S 22 AL 229/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 22 AL 229/20
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2020 in Fassung der Änderungsbescheide vom 17.06.2020 und 30.06.2020 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2020 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld I in gesetzlicher Höhe bereits ab 16.06.2020 zu gewähren.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit wird um Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Drittes Buch (SGB III) geführt. Es ist zwischen den Beteiligten Arbeitslosengeld I ab 16.06.2020 streitig.

Der Kläger besuchte seit September 2018 in Vollzeit die A. für Wirtschaft und Technik in der Fachrichtung Maschinenbau. Im Mai 2020 beantragte er wegen des bevorstehenden Ausbildungsendes ab dem 01.07.2020 Arbeitslosengeld I und stellte sich dem allgemeinen Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung. Die Zeugnisübergabe finde am 23.07.2020 statt.

Mit Bescheid vom 08.06.2020 bewilligte die Beklagte dem Kläger zunächst vorläufig Arbeitslosengeld I ab 23.07.2020 in Höhe von kalendertäglich 32,93 EUR. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Schulausbildung ende mit dem letzten Prüfungstag, weshalb ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehe.

Die letzte Prüfung fand am 15.06.2020 statt. Während der anschließenden Wartezeit auf das Prüfungsergebnis musste der Kläger nicht mehr in der Schule erscheinen und auch kein Praktikum machen. Deshalb meldete er sich gleich am 16.06.2020 telefonisch arbeitslos und beantragte mit sofortiger Wirkung Arbeitslosengeld I. Die Geschäftsstelle der zuständigen Agentur für Arbeit ließ wegen des Corona-Virus keinen Publikumsverkehr und damit keine persönliche Arbeitslosmeldung zu.

Mit Bescheid vom 17.06.2020 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld I bereits ab 16.06.2020 ab. Der Kläger sei Schüler mit einem Ausbildungsende am 22.07.2020. Deshalb könne er vermutlich nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben, weshalb er (in dieser Zeit noch nicht) nicht arbeitslos sei.

Am 26.06.2020 wurden dann die Prüfungsergebnisse bekanntgegeben. Der Kläger erlangte den Abschluss "Staatlich geprüfter Maschinenbautechniker".

Mit Änderungsbescheid vom 30.06.2020 bewilligte die Beklagte dem Kläger bereits ab dem Tag der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses am 30.06.2020 Arbeitslosengeld I.

Den Widerspruch wies sie nach Teilabhilfe mit Widerspruchsbescheid vom 01.07.2020 als unbegründet zurück. Der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass er neben dem Studium noch eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausüben könne. Er stehe nur mit Einschränkungen für solche Beschäftigungen zur Verfügung, die den Erfordernissen des Studiums angepasst seien. Eine Beschäftigung während der Dauer eines Studiums sei aber nach § 27 Abs. 4 SGB III versicherungsfrei, wenn sie nur die Nebensache und das Studium die Hauptsache darstelle. Der Kläger habe deshalb keine Möglichkeit, neben der Ausbildung noch eine versicherungspflichtige Beschäftigung auszuüben. Folgerichtig habe er den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit bis zur schriftlichen Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse nicht zur Verfügung gestanden. Er sei damit nicht arbeitslos im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 SGB III gewesen und habe deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Am 24.07.2020 hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben. Er begehrt Arbeitslosengeld I bereits ab dem 16.06.2020 (Tag nach der letzten Prüfung) anstatt erst ab dem 26.06.2020 (Tag nach Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses). Zur Begründung trägt er vor, er habe ab dem letzten Prüfungstag nicht mehr in der Schule erscheinen müssen, nichts mehr lernen müssen und habe sich dem Arbeitsmarkt voll und ganz zur Verfügung stellen können und auch gestellt.

Der Kläger beantragt sinngemäß:

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2020 in Fassung der Änderungsbescheide vom 17.06.2020 und 30.06.2020 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2020 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld I in gesetzlicher Höhe bereits ab 16.06.2020 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen weiterhin darauf, dass ein Arbeitslosengeldanspruch frühestens ab dem Zeitpunkt zu bewilligen sei, in dem das Prüfungsergebnis feststehe. Vorher sei der Kläger noch Schüler gewesen, so dass er eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht habe ausüben können. Das Gericht hat den Schulleiter schriftlich als Zeugen vernommen. Dieser hat erklärt, dass der Kläger seine letzte Prüfung am 15.06.2020 abgelegt habe. Auch wenn die Ausbildung offiziell mit der Zeugnisübergabe am 23.07.2020 geendet habe, so habe der Kläger während dieser Wartezeit nicht mehr in der Schule erscheinen müssen. Seiner Einschätzung nach wäre es ihm während des Wartens auf das Prüfungsergebnis bei ordnungsgemäßer Erfüllung der in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen möglich gewesen, eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung aufzunehmen. Letztlich habe er nach der letzten Prüfung nur noch zur Zeugnisübergabe erscheinen müssen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zugestimmt.

Die Leistungsakte der Beklagten ist beigezogen worden. Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird hierauf verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat vollumfänglich Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da alle Beteiligten ausdrücklich ihr Einverständnis erklärt haben.

Gegenstand dieses Rechtsstreites ist der Bescheid vom 08.06.2020 in Fassung der Änderungsbescheide vom 17.06.2020 und 30.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 01.07.2020, mit dem die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld I erst ab dem 26.06.2020 und nicht bereits ab 16.06.2020 vorläufig bewilligt hat.

Unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. nur BSG vom 06.04.2011, B 4 AS 119/10 R) war das Begehren des Klägers, der keinen konkreten Klageantrag gestellt hat, nach § 123 SGG so auszulegen wie im Tatbestand wiedergegeben.

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§§ 87, 90 und 92 SGG). Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

Die Klage ist begründet, weil dem Kläger Arbeitslosengeld I bereits ab dem Tag nach der letzten Prüfung und damit ab 16.06.2020 zusteht.

Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit ist § 137 Abs. 1 SGB III. Danach erhält die Leistung, wer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos meldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Arbeitslos ist nach § 138 Abs. 1 SGB III, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).

Strittig ist - da die Beklagte dem Kläger ab 26.06.2020 ohnehin Arbeitslosengeld I bewilligt hat - nur noch, ob der Kläger bereits nach Ablegen der letzten Prüfung den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestanden hat oder, wie von der Beklagten vertreten, erst ab dem Tag der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses.

Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht zur Verfügung, wer

1. eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie oder ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf, 2. Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann, 3. bereit ist, jede Beschäftigung im Sinne der Nummer 1 anzunehmen und auszuüben, und 4. bereit ist, an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen.

Bei Schülerinnen, Schülern, Studentinnen oder Studenten einer Schule, Hochschule oder sonstigen Ausbildungsstätte wird nach § 139 Abs. 2 SGB III vermutet, dass sie nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben können. Die Vermutung ist jedoch widerlegt, wenn die Schülerin, der Schüler, die Studentin oder der Student darlegt und nachweist, dass der Ausbildungsgang die Ausübung einer versicherungspflichtigen, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung bei ordnungsgemäßer Erfüllung der in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen zulässt.

Im vorliegenden Fall ist es unstreitig so, dass der Kläger am 16.06.2020 noch Schüler gewesen ist und damit gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 SGB III gesetzlich vermutet wird, dass er nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben konnte.

Die Kammer ist jedoch der Meinung, dass der Kläger diese gesetzliche Vermutung widerlegt hat, sodass er bereits nach dem letzten Prüfungstag für Vermittlungsbemühungen verfügbar gewesen ist. Er hat sich als Schüler am 16.06.2020 unmittelbar nach der letzten Prüfung persönlich arbeitslos gemeldet und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Einschränkungen auf Grund seiner Schülereigenschaft hat er weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich. Der Zeuge hat schriftlich bestätigt, dass der Kläger ab dem 16.06.2020 gar nicht mehr in der Schule habe erscheinen müssen und während des Wartens auf das Prüfungsergebnis eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung hätte ausüben können, ohne gegen die geltende Ausbildungs- und Prüfungsordnung zu verstoßen.

Der Kläger konnte die gesetzliche Vermutung auch widerlegen, obwohl er sein Prüfungsergebnis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gekannt hat und obwohl die Schulzeit offiziell noch nicht beendet gewesen ist. Bei Studenten ist nach Auffassung mehrerer Landessozialgerichte für die Zeit unmittelbar nach der Immatrikulation bis zum Beginn der Lehrveranstaltungen, also zu Beginn des Studiums, eine Widerlegung der Vermutung nach § 139 Abs. 2 Satz 2 SGB III möglich, wenn das bevorstehende Studium noch keinerlei Zeit in Anspruch nimmt (LSG Hessen v. 27.02.2015 - L 9 AL 148/13; LSG Hessen v. 21.09.2012 - L 7 AL 3/12; LSG Thüringen v. 22.02.2007 - L 3 AL 822/03). Warum dies am Ende einer schulischen Ausbildung anders sein soll, wenn der Schüler nach der letzten Prüfung nur noch auf das Prüfungsergebnis wartet und sich dem Arbeitsmarkt vollumfänglich zur Verfügung stellen kann und auch stellt, erschließt sich der Kammer nicht. Die Interessenlage ist vergleichbar.

Im Ergebnis war die Klage somit erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Berufung war nach § 144 SGG zuzulassen, weil bei den lediglich streitigen 10 Tagen die Berufungssumme nicht erreicht ist, gleichzeitig aber die hier entschiedene Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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