S 34 SB 547/19

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Altenburg (FST)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
34
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 34 SB 547/19
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X normierte Zugangsfiktion findet auch dann Anwendung, wenn ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einfachem Brief durch einen lizensierten privaten Postdienstleister an den Adressaten übermittelt wird.
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

In Streit steht die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "Gl" (gehörlos), formell die Einhaltung der Klagefrist.

Der 1950 geborene Kläger leidet nach einer Meningitis-Infektion seit September 2015 u. a. an einer zunehmenden Minderung des Hörvermögens. Im Dezember 2015 wurde er beidseitig mit Hörgeräten versorgt.

Mit Bescheid vom 31. März 2016 stellte das Versorgungsamt der Region Oberpfalz im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens einen Grad der Behinderung (GdB) in Höhe von 100 fest und erkannte ihm die Merkzeichen "G", "B" und "RF" zu. Dabei legte das Versorgungsamt folgende Erkrankungen zugrunde: Polyneuropathie, Geheinschränkung nach Meningitis, Orientierungsstörungen (Einzel-GdB 60), Leberzirrhose (Einzel-GdB 60), Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB 50) und Herzleistungsminderung, künstliche Herzklappe, Bluthochdruck (Einzel-GdB 40).

Im September 2016 wurde dem Kläger ein Cochlea-Implantat links (Typ Advanced Bionics) implantiert.

Am 3. April 2018 beantragte der Kläger bei dem Beklagten, als nunmehr zuständigen Versorgungsträger, wegen einer hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit beidseits zusätzlich die Zuerkennung des Merkzeichens "Gl".

Auf der Grundlage beigezogener medizinischer Unterlagen lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 12. Juni 2018 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2019). Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung führte der Beklagte aus, zwar rechtfertige das durch eine Schwerhörigkeit rechts und Taubheit links eingeschränkte Hörvermögen einen Einzel-GdB in Höhe von 70, nach Auswertung der aktenkundigen ärztlichen Unterlagen sei aber festgestellt worden, dass er nicht gehörlos sei und deshalb die Vorausset-zungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Gl" nicht erfüllt seien. Der Widerspruchsentscheidung ist eine Rechtsmittelbelehrung angefügt, in der darauf hingewiesen wird, dass "gegen diesen Bescheid innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe Klage" zum Sozialgericht "erhoben werden" kann. Die Rechtsmittelbelehrung beinhaltet darüber hinaus die Anschrift des Sozialgerichtes Altenburg, die Möglichkeiten der Klageerhebung und Angaben zum Klagegegner.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 19. März 2019 bei Gericht eingegangene Klage, wobei der Kläger in der Klageschrift vom gleichen Tag angab, der Wider-spruchsbescheid sei am 20. Februar 2019 bei ihm eingegangen.

Der Kläger trägt vor, der Beklagte habe im Verwaltungsverfahren seine gesundheitliche Situation nicht vollständig berücksichtigt. Er habe Anspruch auf Vergabe des Merkzeichens "Gl". Im Krankenhaus M M1 sei festgestellt worden, dass bei ihm eine beidseitige Taubheit mit Hörresten vorliege. Trotz Hörgeräten könne er rechtsseitig keinerlei Sprachverstehen erzielen, linksseitig liege auch nach der Implantation des Cochlea-Implantats eine vollständige Ertaubung vor. Nicht nur Hörbehinderte, bei denen Gehörlosigkeit beidseits vorliege gehörten zu den Anspruchsberechtigten für das Merkzeichen "Gl", sondern auch Betroffene, die - wie er - unter einer sehr schweren an Taubheit grenzenden Hörbehinderung und dazu an einer behindertenbedingten schweren Sprachstörung leiden. Aufgrund der erheblichen Einschränkung seines Hörvermögens habe er keine Chance, die Sprache in seiner Umwelt zu hören, zu verstehen bzw. entsprechend den Bedürfnissen anzuwenden.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2019 zu verpflichten, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "Gl" (gehörlos) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält an seiner im Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidung fest. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf die im Verwaltungsverfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen sowie die gleichlautenden Einschätzungen der befragten drei Versorgungsärzte verwiesen.

Das Gericht hat zunächst die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen. Auf dem darin befindlichen Original des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2019 befindet sich unter dem vorgesehenen Vermerk "abges. am:" ein nachträglich aufgebrachter Stempelaufdruck mit dem Datum "15. Feb. 2019".

Auf Nachfrage teilte der Kläger mit, er könne den Zugang des an ihn persönlich andressierten und übersandten Widerspruchsbescheides am 20. Februar 2019 bestätigen. Er gehe davon aus, dass er am 19. Februar 2019 den Widerspruchsbescheid noch nicht erhalten hatte, so dass auch die Klagefrist später beginne.

Der Beklagte übersandte auf Nachfrage zum Postablauf in der Widerspruchsbehörde eine auf den 19. Dezember 2019 datierende Stellungnahme des Thüringer Landesverwaltungsamtes mit Sitz in S, welches den Widerspruchsbescheid am 14. Februar 2019 erlassen hatte. Darin teilte das Thüringer Landesverwaltungsamt mit, die Versendung des Widerspruchsbescheides an den Kläger sei nur auf dem Bescheid vermerkt (Stempel abges. am), der sich in der Originalakte befinde. Der Widerspruchsbescheid werde immer am Tag des Stempeldatums versandt. Dazu werde er zur Hauptpoststelle in S gebracht und am selben Tag dem Postdienstleister L GmbH übergeben. Auf weitere gerichtliche Nachfrage teilte das Thüringer Landesverwaltungsamt in einer Stellungnahme vom 18. Februar 2020 mit, ein gesondertes Postausgangsbuch werde nicht geführt; ebenso werde keine gesonderte Dokumentation zur Übergabe der Post an den Postdienstleister mit Datum und Uhrzeit geführt. Es erfolge jedoch ein Eintrag in das PC-Programm mit dem genauen Datum des Bescheidausgangs, hier am 15. Februar 2019. Dem Schreiben fügte das Thüringer Landesverwaltungsamt einen Aktenausdruck bei, der den Postausgang am 15. Februar 2019 ausweist.

Auf gerichtliche Anfrage teilte die L GmbH mit (Schreiben vom 27. Januar 2020 und 14. Februar 2020), sie befördere Briefe nach den Vorschriften der Prozessordnungen und Gesetze, die der Verwaltungszustellung unterliegen. Hierzu verfüge sie über eine Lizenz zur gewerbsmäßigen Beförderung von Briefsendungen, welche unter der Nr. P01/1602 bei der Bundesnetzagentur registriert ist. Zugestellt werde Montag bis Samstag. Der Zeitraum für die Beförderung eines einfachen Briefes betrage regelmäßig einen Werktag. Über statistische Erhebungen zur Einhaltung der Beförderungszeit verfüge sie nicht, regelmäßig eingestreute Testsendungen an ausgewählte Empfänger bestätigten die Laufzeit. Zwar könne es bedingt durch Störungen bspw. im Produktionsablauf oder aufgrund von Verkehrsbeeinträchtigungen zu einer Verlängerung der Laufzeit um einen Werktag kommen. Für einen einzelnen Brief könne dies aber nicht nachvollzogen werden. Im Zeitraum 15. bis 20. Februar 2019 sei ihr keine Meldung über eine Verzögerung angezeigt worden. Der Ablauf einer Briefbeförderung zwischen der Hauptpost S und einem Empfänger in N gestalte sich wie folgt: "15.2. Empfang in der Hauptpost, ab 18.30 Uhr Sortierung am gleichen Tag beim Produktionsdienstleister, Ende der Sortierung um 22.30 Uhr, Verladen auf Fahrzeuge, Ankunft am 16.2. nachts bei der Partnerfirma E S1, Feinsortierung, Auslieferung an den Zusteller, Zustellung beim Empfänger am 16.2."

Nach den Ermittlungen des Gerichts verfügt auch die E GmbH & Co KG neben einer Eintragung im Handelsregister über eine Postlizenz, die unter der Nr. P00/1227 bei der Bundesnetzagentur geführt wird.

Der Kläger trägt ergänzend vor, die Klage sei am 19. März 2019 fristgemäß erhoben. Die in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X vorgesehene Zugangsfiktion könne keine Anwendung finden. Er verweise insofern auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, wonach zu ermitteln sei, ob nach den beim privaten Dienstleister vorgesehenen organisatorischen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden könne. Dies gelte vor allem bei einem regionalen Dienstleister, der bei bundesweiten Zustellungen andere Dienstleistungsunternehmen zwischen schalte. Die Zu-gangsvermutung sei immer von einer Beförderung durch die D B ausgegangen. Die gesetzliche Regelung stamme aus einer Zeit, zu der die D B für die Beförderung von Briefen das gesetzliche Monopol hatte und man regelmäßig davon ausgehen konnte, dass ein Brief nach den organisatorischen Vorkehrungen der Post innerhalb von drei Tagen den Empfänger erreicht. Zwar verfüge der von der Widerspruchsbehörde beauftragte private Dienstleister über eine Postlizenz, im Rahmen der Lizensierung werde die Einhaltung konkreter Postlaufzeiten aber nicht geprüft. Der Nachweis, ob die organisatorischen Vorkehrungen von einem privaten Dienstleister erfüllt werden, sei der Beklagten zuzuordnen. Im Verfahren sei ein solcher Nachweis nicht erbracht worden. Die pauschale Angabe der L GmbH über eine regelmäßige Beförderungszeit von einem Tag überzeuge nicht. Schließlich zeigten auch die praktischen Erfahrungen des Prozessbevollmächtigten, dass die Postlaufzeiten von Schreiben des Landesverwaltungsamtes in S an ihn bei Beförderung mit dem geleichen Dienstleister erheblich länger als einen bis drei Tage, zuweilen bis zu zehn Tagen, betragen.

Der Beklagte erwidert, ein ordnungsgemäßer Versand des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2019 am Folgetag sei vom Thüringer Landesverwaltungsamt nachgewiesen worden. Es bestünden keine Zweifel an der Anwendbarkeit von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X.

Mit Schriftsätzen vom 18. Mai 2020 und 3. Juni 2020 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten haben hierzu ihr Einverständnis erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die Klage hat keinen Erfolg, sie ist bereits unzulässig. Der Kläger hat mit seiner am 19. März 2019 erhobenen Klage die Klagefrist nicht eingehalten.

Voraussetzung für die Zulässigkeit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, wie sie vorliegend zutreffender Weise vom Kläger gegen den Bescheid vom 12. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2019 erhoben wurde (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG), ist u. a. die Wahrung der einmonatigen Klagefrist nach § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG.

Nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Hat - wie hier - ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (§ 87 Abs. 2 SGG).

Die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes ist die zielgerichtete Mitteilung des Inhalts des Verwaltungsakts durch die Behörde an den Bekanntgabe-Empfänger. Ein Verwaltungsakt ist demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden (§ 37 Abs. 1 SGB X). Auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Empfängers kommt es nicht an, es genügt, dass er nach dem normalen Verlauf der Umstände die Möglichkeit hatte, Kenntnis zu nehmen (vgl. nur BSG, Urteil vom 4. September 2013 - B 10 EG 7/12 R; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 6, 7). Eine bestimmte Form der Bekanntgabe, insbesondere eines Widerspruchsbescheides, ist nicht vorgeschrieben (vgl. § 37 SGB X, § 85 Abs. 1 Satz 1 SGG). Wählt die Behörde die förmliche Zustellung, sind nach § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG die §§ 2 bis 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) anzuwenden (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 9. Dezember 2008 - B 8/9b SO 13/07 R). Im Übrigen findet § 37 SGB X Anwendung.

Eine wirksame Bekanntgabe erfolgte hier unter Verzicht auf eine förmliche Zustellung durch Übersendung des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2019 mittels eines einfachen Briefes an den - seinerzeit nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten - Kläger persönlich durch die Post bzw. einen Postdienstleister. Der Widerspruchsbescheid war insofern mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung im Sinne des § 66 SGG versehen, wobei es unschädlich ist, dass dieser nicht auf den Inhalt des § 37 Abs. 2 SGB X hinweist (zu abweichenden Anforderungen an die Rechtsmittelbelehrung für den Fall der förmlichen Zustellung vgl. BSG, Urteil vom 9. Dezember 2008 - B 8/9b SO 13/07 R).

Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Schriftstück ist dann zur Post aufgegeben, wenn es beim Postamt abgegeben worden ist bzw. beim Einwurf in den Briefkasten mit dessen Leerung (Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 29). Der Widerspruchsbescheid wurde hier nachweislich am 15. Februar 2019, einem Freitag, zur Post gegeben. Nach der Zugangsvermutung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt er dem Kläger am 18. März 2019, einem Montag, als bekannt gegeben. Die Versendung des Widerspruchsbescheides wurde - als Voraussetzung für die Anwendung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X - auch ordnungsgemäß dokumentiert, insbesondere war der 15. Februar 2019 als Tag der Aufgabe zur Post auf dem in der Akte des Beklagten befindlichen Exemplar sowie in der elektronisch geführten Akte vermerkt und erfolgte - nach der Auskunft des Thüringer Landesverwaltungsamtes - an diesem Tag auch tatsächlich auf der Hauptpost S die Übergabe des Briefes an den Postdienstleister L GmbH, so dass dieser die Behörde verlassen hat. Somit begann die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG am Dienstag, dem 19. Februar 2019 und endete am Montag, den 18. März 2019 (vgl. § 64 Abs. 1, Abs. 2 SGG). Die Klage ging jedoch erst am Dienstag, den 19. März 2019 mit einem Schriftsatz vom gleichen Tag bei Gericht (vorab per Fax) ein.

Entgegen der Ansicht des Klägers liegen hier keine Gründe vor, die eine Anwendung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X ausschließen. Im Besonderen schadet die Beauftragung eines anderen privaten Postdienstleisters, als der D P AG, mit der Beförderung des Widerspruchsbescheides nicht. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt der mit einem einfachen Brief übermittelte Verwaltungsakt mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, wobei § 37 Abs. 2 SGB X den Begriff "Post" nicht definiert. Sicherlich ging der Gesetzgeber bei Fassung der Norm (Gesetz vom 18.8.1980, BGBl. 1980, 1469) von der damals allein tätigen D B, als einem hoheitlich tätigen Dienstleister aus, so dass sich - bei unverändert gebliebenem Gesetzeswortlaut - nach der Liberalisierung des Postmarkes die Frage stellt, inwieweit der Begriff funktional in dem Sinne verstanden werden kann, dass alle mit der Briefbeförderung befassten Dienstleister eingeschlossen werden (vgl. hierzu Littmann in Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 37 SGB X Rn. 30). Ausgangspunkt der Vermutungsregelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X war die Unterstellung einer hinreichenden Verlässlichkeit der Postbeförderung durch die D B durch Vorhaltung einer zuverlässigen Organisationsstruktur. Eine solche Verlässlichkeit kann heute jedenfalls auch für die Postdienstleister angenommen werden, die berechtigt sind, Zustellungen im Sinne des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorzuneh-men. Nach § 2 Abs. 2 VwZG sind dies u. a. Erbringer von Postdienstleistungen (Post). Postdienstleistungen sind nach § 4 Nr. 1 Postgesetz (PostG) u. a. gewerbsmäßig erbrachte Dienstleistungen, die die Beförderung von Briefsendungen beinhalten. Im Regelfall benötigt der Dienstleister hierfür eine Lizensierung nach § 5 Abs. 1 iVm § 6 PostG. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 PostG ist die Lizenz zu versagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller für die Ausübung der Lizenzrechte nicht die erforderliche Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Fachkunde besitzt. Weiter konkretisierend bestimmt § 6 Abs. 3 Satz 2 PostG, dass die erforderliche Leistungsfähigkeit besitzt, wer die Gewähr dafür bietet, dass ihm die für den Aufbau und den Betrieb der zur Ausübung der Lizenzrechte erforderlichen Produktionsmittel zur Verfügung stehen werden (Nr. 1); Zuverlässigkeit besitzt, wer die Gewähr dafür bietet, dass er als Lizenznehmer die Rechtsvorschriften einhalten wird (Nr. 2) und Fachkunde besitzt, wer die Gewähr dafür bietet, dass die bei der Ausübung der Lizenzrechte tätigen Personen über die erforderlichen Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten verfügen werden. Die §§ 5, 6 PostG zeigen, dass im Zusammenhang mit einer (Post-) Lizensierung Prüfungen von zuverlässigen Organisationsstrukturen vorgenommen werden, die es erlauben allen nach diesen Vorschriften lizensierten Postdienstleistern die von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X vorausgesetzte Zuverlässigkeit zuzuerkennen. Sofern der Kläger vorgetragen hat, dass im Rahmen der Lizensierung keine Prüfung der Postlaufzeiten erfolge, trifft dies zwar zu, primärer Anknüpfungspunkt der Vermutungsregelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist aber nicht die tatsächliche Einhaltung einer regelmäßigen Postlaufzeit von drei Tagen als solche, sondern das Vorhalten einer Organisationsstruktur, welche die Annahme rechtfertigt, dass innerhalb dieser Zeit im Regelfall eine Postbeförderung bis zum Empfänger realisiert werden kann. Vor dem Hintergrund der Regulierungs- und Lizen-sierungsmechanismen des PostG rechtfertigt sich die Anwendung der Vermutungsregelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X danach jedenfalls dann, wenn die Beförderung des bekanntzugebenden Verwaltungsaktes mittels eines lizensierten Postdienstleisters erfolgt (so auch VG Aachen, Urteil vom 21. Juni 2016 - 2 K 1542/13; Littmann in Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 37 SGB X Rn. 30; Pattar in jurisPK-SGB X, § 37 Rn. 95).

Der hier von der Widerspruchsbehörde in Anspruch genommene Postdienstleister L GmbH verfügt nachweislich (abrufbar unter https://www.bundesnetzagentur.de) über eine Postlizenz, so dass die Voraussetzungen für die Anwendung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X erfüllt sind. Entgegen dem Vortrag des Klägers steht dem auch nicht entgegen, dass die L GmbH den Posttransport von S bis zum Wohnsitz des Empfängers in N nicht vollständig selbst realisiert, sondern in Kooperation mit der E GmbH & Co KG. Die Bedenken, die der Kläger unter Verweis auf die Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 14. Juni 2018 - III R 27/17) vorgetragen hat, teilt die Kammer nicht. Zunächst geht auch der BFH in seiner Entscheidung davon aus, dass unter "Aufgabe zur Post" - bezogen auf die parallele Regelung in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO - auch die Übermittlung eines Ver-waltungsaktes durch einen privaten Postdienstleister verstanden werden kann. Im Fall der Einschaltung eines Subunternehmers sieht der BFH sodann Bedarf für weitere Prüfungen in Bezug auf die organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen (vgl. BFH, Urteil vom 14. Juni 2018 - III R 27/17). Diese Rechtsprechung ist auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt bereits deshalb nicht übertragbar, weil die L GmbH nach ihren Auskünften im Verfahren keinen nichtlizensierten Subunternehmer, sondern mit der E GmbH & Co KG ein ebenfalls lizensiertes Partnerunternehmen herangezogen hat. Un-abhängig davon, dass der von der L1 GmbH mit Schreiben vom 14. Februar 2020 dargestellte konkrete Ablauf der Postbeförderung beginnend ab den Posteingang bis zur Zustellung beim Empfänger auch unter Einbezug des Partnerunternehmens keine offensichtlichen organisatorischen Mängel erkennen lässt, sieht die Kammer keine Veranlas-sung für weitere Ermittlungen im Hinblick auf Zuverlässigkeit und Organisationsstrukturen bzw. den tatsächlichen regelmäßigen Postlaufzeiten bei einer Briefbeförderung durch die L1 Paket GmbH. Für die Anwendung der Fiktionsregelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist es ausreichend, wenn der von der Behörde mit der Briefbeförderung beauftragte private Postdienstleister über eine Lizensierung nach dem PostG verfügt, denn die Lizensierungsprüfung schließt u. a. die Prüfung der Gewähr ein, dass dem Dienstleister die für Aufbau und Betrieb der zur Ausübung der Lizenzrechte erforderlichen Produktionsmittel zur Verfügung stehen. Eine darüber hinausgehende Zuverlässigkeitsprüfung des jeweiligen Postanbieters im Einzelfall wird § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht gerecht und erweist sich auch nicht als erforderlich. Der Empfänger eines mit einem einfachen Brief bekannt gegebenen Verwaltungsaktes ist durch die in § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorgesehene Ausnahmeregelung hinreichend geschützt. Die Ausnahmeregelung stellt sicher, dass dem Adressaten keine Nachteile entstehen, wenn die Bekanntgabe entgegen der Fiktion tatsächlich erst später erfolgt, im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.

Die Anwendung der Zugangsvermutung scheitert vorliegend nicht an der Ausnahmeregelung des § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Weder ist der Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2019 dem Kläger nicht oder (nachweislich) zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen, noch bestehen Zweifel, die die Behörde durch Nachweis des Zeitpunkts des Zugangs ausräumen müsste. Der Zugangszeitpunkt ist nur dann von der Behörde nachzuweisen, wenn der Empfänger die Zugangsvermutung durch entsprechenden Tatsachenvortrag erschüttert. Macht der Empfänger - wie hier der Kläger - einen späteren Zugang eines einfachen Briefes geltend, erfordert das die substantiierte Darlegung von Tatsachen, aus denen schlüssig die nicht nur entfernt liegende Möglichkeit hervorgeht, dass ein Zugang des Verwaltungsaktes erst nach dem von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X vermuteten Zeitpunkt erfolgte (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2007 - B 13 R 4/06 R, Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 33). Die Anforderungen an die Substantiierungspflicht dürfen nicht überspannt werden, vage unsubstantiierte Angaben oder ein Bestreiten ohne Angaben von Gründen führen jedoch nicht zu Zweifeln an der Fiktionswirkung (vgl. BSG, Urteil vom 9. Dezember 2008 - B 8/9b SO 13/07 R; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 37 Rn. 33).

Ein solcher substantiierter Vortrag erfolgte im Verfahren nicht. Der Kläger hat lediglich mitgeteilt, er könne den Zugang des Widerspruchsbescheides am 20. Februar 2019 bestätigen bzw. dass er ihn am 19. Februar 2019 noch nicht erhalten hatte. Er beschreibt weder Tatsachen noch Gesamtumstände, die selbst bei geringsten Anforderungen an die Substantiierungspflicht geeignet sind, berechtigte "Zweifel" im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 SGB X zu begründen. Statt zumindest schlüssig einen abweichenden Geschehensablauf darzustellen, der geeignet ist, die Möglichkeit eines späteren Zugangs des Widerspruchsbescheides zu begründen, beschränkt er sich im Wesentlichen darauf, einen Zugang innerhalb der dreitätigen Frist der Zugangsvermutung zu bestreiten. Auch wenn vorliegend die Aufgabe zur Post an einem Freitag (15. Februar 2019) erfolgte, kann - mangels anderweitiger konkreter Anhaltspunkte - angesichts typischer Postbeför-derungszeiten sowohl durch die D P AG als auch andere regionale private lizensierte Postdienstleister bei einem einfachen Brief davon ausgegangen werden, dass er spätes-tens am Montag, den 18. Februar 2019, zugegangen ist. Hieran ändern auch die vom Prozessbevollmächtigten mitgeteilten Erfahrungen mit Postlaufzeiten, den Postverkehr mit dem Thüringer Landesverwaltungsamt in S betreffend nichts, denn § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X beinhaltet nur eine Vermutung und schließt eine im Einzelfall längere Postlaufzeit nicht aus. Genau deshalb sieht § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X deren Nichtanwendbarkeit in den Fällen vor, in denen begründete Zweifel an einem Zugang innerhalb von drei Tagen bestehen. Insofern hätte es beim Kläger gelegen, seinen Vortrag zu substantiieren.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist nach § 67 SGG kommt nicht in Betracht. Es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass der Kläger ohne Verschulden gehindert war, die Klagefrist einzuhalten.

Die Klage war daher wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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