Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 219/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein akutes Nierenversagen im Sinne der ICD-10-Ziffer N 17 liegt unter anderem vor, wenn das Serumkreatinin von einem anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden sieben Tage ansteigt. Ein Krankenhaus darf als Grundwert regelmäßig den letzten gemessenen Wert vor der Entlassung aus der stationären Behandlung annehmen. Wurde in den sieben Tagen vor der stationären Aufnahme das Serumkreatinin nicht gemessen, genügt es für die Kodierung eines „akuten“ Nierenversagens, dass der Anstieg des Serumkreatinins in diesem Zeitraum plausibel erscheint – etwa, weil sich der Gesundheitszustand des Patienten akut verschlechtert hat.
1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 2.497,65 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.3.2016 zu zahlen. 2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Streitig ist die Kodierung einer Nebendiagnose.
Die Klägerin ist Trägerin der F.-Klinik in B., die zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter zugelassen ist.
Vom 26.4. – 13.5.2015 befand sich die bei der Beklagten versicherte F.S. in vollstationärer Behandlung in der F.-Klinik. Hierfür stellte die Klägerin der Beklagten am 20.5.2015 insgesamt 6.050,67 EUR in Rechnung. Dabei kodierte sie u.a. als Nebendiagnose ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 (ICD-10-Ziff. N 17.91) und gelangte so zu der DRG T60C.
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst vollständig, veranlasste dann aber eine Prüfung durch den MDK. Der MDK gelangte in einem Gutachten vom 17.11.2015 zu dem Ergebnis, zu Unrecht habe die Klägerin ein akutes Nierenversagen verschlüsselt. Anfänglich sei bei Frau S. der Kreatininwert auf 1,48 mg/dl erhöht gewesen. Nach adäquater Flüssigkeitszufuhr habe der Wert nur noch 0,72 mg/dl betragen. Ohne Kodierung eines akuten Nierenversagens sei die Fallpauschale T60E einschlägig.
Gestützt auf dieses Ergebnis rechnete die Beklagte am 10.3.2016 in Höhe von 2.497,65 EUR gegen eine andere unstreitige Hauptforderung der Klägerin auf.
Mit der am 30.12.2019 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Zahlung in Höhe des Aufrechnungsbetrags. Sie trägt vor, der Beklagten habe keine Erstattungsforderung zugestanden, mit der sie hätte aufrechnen können. Die Abrechnung des Behandlungsfalls S. sei nicht zu beanstanden; insbesondere habe sie als Nebendiagnose ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 (ICD-10-Ziff. N 17.91) kodieren dürfen: Nach den maßgeblichen KDIGO-Leitlinien liege ein akutes Nierenversagen u.a. vor, wenn das Serumkreatinin von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert um mindestens 50 % innerhalb der vorangegangenen sieben Tage ansteige. Anzunehmender Grundwert sei der "normale" Kreatininwert des Patienten, nicht hingegen der pathologisch erhöhte Wert zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme. Bei Frau S. habe am 26.4.2015 der erste im Krankenhaus gemessene Wert 1,43 mg/dl betragen; am 27.4.2015 seien 1,48 mg/dl gemessen worden. Im weiteren Verlauf der Behandlung sei der Wert dann bis zum 1.5.2015 auf 0,72 mg/dl zurückgegangen. Letzterer Wert sei bei der Patientin als Grundwert anzunehmen. Bestätigt werde diese Annahme durch Werte, die bei einem früheren stationären Aufenthalt von Frau S. ca. eineinhalb Monate vor der streitigen Behandlung gemessen worden seien: Seinerzeit hätten die Kreatininwerte bei 0,62, 0,68, 0,70, 0,72 und 0,77 mg/dl gelegen. Ausgehend von einem anzunehmenden Grundwert von 0,72 mg/dl sei also das Serumkreatinin um mehr als 50 % angestiegen (auf 1,48 mg/dl). Die Kodierung eines akuten Nierenversagens setze keine adäquate Flüssigkeitszufuhr voraus. Denn im ICD-10-GM finde sich diese Einschränkung nicht bei der Definition der Krankheit als solche, sondern nur bei der Einteilung der verschiedenen Stadien – und selbst dort nur bei einem (hier nicht einschlägigen) Abfall der Diurese. Im Übrigen gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, Frau S. habe vor der Krankenhausbehandlung nicht ausreichend Flüssigkeit zu sich genommen: Die Patientin habe in einem Pflegeheim gelebt. Noch am Morgen des Tages der stationären Aufnahme sei ihr Gesundheitszustand deutlich besser gewesen; der Zustand habe sich dann rasch verschlechtert. Ursächlich für das akute Nierenversagen und einen leicht erhöhten Hämatokritwert Frau S.s sei wohl die als Hauptdiagnose kodierte Sepsis gewesen, nicht hingegen eine etwaige Exsikkose. Sie, die Klägerin, habe bei ihrer Abrechnung auch gar keine Exsikkose berücksichtigt. Das akute Nierenversagen der Patientin habe diagnostische und therapeutische Maßnahmen erfordert, nämlich regelmäßige Kontrollen der Laborwerte, eine Sonografie sowie eine Infusionstherapie. Angesichts dieses Mehraufwands habe sie, die Klägerin, das akute Nierenversagen zu Recht als Nebendiagnose kodiert.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr 2.497,65 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.3.2016 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, zwar sei es plausibel, den anzunehmenden Grundwert des jeweiligen Patienten anhand des letzten, während der Krankenhausbehandlung gemessenen Wertes zu bestimmen. Zusätzlich erforderlich sei aber eine zeitliche Komponente, nämlich ein relevanter Anstieg des Serumkreatinins innerhalb von sieben Tagen. Andernfalls lasse sich nicht von einem "akuten" Nierenversagen sprechen. Die Klägerin habe nicht bewiesen, dass es im Falle Frau S.s einen solchen raschen Anstieg gegeben habe. Möglicherweise sei ihr Kreatininwert infolge einer schleichenden Dehydrierung schon seit längerer Zeit erhöht gewesen – und erst die hinzutretende Sepsis habe dann die Behandlung im Krankenhaus erfordert. Abgesehen davon scheide die Kodierung eines akuten Nierenversagens ohnehin aus, wenn die Erkrankung auf einer Exsikkose beruhe. Entgegen der Auffassung der Klägerin gelte die im ICD-10-GM genannte Voraussetzung einer adäquaten Flüssigkeitszufuhr für alle Tatbestandsvarianten, also nicht nur bei Abfall der Diurese. Dies habe das DIMDI im Jahr 2017 klargestellt – und zwar zu Recht. Denn eine unzureichende Hydrierung führe sowohl zum Anstieg des Kreatininwerts als auch zu einer Verringerung der Urinausscheidung. Bei Frau S. habe mutmaßlich keine ausreichende Flüssigkeitszufuhr stattgefunden. Dafür spreche zum einen, dass ihr Kreatininwert nach Zufuhr von Flüssigkeit rasch gesunken sei. Zum anderen sei ihr Hämatokritwert erhöht gewesen, also der Anteil der festen Stoffe im Blut – auch dies typische Folge einer zu geringen Aufnahme von Flüssigkeit. Die objektiv vorliegende Exsikkose habe die Klägerin wohl deshalb nicht kodiert, weil sie nicht erlösrelevant gewesen wäre und die Diagnose eines akuten Nierenversagens infrage gestellt hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Patientenakte der Klägerin sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1) Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 2.497,65 EUR (dazu a) zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.3.2016 (dazu b).
a) Zu Unrecht hat die Beklagte am 10.3.2016 in Höhe von 2.497,65 EUR gegen eine unstreitige Hauptforderung der Klägerin aufgerechnet. Der Beklagten stand keine Erstattungsforderung zu, mit der sie hätte aufrechnen können. Entgegen der Auffassung der Beklagten war die Klägerin nicht verpflichtet, die für die Behandlung von Frau S. zunächst gezahlte Vergütung (6.050,67 EUR) teilweise zu erstatten. Denn die Klägerin konnte für die streitige Behandlung von der Beklagten in dieser Höhe Vergütung beanspruchen.
Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch ist § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KHEntgG und dem Fallpauschalen-Katalog 2015. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KHEntgG werden die allgemeinen Krankenhausleistungen u.a. nach dem Fallpauschalen-Katalog abgerechnet, den der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft vereinbart hat. Der Fallpauschalen-Katalog ist nach Fallgruppen (DRG) geordnet. Dabei erfolgt die Zuordnung eines bestimmten Behandlungsfalls zu einer DRG in zwei Schritten: In einem ersten Schritt sind – neben den Operationen und sonstigen Prozeduren – die Diagnosen zu kodieren, und zwar nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung (§ 301 Abs. 2 S. 1 SGB V); zur sachgerechten Durchführung dieser Verschlüsselung haben die Vertragspartner auf Bundesebene die Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) beschlossen. In einem zweiten Schritt wird der in den Computer eingegebene Kode dann einer bestimmten DRG zugeordnet, aus der sich nach Maßgabe des Fallpauschalen-Katalogs die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung ergibt (BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11 Rdnr. 16). Bei der textlichen Bezeichnung einer DRG im Fallpauschalen-Katalog handelt es sich also um keinen subsumtionsfähigen Tatbestand; vielmehr ergibt sich die DRG erst aus der Eingabe von bestimmten Daten in ein automatisches Datenverarbeitungssystem (BSGE 109, 236 Rdnr. 19). Welche – kodierten – Daten einzugeben sind, richtet sich ausschließlich nach den DKR (BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11 Rdnr. 18). Deren Regelungen sind eng nach ihrem Wortlaut und allenfalls ergänzend nach ihrem systematischen Zusammenhang auszulegen; andere Bewertungen bleiben hingegen außer Betracht (BSGE 109, 236 Rdnr. 27). Nur auf diese Weise können die Regelungen ihren Zweck erfüllen, als Grundlage für eine routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen zu dienen (BSG, Urteil vom 21.4.2015, B 1 KR 8/15 R, Rdnr. 18 – nach Juris).
Gemäß Abschnitt D 003 l der DKR 2015 ist als "Nebendiagnose" eine Krankheit oder Beschwerde definiert, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthalts entwickelt. Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich ist: therapeutische Maßnahmen; diagnostische Maßnahmen; erhöhter Betreuungs-, Pflege- und / oder Überwachungsaufwand.
Gemessen hieran hat die Klägerin zu Recht ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 als Nebendiagnose kodiert:
aa) Die DKR 2015 enthalten keine Aussage dazu, wann von einem "akuten Nierenversagen" auszugehen ist. Nach der ICD-10-Ziff. N 17 liegt ein akutes Nierenversagen u.a. vor, wenn das Serumkreatinin von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage ansteigt.
(1) Während der Behandlung Frau S.s in der F.-Klinik wurde ihr Kreatininwert insgesamt 11-mal gemessen: Am 26.4.2015 lag er bei 1,43 mg/dl, am 27.4.2015 bei 1,48 mg/dl, am 29.4.2015 bei 0,78 mg/dl, am 30.4.2015 bei 0,73 mg/dl, am 1.5.2015 bei 0,72 mg/dl, am 4.5.2015 bei 0,75 mg/dl, am 6.5.2015 bei 0,78 mg/dl, am 7.5.2015 bei 0,77 mg/dl, am 8.5.2015 bei 0,67 mg/dl, am 11.5.2015 bei 0,80 mg/dl und am 12.5.2015 bei 0,86 mg/dl. Vor Beginn der Krankenhausbehandlung gab es keine Messung. Mangels eines gemessenen Ausgangswerts vor der stationären Aufnahme ist ein Vergleich nur mit einem anzunehmenden Grundwert möglich. Als Grundwert anzunehmen ist nach Auffassung der Kammer sinnvollerweise der letzte gemessene Wert vor der Entlassung aus der stationären Behandlung. Dies war bei Frau S. ein Wert von 0,86 mg/dl – ein Wert am oberen Rand des Referenzbereichs von 0,5 – 1 mg/dl. Bei einem angenommenen Grundwert von 0,86 mg/dl und einem ersten Messwert von 1,43 mg/dl war das Serumkreatinin um 0,57 mg/dl angestiegen, also um 66,3 %. Dieser Anstieg liegt im Bereich dessen, was in der ICD-10-Ziff. N 17 als Stadium 1 definiert ist, nämlich "mindestens 50 % bis unter 100 %".
(2) Die Kammer geht zudem davon aus, der Anstieg des Serumkreatinins habe bei Frau S. binnen sieben Tagen stattgefunden.
Nach der ICD-10-Ziff. N 17 setzt ein akutes Nierenversagen nicht nur einen bestimmten Anstieg des Serumkreatinins voraus; vielmehr muss dieser Anstieg auch rasch geschehen, nämlich "innerhalb der vorangehenden 7 Tage". Ob ein solcher Verlauf vorliegt, lässt sich gut feststellen, wenn der Kreatininwert nahezu täglich gemessen wird. Allerdings finden solch engmaschige Messungen außerhalb einer stationären Behandlung praktisch nicht statt. Messungen beginnen oft erst, wenn der Patient Krankheitssymptome zeigt und der Kreatinwert bereits angestiegen ist. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, gestattet die ICD-10-Ziff. N 17 einen Rückgriff auf einen anzunehmenden Grundwert – statt auf einen gemessenen Ausgangswert (siehe (1)). Diese Möglichkeit wäre indes nutzlos, müsste das Krankenhaus den vollen Beweis dafür erbringen, wie sich vor der ersten Messung der anzunehmende Grundwert Tag für Tag entwickelt hat; denn sofern es an Messwerten fehlt, ist eine zweifelsfreie Aussage hierzu regelmäßig ausgeschlossen. Es genügt daher, wenn ein Anstieg des Serumkreatinins "innerhalb der vorangehenden 7 Tage" plausibel erscheint – etwa, weil sich der Gesundheitszustand des Patienten in diesem Zeitraum akut verschlechtert hat. Außerdem darf es keine konkreten Anhaltspunkte dafür geben, der Kreatinwert sei schon länger als sieben Tage erhöht gewesen.
So verhält es sich hier: Zwar trägt die Beklagte vor, bei Frau S. habe möglicherweise schon längere Zeit vor Beginn der Krankenhausbehandlung am 26.4.2015 ein erhöhter Kreatininwert bestanden. Für diese Vermutung gibt es aber keine tatsächliche Grundlage; es handelt sich letztlich um eine Behauptung "ins Blaue hinein". Laut Entlassungsbericht vom 15.5.2015 lebte Frau S. vor der Krankenhausbehandlung in einem Pflegeheim. Dort habe sie am 26.4.2015 im Sitzen einen Krampfanfall erlitten und mehrere Minuten lang gezuckt; aufgrund dessen sei sie in die Klinik transportiert worden. Am Morgen desselben Tages sei Frau S. noch in einem besseren Allgemeinzustand gewesen (so die Angabe auf Seite 2 des Berichts). Die akute Verschlechterung ihres Gesundheitszustands legt die Vermutung nahe, parallel dazu habe sich auch der Kreatininwert akut verschlechtert – und nicht etwa schleichend über einen Zeitraum von mehr als sieben Tage, wie die Beklagte mutmaßt.
(3) Nicht zu folgen vermag die Kammer der Auffassung der Beklagten, die Klägerin habe auch deshalb kein akutes Nierenversagen kodieren dürfen, weil der Anstieg des Kreatininwerts bei Frau S. auf einer unzureichenden Flüssigkeitszufuhr beruht habe.
In der ICD-10-Ziff. N 17 findet sich bei der Definition der Stadien 1 – 3 jeweils in Klammern der Zusatz "adäquate Flüssigkeitszufuhr vorausgesetzt". Dieses Kriterium hat allerdings keine Bedeutung für die Frage, ob überhaupt ein akutes Nierenversagen vorliegt; vielmehr spielt es nur eine Rolle bei der nachgeordneten Bestimmung der Stadien 1 – 3. Dafür spricht zum einen, dass der Zusatz nicht Teil der allgemeinen Definition des akuten Nierenversagens ist, sondern erst bei Definition der Stadien 1 – 3 auftaucht. Zum anderen gibt es auch ein Stadium ganz ohne diesen Zusatz, nämlich das "nicht näher bezeichnete" Stadium (mit der Ziff. 9 an der 5. Stelle).
Im Übrigen bestehen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür, Frau S. habe im Pflegeheim zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen und deshalb an einer Exsikkose gelitten. Zwar kann akutes Nierenversagen in der Tat auf einer Exsikkose beruhen; möglich sind aber auch viele andere Ursachen (vgl. Pschyrembel Online, Stichwort: "Akutes Nierenversagen" / Ursachen), z.B. eine Diarrhö, die bei Frau S. als Verdacht diagnostiziert wurde. Auch eine Sepsis, also die Hauptdiagnose bei Frau S., geht manchmal mit akutem Nierenversagen einher (Pschyrembel Online, Stichwort: "Sepsis" / Pathophysiologie). Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt sich eine unzureichende Flüssigkeitsaufnahme nicht allein durch den erhöhten Kreatininwert beweisen. Denn dann würde das für die Definition des akuten Nierenversagens konstituierende Kriterium zugleich dazu dienen, die Verschlüsselung dieser Diagnose auszuschließen – ein offenkundig widersprüchliches Ergebnis. Der von der Beklagten außerdem angeführte erhöhte Hämatokritwert kann auf einer Dehydrierung beruhen – muss dies aber nicht. Vor diesem Hintergrund bestehen keine starken Indizien dafür, Frau S. habe vor Beginn der stationären Behandlung zu wenig getrunken.
bb) Das akute Nierenversagen Frau S.s hat das Patientenmanagement beeinflusst.
Sind therapeutische oder diagnostische Maßnahmen auf mehrere Diagnosen ausgerichtet, können alle betroffenen Diagnosen kodiert werden. Es ist also unerheblich, ob die Maßnahmen auch in Bezug auf die Hauptdiagnose geboten waren (Abschnitt D 003 l der DKR 2015).
Zur Behandlung von Frau S. erhoben die Krankenhausärzte mehrfach Laborbefunde, bei denen u.a. das Serumkreatinin gemessen wurde. Diese diagnostischen Maßnahmen zielten auch auf das akute Nierenversagen.
b) Seit dem Tag nach der Aufrechnung hat die Beklagte die Hauptforderung zu verzinsen. Die Höhe der Zinsen ergibt sich aus § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 19 Abs. 3 des Landesvertrags.
2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Tatbestand:
Streitig ist die Kodierung einer Nebendiagnose.
Die Klägerin ist Trägerin der F.-Klinik in B., die zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter zugelassen ist.
Vom 26.4. – 13.5.2015 befand sich die bei der Beklagten versicherte F.S. in vollstationärer Behandlung in der F.-Klinik. Hierfür stellte die Klägerin der Beklagten am 20.5.2015 insgesamt 6.050,67 EUR in Rechnung. Dabei kodierte sie u.a. als Nebendiagnose ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 (ICD-10-Ziff. N 17.91) und gelangte so zu der DRG T60C.
Die Beklagte beglich die Rechnung zunächst vollständig, veranlasste dann aber eine Prüfung durch den MDK. Der MDK gelangte in einem Gutachten vom 17.11.2015 zu dem Ergebnis, zu Unrecht habe die Klägerin ein akutes Nierenversagen verschlüsselt. Anfänglich sei bei Frau S. der Kreatininwert auf 1,48 mg/dl erhöht gewesen. Nach adäquater Flüssigkeitszufuhr habe der Wert nur noch 0,72 mg/dl betragen. Ohne Kodierung eines akuten Nierenversagens sei die Fallpauschale T60E einschlägig.
Gestützt auf dieses Ergebnis rechnete die Beklagte am 10.3.2016 in Höhe von 2.497,65 EUR gegen eine andere unstreitige Hauptforderung der Klägerin auf.
Mit der am 30.12.2019 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Zahlung in Höhe des Aufrechnungsbetrags. Sie trägt vor, der Beklagten habe keine Erstattungsforderung zugestanden, mit der sie hätte aufrechnen können. Die Abrechnung des Behandlungsfalls S. sei nicht zu beanstanden; insbesondere habe sie als Nebendiagnose ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 (ICD-10-Ziff. N 17.91) kodieren dürfen: Nach den maßgeblichen KDIGO-Leitlinien liege ein akutes Nierenversagen u.a. vor, wenn das Serumkreatinin von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert um mindestens 50 % innerhalb der vorangegangenen sieben Tage ansteige. Anzunehmender Grundwert sei der "normale" Kreatininwert des Patienten, nicht hingegen der pathologisch erhöhte Wert zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme. Bei Frau S. habe am 26.4.2015 der erste im Krankenhaus gemessene Wert 1,43 mg/dl betragen; am 27.4.2015 seien 1,48 mg/dl gemessen worden. Im weiteren Verlauf der Behandlung sei der Wert dann bis zum 1.5.2015 auf 0,72 mg/dl zurückgegangen. Letzterer Wert sei bei der Patientin als Grundwert anzunehmen. Bestätigt werde diese Annahme durch Werte, die bei einem früheren stationären Aufenthalt von Frau S. ca. eineinhalb Monate vor der streitigen Behandlung gemessen worden seien: Seinerzeit hätten die Kreatininwerte bei 0,62, 0,68, 0,70, 0,72 und 0,77 mg/dl gelegen. Ausgehend von einem anzunehmenden Grundwert von 0,72 mg/dl sei also das Serumkreatinin um mehr als 50 % angestiegen (auf 1,48 mg/dl). Die Kodierung eines akuten Nierenversagens setze keine adäquate Flüssigkeitszufuhr voraus. Denn im ICD-10-GM finde sich diese Einschränkung nicht bei der Definition der Krankheit als solche, sondern nur bei der Einteilung der verschiedenen Stadien – und selbst dort nur bei einem (hier nicht einschlägigen) Abfall der Diurese. Im Übrigen gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, Frau S. habe vor der Krankenhausbehandlung nicht ausreichend Flüssigkeit zu sich genommen: Die Patientin habe in einem Pflegeheim gelebt. Noch am Morgen des Tages der stationären Aufnahme sei ihr Gesundheitszustand deutlich besser gewesen; der Zustand habe sich dann rasch verschlechtert. Ursächlich für das akute Nierenversagen und einen leicht erhöhten Hämatokritwert Frau S.s sei wohl die als Hauptdiagnose kodierte Sepsis gewesen, nicht hingegen eine etwaige Exsikkose. Sie, die Klägerin, habe bei ihrer Abrechnung auch gar keine Exsikkose berücksichtigt. Das akute Nierenversagen der Patientin habe diagnostische und therapeutische Maßnahmen erfordert, nämlich regelmäßige Kontrollen der Laborwerte, eine Sonografie sowie eine Infusionstherapie. Angesichts dieses Mehraufwands habe sie, die Klägerin, das akute Nierenversagen zu Recht als Nebendiagnose kodiert.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr 2.497,65 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.3.2016 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, zwar sei es plausibel, den anzunehmenden Grundwert des jeweiligen Patienten anhand des letzten, während der Krankenhausbehandlung gemessenen Wertes zu bestimmen. Zusätzlich erforderlich sei aber eine zeitliche Komponente, nämlich ein relevanter Anstieg des Serumkreatinins innerhalb von sieben Tagen. Andernfalls lasse sich nicht von einem "akuten" Nierenversagen sprechen. Die Klägerin habe nicht bewiesen, dass es im Falle Frau S.s einen solchen raschen Anstieg gegeben habe. Möglicherweise sei ihr Kreatininwert infolge einer schleichenden Dehydrierung schon seit längerer Zeit erhöht gewesen – und erst die hinzutretende Sepsis habe dann die Behandlung im Krankenhaus erfordert. Abgesehen davon scheide die Kodierung eines akuten Nierenversagens ohnehin aus, wenn die Erkrankung auf einer Exsikkose beruhe. Entgegen der Auffassung der Klägerin gelte die im ICD-10-GM genannte Voraussetzung einer adäquaten Flüssigkeitszufuhr für alle Tatbestandsvarianten, also nicht nur bei Abfall der Diurese. Dies habe das DIMDI im Jahr 2017 klargestellt – und zwar zu Recht. Denn eine unzureichende Hydrierung führe sowohl zum Anstieg des Kreatininwerts als auch zu einer Verringerung der Urinausscheidung. Bei Frau S. habe mutmaßlich keine ausreichende Flüssigkeitszufuhr stattgefunden. Dafür spreche zum einen, dass ihr Kreatininwert nach Zufuhr von Flüssigkeit rasch gesunken sei. Zum anderen sei ihr Hämatokritwert erhöht gewesen, also der Anteil der festen Stoffe im Blut – auch dies typische Folge einer zu geringen Aufnahme von Flüssigkeit. Die objektiv vorliegende Exsikkose habe die Klägerin wohl deshalb nicht kodiert, weil sie nicht erlösrelevant gewesen wäre und die Diagnose eines akuten Nierenversagens infrage gestellt hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Patientenakte der Klägerin sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1) Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 2.497,65 EUR (dazu a) zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.3.2016 (dazu b).
a) Zu Unrecht hat die Beklagte am 10.3.2016 in Höhe von 2.497,65 EUR gegen eine unstreitige Hauptforderung der Klägerin aufgerechnet. Der Beklagten stand keine Erstattungsforderung zu, mit der sie hätte aufrechnen können. Entgegen der Auffassung der Beklagten war die Klägerin nicht verpflichtet, die für die Behandlung von Frau S. zunächst gezahlte Vergütung (6.050,67 EUR) teilweise zu erstatten. Denn die Klägerin konnte für die streitige Behandlung von der Beklagten in dieser Höhe Vergütung beanspruchen.
Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch ist § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KHEntgG und dem Fallpauschalen-Katalog 2015. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KHEntgG werden die allgemeinen Krankenhausleistungen u.a. nach dem Fallpauschalen-Katalog abgerechnet, den der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft vereinbart hat. Der Fallpauschalen-Katalog ist nach Fallgruppen (DRG) geordnet. Dabei erfolgt die Zuordnung eines bestimmten Behandlungsfalls zu einer DRG in zwei Schritten: In einem ersten Schritt sind – neben den Operationen und sonstigen Prozeduren – die Diagnosen zu kodieren, und zwar nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung (§ 301 Abs. 2 S. 1 SGB V); zur sachgerechten Durchführung dieser Verschlüsselung haben die Vertragspartner auf Bundesebene die Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) beschlossen. In einem zweiten Schritt wird der in den Computer eingegebene Kode dann einer bestimmten DRG zugeordnet, aus der sich nach Maßgabe des Fallpauschalen-Katalogs die von der Krankenkasse zu zahlende Vergütung ergibt (BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11 Rdnr. 16). Bei der textlichen Bezeichnung einer DRG im Fallpauschalen-Katalog handelt es sich also um keinen subsumtionsfähigen Tatbestand; vielmehr ergibt sich die DRG erst aus der Eingabe von bestimmten Daten in ein automatisches Datenverarbeitungssystem (BSGE 109, 236 Rdnr. 19). Welche – kodierten – Daten einzugeben sind, richtet sich ausschließlich nach den DKR (BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11 Rdnr. 18). Deren Regelungen sind eng nach ihrem Wortlaut und allenfalls ergänzend nach ihrem systematischen Zusammenhang auszulegen; andere Bewertungen bleiben hingegen außer Betracht (BSGE 109, 236 Rdnr. 27). Nur auf diese Weise können die Regelungen ihren Zweck erfüllen, als Grundlage für eine routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen zu dienen (BSG, Urteil vom 21.4.2015, B 1 KR 8/15 R, Rdnr. 18 – nach Juris).
Gemäß Abschnitt D 003 l der DKR 2015 ist als "Nebendiagnose" eine Krankheit oder Beschwerde definiert, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Krankenhausaufenthalts entwickelt. Für Kodierungszwecke müssen Nebendiagnosen als Krankheiten interpretiert werden, die das Patientenmanagement in der Weise beeinflussen, dass irgendeiner der folgenden Faktoren erforderlich ist: therapeutische Maßnahmen; diagnostische Maßnahmen; erhöhter Betreuungs-, Pflege- und / oder Überwachungsaufwand.
Gemessen hieran hat die Klägerin zu Recht ein akutes Nierenversagen im Stadium 1 als Nebendiagnose kodiert:
aa) Die DKR 2015 enthalten keine Aussage dazu, wann von einem "akuten Nierenversagen" auszugehen ist. Nach der ICD-10-Ziff. N 17 liegt ein akutes Nierenversagen u.a. vor, wenn das Serumkreatinin von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage ansteigt.
(1) Während der Behandlung Frau S.s in der F.-Klinik wurde ihr Kreatininwert insgesamt 11-mal gemessen: Am 26.4.2015 lag er bei 1,43 mg/dl, am 27.4.2015 bei 1,48 mg/dl, am 29.4.2015 bei 0,78 mg/dl, am 30.4.2015 bei 0,73 mg/dl, am 1.5.2015 bei 0,72 mg/dl, am 4.5.2015 bei 0,75 mg/dl, am 6.5.2015 bei 0,78 mg/dl, am 7.5.2015 bei 0,77 mg/dl, am 8.5.2015 bei 0,67 mg/dl, am 11.5.2015 bei 0,80 mg/dl und am 12.5.2015 bei 0,86 mg/dl. Vor Beginn der Krankenhausbehandlung gab es keine Messung. Mangels eines gemessenen Ausgangswerts vor der stationären Aufnahme ist ein Vergleich nur mit einem anzunehmenden Grundwert möglich. Als Grundwert anzunehmen ist nach Auffassung der Kammer sinnvollerweise der letzte gemessene Wert vor der Entlassung aus der stationären Behandlung. Dies war bei Frau S. ein Wert von 0,86 mg/dl – ein Wert am oberen Rand des Referenzbereichs von 0,5 – 1 mg/dl. Bei einem angenommenen Grundwert von 0,86 mg/dl und einem ersten Messwert von 1,43 mg/dl war das Serumkreatinin um 0,57 mg/dl angestiegen, also um 66,3 %. Dieser Anstieg liegt im Bereich dessen, was in der ICD-10-Ziff. N 17 als Stadium 1 definiert ist, nämlich "mindestens 50 % bis unter 100 %".
(2) Die Kammer geht zudem davon aus, der Anstieg des Serumkreatinins habe bei Frau S. binnen sieben Tagen stattgefunden.
Nach der ICD-10-Ziff. N 17 setzt ein akutes Nierenversagen nicht nur einen bestimmten Anstieg des Serumkreatinins voraus; vielmehr muss dieser Anstieg auch rasch geschehen, nämlich "innerhalb der vorangehenden 7 Tage". Ob ein solcher Verlauf vorliegt, lässt sich gut feststellen, wenn der Kreatininwert nahezu täglich gemessen wird. Allerdings finden solch engmaschige Messungen außerhalb einer stationären Behandlung praktisch nicht statt. Messungen beginnen oft erst, wenn der Patient Krankheitssymptome zeigt und der Kreatinwert bereits angestiegen ist. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, gestattet die ICD-10-Ziff. N 17 einen Rückgriff auf einen anzunehmenden Grundwert – statt auf einen gemessenen Ausgangswert (siehe (1)). Diese Möglichkeit wäre indes nutzlos, müsste das Krankenhaus den vollen Beweis dafür erbringen, wie sich vor der ersten Messung der anzunehmende Grundwert Tag für Tag entwickelt hat; denn sofern es an Messwerten fehlt, ist eine zweifelsfreie Aussage hierzu regelmäßig ausgeschlossen. Es genügt daher, wenn ein Anstieg des Serumkreatinins "innerhalb der vorangehenden 7 Tage" plausibel erscheint – etwa, weil sich der Gesundheitszustand des Patienten in diesem Zeitraum akut verschlechtert hat. Außerdem darf es keine konkreten Anhaltspunkte dafür geben, der Kreatinwert sei schon länger als sieben Tage erhöht gewesen.
So verhält es sich hier: Zwar trägt die Beklagte vor, bei Frau S. habe möglicherweise schon längere Zeit vor Beginn der Krankenhausbehandlung am 26.4.2015 ein erhöhter Kreatininwert bestanden. Für diese Vermutung gibt es aber keine tatsächliche Grundlage; es handelt sich letztlich um eine Behauptung "ins Blaue hinein". Laut Entlassungsbericht vom 15.5.2015 lebte Frau S. vor der Krankenhausbehandlung in einem Pflegeheim. Dort habe sie am 26.4.2015 im Sitzen einen Krampfanfall erlitten und mehrere Minuten lang gezuckt; aufgrund dessen sei sie in die Klinik transportiert worden. Am Morgen desselben Tages sei Frau S. noch in einem besseren Allgemeinzustand gewesen (so die Angabe auf Seite 2 des Berichts). Die akute Verschlechterung ihres Gesundheitszustands legt die Vermutung nahe, parallel dazu habe sich auch der Kreatininwert akut verschlechtert – und nicht etwa schleichend über einen Zeitraum von mehr als sieben Tage, wie die Beklagte mutmaßt.
(3) Nicht zu folgen vermag die Kammer der Auffassung der Beklagten, die Klägerin habe auch deshalb kein akutes Nierenversagen kodieren dürfen, weil der Anstieg des Kreatininwerts bei Frau S. auf einer unzureichenden Flüssigkeitszufuhr beruht habe.
In der ICD-10-Ziff. N 17 findet sich bei der Definition der Stadien 1 – 3 jeweils in Klammern der Zusatz "adäquate Flüssigkeitszufuhr vorausgesetzt". Dieses Kriterium hat allerdings keine Bedeutung für die Frage, ob überhaupt ein akutes Nierenversagen vorliegt; vielmehr spielt es nur eine Rolle bei der nachgeordneten Bestimmung der Stadien 1 – 3. Dafür spricht zum einen, dass der Zusatz nicht Teil der allgemeinen Definition des akuten Nierenversagens ist, sondern erst bei Definition der Stadien 1 – 3 auftaucht. Zum anderen gibt es auch ein Stadium ganz ohne diesen Zusatz, nämlich das "nicht näher bezeichnete" Stadium (mit der Ziff. 9 an der 5. Stelle).
Im Übrigen bestehen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür, Frau S. habe im Pflegeheim zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen und deshalb an einer Exsikkose gelitten. Zwar kann akutes Nierenversagen in der Tat auf einer Exsikkose beruhen; möglich sind aber auch viele andere Ursachen (vgl. Pschyrembel Online, Stichwort: "Akutes Nierenversagen" / Ursachen), z.B. eine Diarrhö, die bei Frau S. als Verdacht diagnostiziert wurde. Auch eine Sepsis, also die Hauptdiagnose bei Frau S., geht manchmal mit akutem Nierenversagen einher (Pschyrembel Online, Stichwort: "Sepsis" / Pathophysiologie). Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt sich eine unzureichende Flüssigkeitsaufnahme nicht allein durch den erhöhten Kreatininwert beweisen. Denn dann würde das für die Definition des akuten Nierenversagens konstituierende Kriterium zugleich dazu dienen, die Verschlüsselung dieser Diagnose auszuschließen – ein offenkundig widersprüchliches Ergebnis. Der von der Beklagten außerdem angeführte erhöhte Hämatokritwert kann auf einer Dehydrierung beruhen – muss dies aber nicht. Vor diesem Hintergrund bestehen keine starken Indizien dafür, Frau S. habe vor Beginn der stationären Behandlung zu wenig getrunken.
bb) Das akute Nierenversagen Frau S.s hat das Patientenmanagement beeinflusst.
Sind therapeutische oder diagnostische Maßnahmen auf mehrere Diagnosen ausgerichtet, können alle betroffenen Diagnosen kodiert werden. Es ist also unerheblich, ob die Maßnahmen auch in Bezug auf die Hauptdiagnose geboten waren (Abschnitt D 003 l der DKR 2015).
Zur Behandlung von Frau S. erhoben die Krankenhausärzte mehrfach Laborbefunde, bei denen u.a. das Serumkreatinin gemessen wurde. Diese diagnostischen Maßnahmen zielten auch auf das akute Nierenversagen.
b) Seit dem Tag nach der Aufrechnung hat die Beklagte die Hauptforderung zu verzinsen. Die Höhe der Zinsen ergibt sich aus § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. § 19 Abs. 3 des Landesvertrags.
2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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