S 3 U 92/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 92/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 141/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erhöhung der Verletztenrente wegen einer Verschlimmerung von Unfallfolgen.

Der im Jahr 1962 geborene Kläger ist selbstständiger Spediteur und führt Kleintransporte durch. Am 06.06.2007 wollte er mit einem 20 kg schweren Sack in der Hand von der Ladefläche seines Transporters steigen und rutschte hierbei auf einem Tritt aus. Bei dem Sturz verdrehte er sich das rechte Kniegelenk. Hierbei zog er sich eine Kniegelenksdistorsion rechts, eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes sowie Innen- und Außenmeniskusläsionen zu. In der Folge wurde ihm u.a. operativ eine Kreuzbandplastik eingesetzt.

Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid v. 08.08.2008 zunächst Rente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20. Als Unfallfolgen stellte sie eine Muskelminderung am rechten Oberschenkel sowie eine Bewegungseinschränkung und Instabilität des rechten Kniegelenks fest. Nicht als Unfallfolgen erkannte sie einen Zustand nach einer Außenmeniskusoperation rechts im Jahr 1981 sowie degenerative Veränderungen des Kniegelenks an.

Durch Bescheid v. 12.03.2010 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab und entzog die vorläufige Entschädigung ab dem 01.04.2010. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde durch Bescheid v. 21.10.2010 zurückgewiesen. Es schloss sich vor dem SG Darmstadt das Klageverfahren S 3 U 143/13 an.

Nachdem der Kläger zwischenzeitlich erneut bei der beruflichen Tätigkeit mit dem rechten Knie umgeknickt war, beauftragte die Beklagte noch während des laufenden Klageverfahrens den Orthopäden Prof. Dr. C. mit der Erstellung eines Gutachtens v. 08.07.2013. Dieser stellte als Befund eine deutliche vordere Instabilität des rechten Kniegelenks, eine erstgradige Instabilität des Innenbandes, ein Streckdefizit von 15 Grad, deutliche klinische Zeichen einer Kniegelenksarthrose sowie als Auswirkung einen Beckenschiefstand fest. Das neue Ereignis sei mittelbare Folge des vorherigen Arbeitsunfalls gewesen. Er schätzte die MdE mit 25 ein.

In der mündlichen Verhandlung v. 14.02.2014 schlossen die Beteiligten daraufhin einen Vergleich, wonach dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 auf unbestimmte Zeit gewährt wurde. Zugleich vereinbarte man, eine zwischenzeitlich eingetretene Verschlimmerung der Unfallfolgen durch ein erneutes Gutachten bei Prof. Dr. C. prüfen zu lassen.

Prof. Dr. C. erstellte daraufhin ein weiteres Gutachten v. 23.09.2014. Er erhob den Befund einer Instabilität von Innenband und Außenband, eines Streckdefizits von 20 Grad und einer fehlenden Beugefähigkeit von 20 Grad. Die Folgen hätten sich insofern verschlimmert, als die Beugekontraktur – bedingt durch ein Fortschreiten der Kniegelenksarthrose – zugenommen habe. Die MdE schätzte er wieder mit 25 ein.

Der von der Beklagten beauftragte Beratungsarzt Dr. D. konnte in seiner Stellungnahme v. 08.10.2014 allerdings in diesem Befund keine wesentliche Änderung in den für die Höhe der Rente maßgeblichen Verhältnissen erkennen.

Durch Bescheid v. 26.11.2014 lehnte die Beklagte daraufhin eine Erhöhung der Rente ab. Der hiergegen mit Schreiben v. 08.12.2014 eingelegte Widerspruch wurde durch Bescheid v. 08.05.2015 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 08.06.2015 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Das Gericht hat ein orthopädisches Gutachten des Dr. E. v. 04.04.2016 eingeholt. Er stellt die Diagnosen einer posttraumatischen Kniegelenksarthrose nach Kreuzbandruptur und Kreuzbandplastik mit verbliebener anteromedialer Knieinstabilität sowie eines Zustandes nach Außenmeniskusoperation im Jahr 1981. Als Unfallfolgen betrachtet er die Bewegungseinschränkung, die allerdings teilweise auch auf die Vorschädigung zurückzuführen sei, eine Kniegelenkinstabilität sowie eine geringe statische Beinlängendifferenz. Im Ergebnis gebe es keine gravierenden Abweichungen zum Bezugsgutachten des Prof. Dr. C. aus dem Jahr 2013. Das Streckdefizit betrage nur 10 Grad, die Einschränkung der Beugefähigkeit nur 15 Grad. Eine Zunahme der Instabilität sei nicht zu verzeichnen, diese sei mit einfachem "+" einzuschätzen. Die Folgen würden anteilig durch eine Außenmeniskusteilentfernung im Jahr 1981 verursacht. Die MdE schätzt er weiterhin mit 20 ein.

In einer ergänzenden Stellungnahme v. 17.11.2016 führt er weiter aus, dass das Risiko für ein zukünftiges Fortschreiten der Arthrose noch keine höhere MdE-Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertige.

Das Gericht hat auf Antrag des Klägers ein weiteres orthopädisches Gutachten des Prof. Dr. C. v. 12.11.2018 eingeholt. Dieser führt aus, dass eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen durchaus vorliege: Es bestehe keine muskulär kompensierte Instabilität sondern nahezu ein Wackelknie, auf das kein Verlass mehr sei. Zu berücksichtigen sei insbesondere auch die schwere Arthrose des Kniegelenks. Er setzt Einzel-MdEen für Arthrose v. 10-30, für das Wackelknie v. 20 und für den Bewegungsverlust v. 20 fest. Insgesamt schätzt er die MdE nunmehr auf 30.

Der Kläger sieht eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen als gegeben.

Er beantragt,
den Bescheid vom 16.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2015 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Abänderung der im gerichtlichen Vergleich vom 14.02.2014 getroffenen Rentenbewilligung eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 ab dem 15.02.2014 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend, die von Prof. Dr. C. nunmehr erhobenen Befunde ergäben im Vergleich zu seinem Gutachten aus dem Jahr 2013 keine wesentliche Verschlimmerung.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid vom 16.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf einer Erhöhung seiner Verletztenrente.

Rechtsgrundlage für die Bescheide ist § 48 SGB X. Nach Abs. 1 der Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Zweifelhaft ist hier bereits, ob überhaupt eine Änderung in diesem Sinne eingetreten ist. Vergleichsgrundlage ist insofern der Zustand bei Rentengewährung im Rahmen des gerichtlichen Vergleichs v. 14.02.2014. Eine Änderung der Bewegungsmaße des Kniegelenks seitdem lässt sich nicht sicher feststellen. Bei der damals zugrunde gelegten Begutachtung durch Prof. Dr. C. am 08.07.2013 hatte das rechte Kniegelenk des Klägers ein Streckdefizit und eine fehlende Beugefähigkeit von jeweils 15 Grad aufgewiesen. Im Klageverfahren erhob der Sachverständige Dr. E. in seinem Gutachten v. 04.04.2016 die Befunde eines Streckdefizits von 10 Grad und eine Beugeeinschränkung von 15 Grad. Prof. Dr. C. maß in seinem zweiten Gutachten im Verwaltungsverfahren v. 23.09.2014 ein Streckdefizit 20 Grad und eine Beugeeinschränkung von ebenfalls 20 Grad, in seinem im Gerichtsverfahren eingeholten dritten Gutachten v. 12.11.2018 ein Streckdefizit von 15 Grad und ein Beugedefizit von 20 Grad. Mit diesen uneinheitlichen Befunden lässt sich nicht nachweisen, dass die Bewegungseinschränkungen des rechten Kniegelenks sich überhaupt sei dem Vergleichsschluss verändert haben. Auch zur Frage zum Ausmaß der Instabilität des Kniegelenks differieren die Bewertungen von Dr. E. und Prof. C., was die Frage einer Veränderung anbetrifft. Am Ehesten kann noch eine Änderung in der Schwere der mit den Knieschädigungen verbundenen, fortschreitenden Arthrose angenommen werden, wie sie Prof. Dr. C. in seinem Gerichtsgutachten auf Seite 19 unter Berufung auf die radiologische Voruntersuchung darlegt.

Dies kann jedoch im Ergebnis dahinstehen. Geht man nämlich von einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse aus, so ist diese jedenfalls hier nicht wesentlich im Sinne von § 48 SGB X. Für die Unfallversicherung konkretisiert § 73 Abs. 3 SGB VII, in welchen Fällen eine wesentliche Änderung der Verhältnisse bei der Bewertung der MdE vorliegt. § 73 Abs. 3 SGB VII bestimmt: "Bei der Feststellung der Minderung der Erwerbstätigkeit ist eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 vom Hundert beträgt; bei Renten auf unbestimmte Zeit muss die Veränderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit länger als drei Monate andauern."

Ausnahmen von dem eindeutigen Wortlaut hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen und auch nicht übersehen. Vielmehr hat er mit § 73 Abs. 3 SGB VII ausdrücklich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts übernommen (vgl. BT-Drucksache 13/2204 S. 93), die bereits zu § 608 Reichsversicherungsordnung (RVO) und zu § 622 RVO eine Änderung der MdE um nur 5 v. H. als nicht wesentlich angesehen hatte. Eine so geringe Dimension liege – so das Bundessozialgericht – noch innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite, der Grad einer unfallbedingten MdE sei mithin nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar (BSG, Urteile vom 2. März 1971 – 2 RU 39/70 - und – 2 RU 300/68 – jeweils juris). An diesem auf jahrzehntelange unfallmedizinische Erfahrungen gestützten Prinzip solle nicht nur festgehalten, sondern dieser Grundsatz noch dadurch gefestigt werden, "dass Ausnahmen hiervon nicht mehr anerkannt werden". Soweit diese Auslegung in den – minder zahlreichen – Fällen einer Verschlimmerung von Unfallfolgen für die Verletzten eine Erschwerung beim Erlangen einer Rentenerhöhung mit sich bringe, müsse diese Folge im Interesse der Rechtssicherheit in Kauf genommen werden (BSG, Urteil vom 2. März 1971 – 2 RU 39/70 juris).

Vorliegend ist die Kammer in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. E. der Auffassung, dass keine wesentliche Änderung in diesem Sinne - welche also eine Anhebung der festgestellten MdE von 20 auf 30 rechtfertigen könnte - nachgewiesen ist.

Die Bemessung des Grades der MdE wird vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 25/05 R - SozR 4-2700 § 56 Nr. 2; Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R - SozR 3-2200 § 581 Nr. 8 m. w. N.). Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 s. o.). Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG, Urteil vom 5. September 2006 s. o.; Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R SozR 4-2700 § 56 Nr. 1).

Der Sachverständige Dr. E. führt in seinem Gutachten nachvollziehbar aus, dass ein Fortschreiten der Bewegungseinschränkungen nicht feststellbar sei und auch die Instabilität sich nicht wesentlich verschlechtert hätte. Die Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenks hat sich auch nach Auffassung des Prof. Dr. C. jedenfalls nicht MdE-relevant verschlechtert. Hinsichtlich der Instabilität geht Dr. E. in Übereinstimmung mit der Begutachtungsliteratur vor, indem er den Grad der Instabilität in das gängige Schema mit einem einfachen "+" einstuft. Dies bedeutet eine messbare sog. "Schublade" von 3-5 mm mit muskulär kompensierter Instabilität (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 9. Aufl., S. 686). Er hat festgestellt, dass eine unterschiedliche Ausprägung der Beinmuskulatur beider Seiten des Klägers nicht bzw. kaum feststellbar sei. Der diesbezügliche Befund unterscheidet sich auch nur geringfügig vom Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C., der die Schublade mit 5 mm bemisst und einen nur um 2 cm verschiedenen Beinumfang feststellte. Diese moderaten Beeinträchtigungen der Stabilität stehen im Widerspruch zu seiner drastischen Wortwahl, es liege beim Kläger ein "Wackelknie" vor und er könne sich auf sein Bein nicht mehr verlassen. Diese gutachterlichen Ausführungen sind durch seine Befunde nicht verobjektiviert.

Eine Instabilität des Kniegelenks im genannten Ausmaß rechtfertigt nach den Tabellen in der Begutachtungsliteratur aber gerade für sich genommen nur eine MdE von 10 (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 9. Aufl., S. 686). Die diesbezüglichen Funktionsbeeinträchtigungen überschneiden sich zudem mit der der Bewegungseinschränkung, die nach beiden Sachverständigen mit einer MdE von 20 einzuschätzen ist, so dass sich im Ergebnis keine Anhebung der MdE auf 30 rechtfertigen lässt. Selbst Prof. Dr. C. hatte im Übrigen in seinem Gutachten v. 23.09.2014 die MdE noch mit 25 eingeschätzt.

Die vom Sachverständigen Prof. Dr. C. in den Vordergrund gerückte fortschreitende Kniegelenksarthrose vermag schließlich ebenfalls keine weitere Erhöhung des MdE zu begründen. Die von der Arthrose ausgehenden, erwerbsrelevanten Beeinträchtigungen sind bereits mit den Aspekten der Bewegungseinschränkung und der Instabilität hinreichend berücksichtigt. Entscheidend bei der Bemessung der MdE ist nicht der radiologische Befund an sich, sondern sind die Beeinträchtigungen des Verletzten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 9. Aufl., S. 685).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Das zulässige Rechtsmittel der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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