschiedlicher Produkte auf Seite 22 des Gutachtens zeigt, dass lediglich die bereits zuvor benannten zwei Produkte der Firma Thomsit n-Hexan beinhalten. 2-Hexanon findet sich in keinem der Produkte. Es mag deshalb sein, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen bezüglich einer Enzephalopathie gegeben wären, für den Nachweis des Vorliegens im Fall einer Polyneuropathie reicht das Gutachten jedoch nicht aus. Dies insbesondere dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass selbst Dr. J. davon spricht, dass aufgrund von Maßnahmen spätestens ab den 90er Jahren ein deutlicher Rückgang der Verwendung lösungsmittelhaltiger Produkte zu verzeichnen ist.

Soweit man mit dem Präventionsdienst der Beklagten davon ausgeht, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen bis 1990 vorlagen, fehlt es darüber hinaus an der Kausalität zwischen der beim Versicherten festgestellten Polyneuropathie und den beruflichen Einwirkungen.

Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d. h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.) und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 -, Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg.), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite 630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris).

Vorliegend ist schon der naturwissenschaftliche Zusammenhang (1. Prüfungsstufe) zwischen Erkrankung und (bis 1990 unterstellter) Exposition nicht hinreichend wahrscheinlich. Der Senat stützt sich für diese Feststellung auf die überzeugenden Ausführungen des Beratungsarztes Dr. G. vom 15. Juli 2004, der angibt, dass sich eine toxische Polyneuropathie in der Regel während einer bestehenden Exposition bzw. in einem engen zeitlichen Zusammenhang manifestiere, so dass eine Polyneuropathie, die sich erst (acht) Jahre nach der Exposition manifestiere, ein sicheres Ausschlusskriterium für eine toxische Genese sei. Diese Angaben stehen im Einklang mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand.

Nach diesem sind Argumente für eine berufliche Ursache ein typisches Krankheitsbild, hohe Expositionen (indikativ sind wiederholt bei der Arbeit auftretende pränarkotische Symptome), lange Expositionsdauer, der Ausschluss bekannter nicht arbeitsbedingter Ursachen, ein Nachweis von lösungsmittelinduzierten Werten in anderen Organen (sog. Brückensymptome) und eine Manifestation der Erkrankung während oder kurz nach Expositionsende. Umgekehrt spricht ein Fehlen der vorgenannten Punkte gegen eine berufliche Ursache (vgl. Seite 100 des BK Reports 1/2018, a.a.O.; vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 266 f.; Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, M 1317, Rn. 4). Objektive pathologische Befunde zur Diagnose einer Lösungsmittelneuropathie sind distalsymmetrische sensible oder sensomotorische Manifestationen, eine Hypo- bzw. Areflexie (Reflexabschwächung bzw. -aufhebung) der unteren Extremitäten, distalsymmetrische Paresen, distalsymmetrische strumpf- bzw. handschuhförmig angeordnete Sensibilitätsstörungen für Ästhesie (Empfindungsvermögen), Algesie (Schmerzempfinden), Vibrationsempfinden, Temperaturempfinden, Lageempfinden und Zweipunktdiskrimination, neurovegetative Begleitsymptome wie z.B. Hypo- oder Hyperhidrosis (verminderte oder vermehrte Schweißresektion) der Fußsohlen, Hyperkeratose (übermäßig starke Verhornung der Haut) und Nagelbettveränderungen, eine Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit und Verlängerung der distalen Latenzen in der Elektroneurografie und/oder Erniedrigung der Amplitude des sensiblen Nervenaktionspotentials bzw. des motorischen Summenaktionspotentials und/oder Zeichen eines akuten oder chronischen neurogenen Schädigungsprozesses im Elektromyogramm (vgl. Seite 81 f. des BK Reports 1/2018, a.a.O.). In den Berichten der neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums und des Neurologen Dr. L. aus den Jahren 2005 und 2006 finden sich Aussagen zu einer sensomotorischen, gemischt axonal demyelisierenden Polyneuropathie. Im Rahmen der Untersuchung durch Dr. H. gab der Versicherte eine eingeschränkte Sensibilität im Bereich beider Füße und Unterschenkel, einen unsicheren Gang, da er den Boden unter den Füßen nicht mehr richtig spüre, und "Ameisenlaufen" im Bereich der Füße an. Die Sensibilität war im Bereich beider Hände mittelgradig eingeschränkt und die Sensibilität für Schmerz und Berührung beidseits strumpfförmig in den Beinen herabgesetzt. Es bestanden sockenförmige Hypästhesien im Bereich beider Unterschenkel bis ca. Unterschenkelmitte reichend. Das Vibrationsempfinden war an beiden Knöcheln hochgradig herabgesetzt. Der Achillessehnenreflex war beidseits nicht auslösbar, der Patellarsehnenreflex beidseits schwach auslösbar. In der Gesamtschau entspricht die Erkrankung des Versicherten damit dem Krankheitsbild einer neurotoxischen Polyneuropathie, wie dies auch von Dr. H. festgestellt wird. Nachdem der Versicherte in der Zeit ab 1962/1963 in seinem Beruf tätig war, bestand bis 1990 auch eine lange Exposition gegenüber neurotoxischen Lösungsmitteln bei nach Auskunft des Präventionsdiensts hoher Exposition. Andere Ursachen wurden – soweit möglich – von Dr. H. ausgeschlossen (vgl. Seite 35 des Gutachtens). Der Nachweis von lösemittelinduzierten Werten in anderen Organen wurde jedoch nicht geführt. Darüber hinaus manifestierte sich die Erkrankung im Vollbeweis gesichert – wie bereits zuvor ausgeführt – erst im Jahr 2003, auch variierten die Angaben des Versicherten, wann er erstmals Beschwerden hatte zwischen Anfang der 90er Jahre und 2002, so dass eine gesicherte Manifestation und auch entsprechende Beschwerden erst im Jahr 2003 angenommen werden können. Das bedeutet, dass zwischen einer gesicherten Polyneuropathie und den gesichert vorliegenden arbeitstechnischen Voraussetzungen mehr als 10 Jahre liegen. Grundsätzlich besteht zwischen der krankmachenden Exposition und dem Krankheitsbeginn ein enger zeitlicher Zusammenhang. Ein längeres Intervall zwischen letzter Exposition und Krankheitsbeginn ist toxikologisch nicht plausibel (vgl. Seite 91 des BK Reports 1/2018, a.a.O.). In der Gesamtschau ist es aufgrund der langen Karenzzeit auch unter Berücksichtigung, dass vier der sechs Abwägungskriterien für eine Kausalität sprechen für den Senat – wie Dr. G. in seiner Stellungnahme schlüssig und im Einklang mit dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ausführt – nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Polyneuropathie des Versicherten auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen ist. Den Feststellungen von Dr. H. konnte der Senat hingegen nicht folgen. Dieser ist bei seiner Abwägung zum einen davon ausgegangen, dass der Versicherte bereits zu Beginn der 90er Jahre gesicherte Anzeichen einer Polyneuropathie zeigte, und hat weiterhin angenommen, dass er auch nach 1990 bis zumindest Ende der 90er Jahre einer "Mischexposition zu verschiedenen potentiell neurotoxischen, organischen Lösungsmitteln" ausgesetzt war. Weder liegen die Anzeichen einer Polyneuropathie seit Anfang der 90er im Vollbeweis vor noch ist eine Exposition der beiden eine Polyneuropathie überhaupt auslösenden Stoffe nach 1990 nachgewiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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