L 11 R 853/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 3219/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 853/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.01.2020 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1965 geborene Klägerin ist gelernte Friseurmeisterin und Mutter von vier Kindern (geboren 1989, 1994, 1996 und 1998). Bis 05.09.1994 war sie in ihrem Beruf versicherungspflichtig beschäftigt. In ihrem Versicherungsverlauf (vom 11.07.2018) sind Pflichtbeitragszeiten wegen Kindererziehung bis 31.10.2003 und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung bis 31.12.2007 gespeichert. Ein Grad der Behinderung von 100 vH ist anerkannt. Nach Scheidung der Ehe wurden der Klägerin im Wege des Versorgungsausgleichs von dem geschiedenen Ehemann 25,5638 Entgeltpunkte bezogen auf den 31.08.2017 übertragen, im Gegenzug hatte sie an ihren Ehemann 7,1913 Entgeltpunkte abzugeben (Beschluss Amtsgericht Tübingen vom 25.06.2018, Az: 7 F 646/17, rechtskräftig ab 10.08.2018).

Vom 18.04. bis 13.06.2013 befand sich die Klägerin in stationärer Rehabilitation in B. S. Aus dem Reha-Entlassbericht gehen folgende maßgebliche Diagnosen hervor: &61485; Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom &61485; psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: schädlicher Gebrauch, &61485; Bulimia nervosa &61485; Dysarthrie und Anarthrie &61485; bösartige Neubildung: Zunge nicht näher bezeichnet. Es wurde eingeschätzt, dass weder eine Tätigkeit als Friseurin noch sonstige Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als drei Stunden ausgeübt werden könnten.

Die Klägerin beantragte ohne Erfolg Rente wegen Erwerbsminderung am 07.12.2011 (abgelehnt mit Bescheid vom 14.12.2011) und am 13.10.2015 (abgelehnt mit Bescheid vom 19.10.2015).

Am 16.02.2018 stellte die Klägerin den streitigen Rentenantrag. Zur Begründung führte sie aus, dass sie durch Entfernung einer Zungenhälfte extreme Sprachschwierigkeiten und Kommunikationsprobleme habe, zudem sei sie seit ca 2009 alkoholabhängig.

Mit Bescheid vom 11.07.2018 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass bereits die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Klägerin sei seit dem 11.05.2011 dauerhaft voll erwerbsgemindert. Aufgrund von Kindererziehungszeiten sei für die erforderliche 3/5-Belegung hier der Zeitraum vom 01.03.2002 bis zum 10.05.2011 maßgeblich. In diesem Zeitraum habe die Klägerin allerdings nur 20 Monate mit Pflichtbeiträgen vorzuweisen, sodass die Voraussetzungen für den Erhalt einer Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt seien.

Mit ihrem am 25.07.2018 erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie sei seit 2009 dauerhaft voll erwerbsgemindert. Nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Berichte durch den sozialmedizinischen Dienst wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.11.2018 zurück. Es ergäben sich keine Hinweise darauf, dass der Leistungsfall früher eingetreten sei.

Hiergegen richtet sich die am 03.12.2018 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobene Klage. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Klägerin durch die vollzogene Scheidung weitere 520 Monate Wartezeiten erhalten habe, sodass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nun erfüllt sein dürften. Soweit die Beklagte darauf hingewiesen habe, dass übertragene oder begründete Rentenanwartschaften aus Versorgungsausgleich nicht mit den nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) geforderten Pflichtbeiträgen gleichzusetzen seien und diesbezüglich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) verweise, sei auszuführen, dass diese ältere Rechtsprechung gerade nicht die geänderte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Bereich Ehescheidung berücksichtige. Nach der geänderten Rechtsprechung des BGH sei jetzt die Haushaltsleistung mit der Arbeitsleistung gleichzustellen. Daraus ergebe sich, dass die vom arbeitenden Ehepartner erwirtschafteten Pflichtbeiträge auch im Rahmen des Versorgungsausgleichs als Pflichtbeiträge bei dem Ehepartner, der sich maßgeblich um den Haushalt und die Kindererziehung gekümmert habe, als solche zu berücksichtigen seien. Andernfalls läge hierin ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und ein Verstoß gegen die Geschlechterdiskriminierung vor, da es maßgeblich Frauen seien, die nicht berufstätig sind und sich stattdessen um den Haushalt und die Erziehung der Kinder kümmern. Diese Frauen würden schlechter gestellt, wenn die übertragenen Monate im Rahmen des Versorgungsausgleiches nicht die gleiche Qualität hätten wie bei dem arbeitenden Ehepartner.

Mit Urteil vom 21.01.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente seien nicht erfüllt, denn die sog 3/5-Belegung des § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 bzw Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI sei in dem dafür einschlägigen Zeitfenster nicht erfüllt. Ausgehend von einem Leistungsfall am 11.05.2011 und unter Berücksichtigung der zurückgelegten Kindererziehungszeiten sei der hier eigentlich einschlägige 5-Jahres-Zeitraum von der Beklagten zutreffend verlängert worden auf den Gesamtzeitraum 01.03.2002 bis 10.05.2011. In diesem Zeitraum seien jedoch nur 20 der erforderlichen 36 Kalendermonate mit Pflichtbeitragszeiten nachgewiesen. Anhaltspunkte, dass der Leistungsfall früher eingetreten sein sollte, lägen nicht vor. Vielmehr gehe aus dem Entlassbericht von Juni 2013 hervor, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt noch leichte körperliche Arbeiten hätte verrichten können. Insoweit sei die Beklagte bereits zugunsten der Klägerin von einem früheren Leistungsfall ausgegangen. Mit den Zeiten aus dem Versorgungsausgleich könne die 3/5-Belegung nicht erfüllt werden. Insoweit schließe sich das SG dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen (23.02.2018, L 14 R 758/16) an. Soweit die Klägerin geltend mache, dass sie dadurch diskriminiert werde, dass die übertragenen Zeiten bei ihr nicht als Pflichtbeitragszeiten gewertet würden, bei ihrem geschiedenen Mann aber sehr wohl, sei dieser Argumentation nicht zu folgen. Eine Ungleichbehandlung würde vielmehr vorliegen, wenn nach einer Scheidung die im Rahmen des Versorgungsausgleichs erhaltenen Zeiten als Pflichtbeitragszeiten berücksichtigt würden. Dadurch würde ein Ehepartner, der sich maßgeblich um die Kindererziehung gekümmert habe und daher keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen sei, im Falle der Scheidung bessergestellt als bei Fortführung der Ehe. Gerade dies wäre eine Ungleichbehandlung iSv Art 3 Grundgesetz (GG). Der Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung des BGH zum Scheidungsfolgenrecht im Jahr 2006 führe nicht dazu, dass die aus dem Versorgungsausgleich stammenden Zeiten als Pflichtbeitragszeiten anzuerkennen wären. Der BGH habe sich zu dieser Frage nicht geäußert und der Gesetzgeber entsprechende Änderungen bei den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 SGB VI nicht vorgenommen.

Gegen das ihrer Bevollmächtigten am 12.02.2020 zugestellte Urteil richtet sich die am 11.03.2020 eingelegte Berufung der Klägerin. Mit Bescheid der Beklagten vom 03.05.2019 sei mitgeteilt worden, dass seit 01.01.2019 eine Erhöhung der zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten für die vor 1992 geborenen Kinder um bis zu sechs Kalendermonate möglich sei. Ausgeführt werde, dass als Zeiten der Kindererziehung zusätzlich die Zeit vom 01.02.2001 bis 31.10.2003 vorgemerkt sei. Damit sei die Vorversicherungszeit unabhängig von den in erster Instanz getätigten Argumenten erfüllt. Zudem habe die Klägerin seit Beginn des Jahres 2007 regelmäßig Alkohol im abhängigen Muster konsumiert. Anzunehmen sei daher, dass sie bereits seit Februar 2007 wegen Alkoholabhängigkeit und psychischer Erkrankung nicht mehr arbeitsfähig gewesen sei, spätestens aber seit 01.11.2009 mit dem Beginn der erstmaligen stationären Behandlung. Dies ergebe sich aus dem Bericht des U. vom 18.08.2020 mit der Darstellung des damaligen Verlaufs. Auf die ausführliche Darlegung der Bevollmächtigten der Klägerin im Schriftsatz vom 27.10.2020 wird insoweit Bezug genommen. Die Symptome und körperlichen Vorkommnisse wiesen darauf hin, dass bereits 2009 der Versicherungsfall eingetreten sei. Zu diesem Zeitpunkt seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Hinsichtlich des Versorgungsausgleichs bleibt die Klägerin bei ihrer in erster Instanz dargelegten Rechtsauffassung.

Die Klägerin beantragt:

Das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.01.2020 und der Bescheid der Beklagten vom 11.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2018 werden aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin volle Erwerbsminderungsrente ab dem 16.02.2018 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Durch die Änderung des § 249 Abs 1 SGB VI bestehe kein Anspruch auf die begehrte Rente. Zum einen sei die Rechtsgrundlage zum Eintritt des Leistungsfalls am 11.05.2011 maßgeblich; die Rechtsänderung habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegolten. Zum anderen führe die Neuregelung dazu, dass basierend auf der Geburt des Kindes am 1989 die Lebensmonate 25 bis 30 zusätzlich als Pflichtbeitragszeiten gelten, also die Zeit vom 01.03.1991 bis 31.08.1991. Auch die Streckung des 5-Jahres-Zeitraums, der wegen Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung im Zeitraum Mai 2006 bis Dezember 2007 hier am 01.03.2002 beginne, bleibe von der gesetzlichen Neuregelung unberührt. Hinsichtlich der Feststellung zu den zusätzlichen Kindererziehungszeiten entspreche der Bescheid vom 03.05.2019 exakt dem Bescheid vom 05.07.2014 (damals zu den Lebensmonaten 13 bis 24 des am 1989 geborenen Kindes als zusätzliche Pflichtbeitragszeiten), woraus sich ebenfalls ersehen lasse, dass die Neuregelung ohne Einfluss auf die versicherungsrechtliche Beurteilung bleibe.

Der Senat hat ergänzend behandelnde Ärzte der Klägerin von der Universitätsklinik T. sowie der dortigen Zahnklinik und den Hausarzt Dr. W. zum Zeitraum 2007 bis Mai 2011 schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Dr. W. hat mitgeteilt, dass die Klägerin erst seit 2013 seine Patientin sei; mehr als die beigefügten Unterlagen sei für den angefragten Zeitraum nicht vorhanden (Entlassungsbericht U. vom 16.05.2011 mit Arztbrief; Kurzbefund Orthopäde Dr. K. vom 08.09.2008, jeweils gerichtet an den vorherigen Hausarzt Dr. S.). Für das U. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik, haben Prof. Dr. E. und Dr. W. die Berichte über stationäre Behandlungen vom 25.10. bzw 01.11. bis 23.11.2009 (Entgiftungsbehandlung) und vom 26.03. bis 01.04.2011 (Entgiftungsbehandlung) sowie eine teilstationäre Behandlung vom 11.04. bis 09.05.2011 vorgelegt. In der Zahnklinik der U. wurde die Klägerin nach der Aussage von Prof. Dr. R.(Schreiben vom 15.09.2020) erstmals am 02.05.2011 behandelt; es wurde ein Plattenepithelkarzinom am Zungenrand links festgestellt.

Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 29.09.2020 auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter hingewiesen worden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter zurück, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden. Gründe für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung haben sie nicht angegeben.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 11.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Ein Leistungsfall der Erwerbsminderung ist frühestens im Mai 2011 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt erfüllt die Klägerin jedoch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI. Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3).

Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt.

Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Bei der Klägerin ist vom Eintritt einer vollen Erwerbsminderung erst im Mai 2011 auszugehen. Maßgebend hierfür ist das am 02.05.2011 im Rahmen eines zahnmedizinischen Konzils während teilstationärer Behandlung diagnostizierte Plattenepithel-Karzinom. Im Bereich Zunge und Mundboden erfolgte eine Tumorresektion und Halslymphknotenausräumung. Vorübergehend bestand eine Tracheotomie. In mehreren Operationen wurde die Zunge gelöst und eine Kieferprothese eingesetzt, die Ernährung erfolgte zeitweise über eine PEG-Sonde. In der Folge war die Klägerin geschwächt und körperlich kaum belastbar mit fortbestehenden Sprech- und Schluckstörungen, wie sich ua aus dem Entlassbericht der vom 18.04. bis 13.06.2013 durchgeführten Rehabilitation ergibt. In diesem Bericht wird entgegen der Ausführungen im angefochtenen Urteil nicht von einem sechsstündigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten ausgegangen, sondern von einem unter dreistündigen. Im Belastungstest (Ergometer) konnte die Klägerin auch zum Abschluss der Maßnahme maximal mit 45 Watt belastet werden. Erst nach weiteren Korrekturoperationen und erhaltener Abstinenz wurde nach den Ausführungen im Entlassbericht eine Rückkehr ins Berufsleben für denkbar erachtet. Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten hat insoweit nachvollziehbar den Eintritt einer vollen Erwerbsminderung im Mai 2011 angenommen. Ob es nachfolgend tatsächlich noch zu einer Besserung gekommen ist, bevor im Sommer 2016 ein Rückfall bezüglich der Alkoholabhängigkeit und damit eine weitere Verschlechterung eintrat, bedarf hier keiner weiteren Prüfung. Nur bei Eintritt einer Erwerbsminderung spätestens im Januar 2010 wären die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt. Ein früherer Leistungsfall als Mai 2011 lässt sich jedoch nicht feststellen.

Die Klägerin macht insoweit geltend, dass bereits seit 2007, spätestens 2009 eine Alkoholabhängigkeit bestanden habe. Tatsächlich wurde die Klägerin wegen ihrer Alkoholabhängigkeit mehrfach in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik der Universitätsklinik T. behandelt. Eine erste Aufnahme erfolgte notfallmäßig zur Entgiftung am 25.10.2009 mit nachfolgender stationärer Behandlung bis 23.11.2009. Eine weitere stationäre Behandlung erfolgte vom 26.03. bis 01.04.2011 mit anschließender teilstationärer Behandlung vom 11.04. bis 09.05.2011 – im Rahmen dieser Behandlung wurde die Krebserkrankung diagnostiziert. Die Klägerin blieb danach über Jahre abstinent. Ein Rückfall erfolgte erst 2016 mit erneuten stationären Behandlungen vom 24.08. bis 14.09.2016 und vom 29.11. bis 06.12.2016 (anschließend weiter teilstationär vom 07.12. bis 28.12.2016). Den Berichten der Universitätsklinik T. über die damaligen Behandlungen, die bereits der Beklagten im Widerspruchsverfahren vorlagen, lässt sich eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in den Jahren 2009 bis 2011 aufgrund der Alkoholabhängigkeit jedoch nicht entnehmen. Aus dem Bericht vom 11.01.2010 lässt sich entnehmen, dass bereits eine Leberschädigung bestand, die Klägerin ihre Erkrankung jedoch noch bagatellisierte. Die Entgiftung wurde erfolgreich durchgeführt und die Klägerin in stabilisiertem Zustand entlassen. Die nachfolgende Entgiftung im Jahr 2011 erfolgte wiederum erfolgreich, die Klägerin wurde aus der stationären Behandlung in gutem Allgemeinzustand am 01.04.2011 entlassen (Entlassbericht vom 06.04.2011). In der nachfolgenden tagesklinischen Behandlung wurde über einen positiven Verlauf der Behandlung berichtet. Die Klägerin zeigte sich durchweg engagiert und motiviert. Die Entlassung erfolgte wegen der erforderlichen Krebsbehandlung, die Klägerin zeigte sich bezüglich der Alkoholerkrankung jedoch ausreichend stabil und verneinte Gefahren eines Rückfalls (Entlassbericht vom 16.05.2011). Nachfolgend konnte die Klägerin über mehrere Jahre abstinent bleiben. Auch dies bestätigt, dass zum damaligen Zeitpunkt allein wegen der Alkoholabhängigkeit noch nicht von einer Erwerbsminderung ausgegangen werden konnte. Der Senat schließt sich insoweit der Einschätzung des beratungsärztlichen Dienstes der Beklagten an. Erst durch die Krebserkrankung und die nachfolgende langwierige Behandlung trat ab Mai 2011 eine Erwerbsminderung ein.

Der Sachverhalt ist damit aufgeklärt. Weitere Ermittlungen von Amts wegen kommen nicht in Betracht. Die Klägerin hat auf ausdrückliche Nachfrage, ob außer den vom Senat befragten Ärzten noch weitere Ärzte Auskunft über ihren Gesundheitszustand im Zeitraum 2007 bis Mai 2011 erteilen können, keine Angaben gemacht.

Ausgehend von einem Leistungsfall im Mai 2011 liegen jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 SGB VI nicht vor. Die Klägerin hat zwar die allgemeine Wartezeit (schon mit eigenen rentenrechtlichen Zeiten) erfüllt, jedoch in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht mindestens drei Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich nach § 43 Abs 4 SGB VI um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind: (1.) Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, (2.) Berücksichtigungszeiten, (3.) Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt, (4.) Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung. Aufgrund der Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums von Mai 2006 bis Dezember 2007 beginnt der verlängerte Fünf-Jahres-Zeitraum hier am 01.03.2002. Innerhalb des Zeitraums vom 01.03.2002 bis Anfang Mai 2011 hat die Klägerin jedoch nur 20 Kalendermonate mit anrechenbaren Pflichtbeitragszeiten wegen Kindererziehung zurückgelegt, nämlich vom 01.03.2002 bis 31.10.2003. Die nachträglich aufgrund der Änderung des § 249 Abs 1 SGB VI für das am 04.02.1989 geborene erste Kinder der Klägerin zusätzlich zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten können schon deshalb keine Auswirkung auf den hier streitigen Anspruch haben, weil sie die Zeit vom 01.03. bis 31.08.1991 betreffen und damit weit außerhalb des gestreckten Fünf-Jahres-Zeitraums liegen, der erst am 01.03.2002 beginnt. Dies wird auch bestätigt durch den aktuellen Versicherungsverlauf der Klägerin vom 11.05.2020.

Durch die Übertragung von Rentenanwartschaften im Wege des Versorgungsausgleichs kann die Klägerin die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI nicht erfüllen. Gesetzlich geregelt ist lediglich eine Anrechnung auf die Wartezeit gemäß § 52 SGB VI. Ist ein Versorgungsausgleich – wie hier – sowohl zugunsten als auch zu Lasten von Versicherten durchgeführt und ergibt sich hieraus nach Verrechnung ein Zuwachs an Entgeltpunkten, wird auf die Wartezeit die volle Anzahl an Monaten angerechnet, die sich ergibt, wenn die Entgeltpunkte aus dem Zuwachs durch die Zahl 0,0313 geteilt werden (§ 52 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Ohne dass rentenrechtliche Zeiten iSv § 64 SGB VI begründet werden (vgl Flecks in jurisPK-SGB VI, § 54 Rn 16), dient die Umrechnung nach der Formel des § 52 Abs 1 SGB VI dazu, dass mit den erworbenen Entgeltpunkten auch Rentenansprüche begründet werden können. Eine Zuordnung zu bestimmten Kalendermonaten findet nicht statt (vgl BT-Drs 11/4124 S 165). Eine Anrechnung auf sonstige versicherungsrechtliche Zeiten, insbesondere auf die hier erforderlichen Pflichtbeitragszeiten, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass im Wege des Versorgungsausgleichs übertragene Rentenanwartschaften nicht als "mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit" belegte Zeiten iSv § 43 SGB VI angesehen werden können (so zu den Vorläufervorschriften § 1246 Abs 2a Satz 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung und § 23 Abs 2a Satz 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz: BSG 31.05.1989, 4 RA 4/88, BSGE 65, 107 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 166; BSG 19.04.1990, 1 RA 63/89, SozSich 1991, 31; BSG 29.11.1990, 5 RJ 9/90, SozSich 1991, 319; BSG 03.12.1992, 13 RJ 29/91, FamRZ 1993, 1197 ff; zu § 43 SGB VI: BSG 25.11.1998, B 10 LW 5/98 R; vgl auch LSG Baden-Württemberg 08.04.2003, L 13 RA 4653/02; Bayerisches LSG 25.05.2011, L 13 R 831/10; LSG Nordrhein-Westfalen 23.02.2018, L 14 R 758/16). Es kommt dabei nicht darauf an, ob dem Versorgungsausgleich Pflichtbeitragszeiten zugrunde liegen, wie hier geltend gemacht wird (BSG 25.11.1998, aaO). Nach der gesetzgeberischen Konzeption erfolgt gerade keine Umbuchung von Versicherungszeiten, sondern eine Übertragung bloßer Werteinheiten.

Eine Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen der Klägerin ist nicht ersichtlich. Weder aus Art 6 Abs 1 GG noch aus Art 14 Abs 1 GG lässt sich herleiten, dass aufgrund von im Wege des Versorgungsausgleichs erworbenen Rentenanwartschaften ein aktueller rentenrechtlicher Versicherungsschutz auch für den Fall vorzeitig verminderter Erwerbsfähigkeit hätte geschaffen werden müssen, zumal die Klägerin über die Zahlung freiwilliger Beiträge diesen Versicherungsschutz hätte aufrechterhalten können (so bereits BSG 31.05.1989, aaO). Bereits das SG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Gleichstellung der übertragenen Rentenanwartschaften mit Pflichtbeiträgen eine nicht gerechtfertigte Privilegierung von Geschiedenen gegenüber Verheirateten bedeuten würde, denn diese können ihren Versicherungsschutz nur über die Zahlung freiwilliger Beiträge aufrechterhalten.

Es liegt schließlich auch keiner der gesetzlichen Ausnahmetatbestände vor, bei deren Vorliegen auf die 3/5-Belegung verzichtet wird. Einer der Tatbestände des § 43 Abs 5 iVm §§ 53, 245 SGB VI liegt hier ersichtlich nicht vor. Die Klägerin ist weder wegen einer der in Absatz 1 des § 53 SGB VI genannten Tatbestände vermindert erwerbsfähig geworden, noch ist sie angesichts eines Leistungsfalls 2011 nach Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung ihrer 1984 abgeschlossenen Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden im Sinne des § 53 Abs 2 SGB VI. § 245 SGB VI ist hier schon nicht einschlägig; diese Norm erfasst nur diejenigen Versicherten, die nach dem 31.12.1971 und vor dem 01.01.1992 vermindert erwerbsfähig geworden sind. Auch ein Tatbestand des § 241 Abs 2 SGB VI liegt nicht vor. Weder hat die Klägerin die allgemeine Wartezeit - und damit 5 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten - vor dem 01.01.1984 erfüllt, noch ist jeder Kalendermonat vom 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung (und damit bis 30.04.2011) mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften können zwar zur Wartezeiterfüllung dienen (§ 52 SGB VI), stellen jedoch weder rentenrechtliche Zeiten dar noch lassen sie sich bestimmten Zeiträumen zuordnen, wie bereits oben ausgeführt. Auch ein Tatbestand des § 43 Abs 6 SGB VI - Eintritt der vollen Erwerbsminderung vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit und Erfüllung der Wartezeit von 20 Jahren vor Rentenbeginn – liegt ersichtlich nicht vor. Die volle Erwerbsminderung ist schon nicht vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit eingetreten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved