S 5 R 254/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 5 R 254/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 388/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 16/17 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Berechnung der Rente Die 1961 geborene Klägerin bezieht seit dem 01.06.2007 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die ihr unter anderem aufgrund eines Anerkenntnisses mit Bescheid vom 19.10.2009 bewilligt wurde. Die monatliche Höhe der Rente betrug ab dem 01.12.2009 1.034,34 EUR, darüber hinaus erhielt die Klägerin über 30.000,00 EUR Nachzahlung. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Rentenbescheid vom 19.10.2009, Band II der Akte der Beklagten, Bezug genommen.

Dagegen legte die damals noch durch den VdK vertretene Klägerin am 16.11.2009 Widerspruch ein. Sie wandte sich dagegen, dass die Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfaktor von 1,0 abschlägig ausgerechnet werde. Zur Begründung des Widerspruchs trugen die damaligen Bevollmächtigten vor, dass nach dem 01.06.2009 die Renten wegen voller Erwerbsminderung mit einem Rentenabschlag (Minderung des Zugangsfaktors) gezahlt würden. Das Bundessozialgericht habe in 2006 entschieden, dass bei solchen Personen, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine volle Erwerbsminderung oder eine teilweise Erwerbsminderung hätten und Rente bezögen eine Minderung des Zugangsfaktors rechtswidrig sei. § 77 SGB VI schließe ausdrücklich einen Rentenabschlag bei einem Recht auf eine Erwerbsminderungsrente für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus. Einvernehmlich wurde mit Blick auf verfassungsrechtliche Rechtsprechung das Ruhen des Widerspruchsverfahrens vereinbart.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.07.2012 wies die Beklagte den Widerspruch gegen die Minderung des Zugangsfaktors zurück. Sie führte aus, dass die im angefochtenen Bescheid bewilligte Rente zutreffend unter Berücksichtigung eines geminderten Zugangsfaktors mit einem Abschlag berechnet worden seien. Renten wegen einer verminderten Erwerbsfähigkeit könnten bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 63. Lebensjahres um einen Abschlag gemindert werden. Dieser Abschlag bestimme sich über den sogenannten Zugangsfaktor. Der Zugangsfaktor von 1,0 werde um 0,3 % pro Monat der Inanspruchnahme der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres höchstens jedoch um 10,8 % gemindert. Das ergäbe sich aus § 77 SGB III. Die Minderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten sei mehrfach Gegenstand sozialgerichtlicher Verfahren und auch zweier Verfahren beim Bundesverfassungsgericht gewesen. Das Bundesverfassungsgericht habe nun entschieden, dass die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Bundesverfassungsgericht komme zu dem Ergebnis, dass die Minderung geeignet sowie erforderlich gewesen sei, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung sicherzustellen und die Betroffenen im Übrigen nicht übermäßig belaste. Darüber hinaus könne bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht nur der Zugangsfaktor vermindert werden, sondern auch die Zurechnungszeit zeitgleich aufgewertet werden. Die Minderung belaste die Versicherten damit nicht übermäßig. Die Berücksichtigung des geminderten Zugangsfaktors bei der Rentenberechnung der Klägerin sei daher rechtens.

Der Widerspruchsbescheid war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung wie folgt versehen: "Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe bei dem für Sie zuständigen Sozialgericht schriftlich Klage erheben. Sie können sich aber auch an den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dieses Gerichts wenden und Ihre Klage schriftlich aufnehmen lassen".

Am 12.07.2013 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Sie erhebe Klage gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund, da diese ihre geringe Erwerbsminderungsrente mit dem Höchstabschlag von 10,8 % berechnet habe. Die Handhabe sei ungerecht und nicht akzeptabel, da sie sich nach fast 30 Jahren Arbeit weder ihre Krankheit noch den Schweregrad ihrer Krankheit ausgesucht habe. Das BSG habe in Gestalt des 4. Senats am 16.05.2006 entschieden, dass die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten gesetzes- und verfassungswidrig seien. Bestehende Gesetzgebung werde permanent ignoriert. Auch nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes halte sie an ihrer Klage fest. Die allgemeine Gesetzeslage könne sich wieder ändern.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 19.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.07.2012 aufzuheben und ihr eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Rentenabschlag auszuzahlen (Zugangsfaktor 1,0).

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Klage sei zulässig, obwohl sie nicht in der Widerspruchsfrist von einem Monat erhoben sei. Der Widerspruchsbescheid enthalte eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung von einem Jahr, ohne das entsprechende Sozialgericht Kassel zu nennen.

Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht im Januar 2011 in zwei Entscheidungen entschieden, dass die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und zwei Band Rentenakten der Beklagte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg, denn die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass ihre Erwerbsminderungsrente mit dem Zugangsfaktor 1,0 berechnet wird. Der Rentenbescheid erweist sich als rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht.

Die Kammer durfte gemäß § 105 Abs. 1 SGG durch Gerichtsbescheid in Beschlussbesetzung entscheiden, nachdem das Gericht die Beteiligten zuvor entsprechend angehört hat und ihnen auch eine angemessene Frist zur Stellungnahme eingeräumt worden ist und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt darüber hinaus in dem Umfang, in dem er für die Entscheidung des Gerichts allein rechtlich relevant ist, auch hinreichend geklärt ist. Der Gerichtsbescheid wirkt insoweit als Urteil.

Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig erhoben noch innerhalb der Jahresfrist. Die Beklagte hatte den Widerspruchsbescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrungsfrist von einem Jahr versehen und diesen Bescheid offensichtlich nicht öffentlich bekannt gegeben, sondern einfach zugestellt. Gemäß § 66 Abs. 2 SGG ist sodann die Jahresfrist für die Erhebung der Klage maßgeblich, die vorliegend mit dem Klageeingang am 12.07.2013 eingehalten wurde.

Die Klage bleibt allerdings in der Sache ohne Erfolg, denn der angefochtene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids erweist sich als rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass ihre Erwerbsminderungsrente mit einem höheren Betrag berechnet wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist die Kammer auf den zutreffenden Widerspruchsbescheid, der in rechtlicher Hinsicht zutreffend unter Bezugnahme auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausführt, dass der verminderte Zugangsfaktor bei der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente gemäß § 77 SGB VI verfassungswidrig ist. Dafür, dass die Beklagte die Rente nach diesem Maßgaben fehlerhaft berechnet hat, bestehen weder Anhaltspunkte nach Aktenlage, noch hat die Klägerin hierzu etwas substantiiert vorgetragen.

Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass in der Nachfolge der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung das Bundessozialgericht zum Beispiel in seiner Entscheidung vom 28.09.2011, B 5 R 18/11 R, ausgeführt hat, dass im Ergebnis der Zugangsfaktor bei der Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres mit dem Grundgesetz vereinbar sei, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginne.

Das Bundessozialgericht führt wie folgt aus: "Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement persönlichen EP, dessen Höhe in § 77 SGB VI näher geregelt ist, hier in der ab dem 01.01.2001 geltenden und zum 01.01.2002 neu bekannt gemachten Fassung Danach richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod und bestimmt, ob die vom Versicherten während des Erwerbslebens erzielten EP in vollem Umfang oder nur zu einem Anteil bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für EP, die noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren, gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahr in Anspruch genommen wird um 0,03 niedriger als 1,0 Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 SGB VI ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt."

Dem schließt sich die erkennende Kammer vollumfänglich mit Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Einklang mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an.

Dafür, dass die Beklagte bei der Ermittlung des Zugangsfaktors bei der Rentenberechnung der Klägerin eine falsche Berechnung angestellt hat, sind in der Akte und nach dem Vortrag der Klägerin keinerlei Anhaltspunkte zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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