L 5 KR 198/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 34 KR 405/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 198/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 17/03 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.09.2002 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob der in den Niederlanden wohnhafte Kläger, der eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung erhält, berechtigt ist, während eines (vorübergehenden) Aufenthalts in Deutschland Sachleistungen zu Lasten der Beklagten in Anspruch zu nehmen.

Der am ...1947 geborene Kläger, der seit dem 01.09.1972 (freiwilliges) Mitglied der beklagten Krankenkasse ist, hat seit 1975 seinen Wohnsitz in den Niederlanden. Er bezieht seit 1992 eine Erwerbsunfähigkeitsrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.

Die Beklagte entschied durch Bescheid vom 28.09.1998, dass dem Kläger ab 01.01.1999 keine Leistungsansprüche mehr gegenüber der Beklagten zustünden, weil er sich in den Niederlanden aufhalte. Es bestehe lediglich gemäß Art. 28 Abs. 1 Buchstabe a EWG-Verordnung 1408/71 Anspruch auf Sachleistungen gegenüber dem Leistungsträger des Wohnortes zu Lasten der Beklagten.

Der Kläger wandte sich daraufhin mit Schreiben vom 19.11.1998 an die Beklagte, und bat darum klarzustellen, dass er weiterhin zur Inanspruchnahme von Leistungen zu Lasten der Beklagten in Deutschland berechtigt sei. Dies lehnte die Beklagte unter Hinweis auf den Bescheid vom 28.09.1998 ab (Bescheid vom 23.11.1998). Dagegen legte der Kläger am 16.12.1998 Widerspruch ein: Entgegen der Auffassung der Beklagten schließe § 16 Abs. 1 Nr. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) nicht die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland aus. Auch der Hinweis auf Art. 28 der EWG-Verordnung 1408/71 sei verfehlt. Diese Vorschrift begründe lediglich einen Anspruch auf Leistungen des Wohnsitzstaates, schließe aber keine Ansprüche gegen den deutschen gesetzlichen Krankenversicherungsträger aus.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch den Widerspruchsbescheid vom 12.05.1999 zurück:

Der Kläger hat am 23.07.1999 Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhoben

Er hat die Ansicht vertreten, ihm stünden neben den sich aus der EWG-Verordnung 1408/71 ergebenen Ansprüchen gegen den niederländischen Leistungsträger auch weiterhin Leistungsansprüche gegen die Beklagte zu. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) durch das Urteil vom 16.06.1999 (B 1 KR 5/98 R) in einem vergleichbaren Fall entschieden. Dazu habe es ausgeführt, dass auch der im Ausland lebende Pflichtversicherte in der Krankenversicherung der Rentner seinen Status als Versicherter der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung nicht dadurch verliere, dass er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedsstaat der europäischen Union verlege.

Der Kläger hat beantragt,

unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 28.09.1998 und 23.11.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.05.1999 festzustellen, dass er berechtigt ist, Sachleistungen in Deutschland über den 31.12.1998 hinaus zu Lasten der Beklagten in Anspruch zu nehmen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht geäußert, dem Urteil des BSG vom 16.06.1999 sei nicht zu folgen. Die Vorschriften der EWG-Verordnung 1408/71, die einen Anspruch nur gegen den niederländischen Sozialversicherungsträger einräumten, seien als abschließende Regelung zu werten, die daneben bestehende Leistungs ansprüche gegen den deutschen Krankenversicherungsträger ausschlössen.

Durch Urteil vom 19.09.2002 hat das Sozialgericht Düsseldorf der Klage stattgegeben. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das ihr am 26.09.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.10.2002 Berufung eingelegt.

Zur Begründung wiederholt sie ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.09.2002 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zu Recht unter Aufhebung der Bescheide vom 28.09.1998 und 23.11.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.05.1999 festgestellt, dass der Kläger berechtigt ist, über den 31.12.1998 hinaus Sachleistungen in Deutschland zu Lasten der Beklagten in Anspruch zu nehmen.

Die Feststellungsklage ist gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Der Kläger begehrt die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses, aus dem sich die Verpflichtung der Beklagten zur Erbringung von Sachleistungen nach den Vorschriften des SGB V ergibt. Er hat an dieser Feststellung auch ein Interesse, weil die Beklagte durch die angegriffenen Bescheide in Abrede gestellt hat, dass dieses Rechtsverhältnis über den 31.12.1998 hinaus besteht.

Die Feststellungsklage ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger auch über den 31.12.1998 hinaus Sachleistungen nach Maßgabe der Vorschriften des SGB V zu gewähren. Die sich nach diesen Vorschriften ergebenden Leistungsansprüche werden weder durch § 3 Nr.2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) noch - wie die Beklagte meint - durch Art. 28 EWG VO 1408/71 ausgeschlossen.

Die Leistungsansprüche des Klägers - nach seinem Vorbringen geht es ihm um Leistungen der Krankenhilfe - hängen - neben der Erfüllung der jeweiligen spezifischen Voraussetzungen - davon ab, ob der Kläger "Versicherter" ist. So bestimmt § 27 Abs. 1 SGB V, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Kläger ist als Versicherter im Sinne des § 27 Absatz 1 SGB V zu beurteilen und kann deshalb von der Beklagten grundsätzlich die Gewährung der einzelnen im § 27 Absatz 2 SGB V aufgeführten Leistungen verlangen.

Der Kläger ist (zunächst) seit September 1972 als freiwilliges Mitglied bei der Beklagten versichert gewesen (und hat die nach der Satzung der Beklagten zu erhebenden Mitgliedsbeiträge entrichtet). Seit 1992 ist der Kläger aufgrund des Bezugs einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - entweder weiterhin als freiwilliges Mitglied oder aber gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V - bei der Beklagten versichert. Grundsätzlich war der Kläger damit - jedenfalls bis zur Begründung des Wohnsitzes in den Niederlanden im Jahre 1975 - "Versicherter" der Beklagten. Allerdings bestimmt § 3 Nr. 2 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV), dass die Vorschriften über die Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung (nur) gelten, soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit nicht voraussetzen, für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben. Dies trifft auf den Kläger nicht zu, da er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs, sondern vielmehr in den Nieder landen hat. Die Anwendung des § 3 Nr. 2 SGB IV auf den vorliegenden Fall würde somit dazu führen, dass eine Versicherung des Klägers bei der Beklagten - ungeachtet der von ihm weiter entrichteten Beiträge - nicht bestünde.

Indes ergibt sich aus der inzidenten Kollisionsregelung des Art. 28 Abs. 1 der EWG-Verordnung 1408/71, dass dieser gegenüber der inländischen Kollision- bzw. Abgrenzungsnorm des § 3 Nr. 2 SGB IV mit der Anknüpfung an den Wohnsitz im Inland der Anwendungsvorrang zukommt (vergl. Schuler, Die europarechtliche Koordinierung der Krankenversicherung der Rentner, Sozialgerichtsbarkeit 2000, Seite 523ff). Deshalb finden (auch) die deutschen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs weiterhin Anwendung, was zur Folge hat, dass der Kläger neben dem Anspruch gegen den Leistungsträger seines Wohnorts (in den Niederlanden) auch einen Leistungsanspruch gegen die Beklagte besitzt, sofern er sich (vorübergehend) im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhält.

Art. 28 Absatz 1 EWG-Verordnung 1408/71 bestimmt, dass ein Rentner, der nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats zum Bezug einer Rente oder nach den Vorschriften von zwei oder mehr Mitgliedsstaaten zum Bezug von Renten berechtigt ist und keinen Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats hat, in dessen Gebiet er wohnt, dennoch diese Leistung für sich und seine Familienangehörigen erhält, sofern - ggf. unter Berücksichtigung von Art. 18 und Anhang VI - nach den Rechtsvorschriften, aufgrund deren die Rente geschuldet wird, oder zumindest eines der Mitgliedsstaaten, nach deren Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, Anspruch auf Leistungen bestünde, wenn er im Gebiet des betreffenden Staates wohnte.

Diese Vorschrift begründet (zunächst) den Leistungsanspruch des Klägers gegenüber dem niederländischen Träger. Anknüpfungspunkt dafür ist der Umstand, dass der Kläger nach den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland zum Bezug einer Rente berechtigt ist, aber keinen Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften der Niederlande hat, in deren Gebiet er wohnt. Der Träger des Aufenthalts- bzw. Wohnsitzstaats wird zur Erbringung von Leistungen verpflichtet - allerdings für Rechnung des zuständigen Trägers (Art. 19 Absatz 1 Buchstabe a; Art. 22 Absatz 1 Buchstabe i EWG VO 1408/71). Zuständiger Träger in diesem Sinne ist zweifellos die Beklagte, zu der das primäre Versicherungs- oder Leistungsverhältnis besteht (das den Anknüpfungspunkt für die Leistungspflicht des niederländischen Trägers bildet). Ohne diesen grundsätzlich nach den deutschen Rechtsvorschriften bestehenden Leistungsanspruch käme ein Anspruch gegen den Träger des Wohnsitzstaates überhaupt nicht in Betracht. Kennzeichnend für das sekundäre Leistungsverhältnis zum Träger des Wohnsitzstaates ist, dass es keine versicherungsrechtliche oder beitragsrechtliche Grundlage besitzt, sondern sich auf die Erbringung von Leistungen beschränkt (vergl. Schuler aaO) und das Bestehen eines anderweitigen Leistungsanspruchs voraussetzt. Demgegen über bildet das primäre Versicherungs- und Leistungsverhältnis die Grundlage für die endgültige Kostentragungspflicht sowie die Kompetenz für Erhebung von Beiträgen. Art. 28 EWG VO 1408/71 beschränkt sich somit im Wesentlichen auf die Aufstellung von "Kollisionsnormen" anhand deren für Arbeitnehmer oder Rentenberechtigte, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedsstaat wohnen, bestimmt werden kann, welcher Träger die darin angegebenen Leistungen zu erbringen hat und welche Rechtsvorschriften anwendbar sind (EuGH Rs. 69/79, Slg. 1980, 75 - Rechtssache J ... - V ...). Regelungszweck dieser Vorschrift ist nicht die Einschränkung von Ansprüchen des Versicherten gegenüber dem Leistungsträger, zu dem das primäre Leistungsverhältnis besteht; vielmehr soll durch die Vorschriften der EWG VO eine meistbegünstigende Absicherung der Rentenbezieher für den Fall der Krankheit geschaffen werden, indem Leistungsansprüche auch gegen über dem Leistungsträger des Wohnsitzstaates eingeräumt werden (Schuler aaO).

Durch die Verordnung wird weder ein eigenständiges supranationales Sozialsystem geschaffen noch wird unmittelbar harmonisierend in die Ausgestaltung der mitgliedschaftlichen Systeme der sozialen Sicherheit eingegriffen. Der Senat hält aus diesen Gründen die Auffassung des BSG, das "ein dem Mitgliedschaftsverhältnis im deutschen Krankenversicherungsrecht vergleichbares Mitgliedschaftsverhältnis jedenfalls in den praktischen Auswirkungen" aus den Vorschriften der EWG VO 1408/71 abgeleitet hat (Urteil vom 16.06.1999, Az B 1 KR 5/98 R), für nicht überzeugend. Letztlich ist auch das Bundessozialgericht im Grunde davon ausgegangen, dass die Vorschriften der EWG VO die deutschen gesetzlichen Regelungen unberührt lassen. Es gelangt nämlich zu dem Ergebnis, dass "die Wurzel des Versicherungsschutzes des Klägers im deutschen Recht liegt " und leitet hieraus ab, dass weiterhin ein Versicherungsverhältnis nach deutschem Recht besteht, dass zur Gewährung von Leistungen verpflichtet, sofern sich der Berechtigte in Deutschland aufhält. Welcher Ansatz letztlich zutreffend ist, bedarf aber keiner abschließenden Entscheidung, weil auch die Auffassung des BSG zu dem gleichen Ergebnis führt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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