L 1 U 2871/19 WA

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 3283/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 2871/19 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. 2. Es wird festgestellt, dass das Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 02.11.2018 mit Rücknahme der Berufung durch den Kläger am 15.08.2019 beendet worden ist. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Berufung des Klägers durch Rücknahme des Rechtsmittels erledigt ist.

Der Kläger begehrt in der Hauptsache die Anerkennung eines Basalioms und aktinischer Keratosen als Berufskrankheiten (BKen) Nr. 5103 (Plattenephitelkarzinome oder multiple aktinische Keratosen der Haut durch natürliche UV-Strahlung) und Nr. 1303 (Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe und Styrol) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Veranlasst durch eine ärztliche Anzeige der Hautärztin des Klägers vom 02.03.2017 nahmen sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene unabhängig voneinander Ermittlungen auf.

Mit Bescheid vom 22.08.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Erkrankung des Klägers als Berufskrankheiten Nr. 1303 und Nr. 5103 ab. Den vom Kläger dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.10.2017 zurück.

Die dagegen vom Kläger zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage hat dieses nach Einholung eines Gutachtens zur BK 1303 bei Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. T. mit Gerichtsbescheid vom 02.11.2018 abgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 09.11.2018 Berufung (Az. L 1 U 4071/18) zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Mit Beschluss vom 17.01.2019 hat der Senat die Berufsgenossenschaft Holz und Metall zum Verfahren beigeladen und ergänzende Ermittlungen durch den Präventionsdienst der Beigeladenen veranlasst.

Im Verlauf der vom Berichterstatter am 15.08.2019 (Sitzungsbeginn 09:35 Uhr, Sitzungsende 10.50 Uhr) durchgeführten nichtöffentlichen Sitzung zur Erörterung des Sachverhalts hat der Kläger Ausdrucke von aus dem Internet stammenden Berichten vorgelegt, in denen von einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren gegen Prof. Dr. T. in den Jahren 1993 bis 1998 wegen "Erstellung von Falschgutachten" die Rede ist. Er hat zudem Ausführungen zu den Arbeitsbedingungen gemacht, denen er in einem vorangegangenen Beschäftigungsverhältnis ausgesetzt war und dazu vier gleichlautende Zeugenerklärungen vorgelegt. Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage hat er erklärt: "Ich nehme hiermit meine Berufung zurück." Diese Erklärung ist auf einen Ton-/Datenträger vorläufig aufgezeichnet, abgespielt und von dem Kläger genehmigt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll, welches den Beteiligten mit Schreiben vom 15.08.2019 übersandt worden ist, Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 20.08.2019 hat der Kläger unter Nennung des bisherigen Aktenzeichens erklärt, er lege "hiermit Widerspruch gegen das Urteil ein." Das Gericht habe gesagt, er habe 14 Tage Zeit, gegen den "Bescheid Widerspruch einzulegen", was er hiermit mache. In seinem weiteren Schreiben vom 14.09.2019 hat der Kläger ausgeführt, der Richter habe gemeint, er könne zustimmen, es sich aber innerhalb von 14 Tagen überlegen und danach Widerspruch einlegen. Das habe er gemacht und am 29.08.2019 Widerspruch eingelegt.

Im Übrigen hat der Kläger weitere Ausführungen zur Begründung des von ihm weiterverfolgten Begehrens auf Anerkennung seiner Hauterkrankung als Berufskrankheit und insbesondere zu dem Gutachten von Prof. Dr. T. gemacht.

Der Kläger beantragt nach Aktenlage,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 02.11.2018 und den Bescheid der Beklagten vom 22.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2017 aufzuheben und festzustellen, dass seine Hautveränderungen (Hautkrebs und aktinische Keratosen) eine Berufskrankheit nach Ziffer 1303 und nach Ziffer 5103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung sind.

Die Beklagte beantragt,

festzustellen, dass das Berufungsverfahren gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 02.11.2018 (L 1 U 4071/18) mit Rücknahme der Berufung durch den Kläger am 15.08.2019 beendet worden ist, hilfsweise, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie hat darauf verwiesen, dass der Kläger seine Berufung zurückgenommen und eine Entscheidung des Gerichts nicht mehr gewünscht hat.

Die Beigeladene hat sich in der mündlichen Verhandlung am 10.02.2020 dem Antrag der Beklagten angeschlossen. Sie hat ergänzend ausgeführt, Gründe für eine Unwirksamkeit der Rücknahme seien nicht erkennbar.

Der Kläger hat am Morgen des Terminstages auf der Geschäftsstelle des Senats angerufen und mitgeteilt, er könne wegen eines Sturms nicht erscheinen, er sei damit einverstanden, dass der Senat heute entscheide.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung am 10.02.2020 in der Sache entscheiden, auch wenn für den Kläger niemand erschienen war. Der Kläger war mit der Ladung gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Bei seinem Anruf auf der Geschäftsstelle des Senats hatte er sich ferner ausdrücklich mit Entscheidungen nach Aktenlage bzw. nach einer streitigen Verhandlung ohne seine Teilnahme einverstanden erklärt.

In der Sache war dem Antrag der Beklagten zu entsprechen und festzustellen, dass das Berufungsverfahren, das zunächst unter dem Aktenzeichen L 1 U 4071/18 geführt worden war, durch die Berufungsrücknahme des Klägers am 15.08.2019 erledigt worden ist. Der Senat konnte daher nicht mehr inhaltlich über das Begehren des Klägers entscheiden.

Nach § 156 Abs. 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Berufung bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die wirksame Berufungsrücknahme bewirkt nach § 156 Abs. 3 Satz 1 SGG den Verlust des Rechtsmittels. Der Rechtsmittelführer verliert sein Recht auf Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung, diese wird sofort rechtskräftig.

Bei der vom Kläger im Verlauf der nichtöffentlichen Sitzung des Senats vom 15.08.2019 abgegebenen Erklärung "Ich nehme hiermit meine Berufung zurück" handelt es sich um eine wirksame Berufungsrücknahme.

Eine solche Erklärung ist einseitige Prozesshandlung und kann wie hier geschehen auch in einem Erörterungstermin gegenüber dem Berichterstatter erklärt werden (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 156 SGG, Rn. 17).

Dass der Kläger diese Erklärung abgegeben hat, wird nicht nur von ihm nicht bestritten, sondern ergibt sich auch mit abschließender Beweiskraft (vgl. § 122 SGG i.V.m. § 165 Satz 1 Zivilprozessordung [ZPO] aus dem Protokoll vom 15.08.2019. Sie wurde ordnungsgemäß protokolliert (§ 122 SGG i.V.m. § 160 Abs. 3 Nr. 8 ZPO), vorgespielt und von dem Kläger genehmigt (§ 122 SGG i.V.m. § 162 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Den nach § 165 Satz 2 ZPO allein zulässigen Einwand der Fälschung des Protokolls hat der Kläger nicht erhoben, den ggfs. von ihm zu führenden Beweis dieses Einwands hat er nicht angetreten.

Auch materiell ist die Erklärung des Klägers wirksam abgegeben worden.

Eine Prozesshandlung setzt die Prozessfähigkeit des Erklärenden voraus und muss zudem eindeutig, klar, unmissverständlich und bedingungslos sein (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 29.05.1980 - 9 RV 8/80 - juris; Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 156 Rn. 1a). An der Prozessfähigkeit des Klägers bestehen keine Zweifel. Er hat nach dem Wortlaut der von ihm abgegebenen Erklärung unmissverständlich erklärt, dass er die Berufung zurücknimmt.

Die Rücknahmeerklärung ist auch nicht wegen Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze oder wegen unzulässigen Drucks oder Drohungen (vgl. den Rechtsgedanken des § 123 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB] ungültig (vgl. hierzu Keller, a.a.O. vor § 60 SGG, Rn. 12a m.w.N.). Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass im Erörterungstermin vom 15.08.2019 gegen grundlegende Verfahrensgesichtspunkte, insbesondere den Grundsatz des fairen Verfahrens, verstoßen wurde. Dahinstehen kann hier deshalb auch, ob die finanzgerichtliche Rechtsprechung, die eine Anfechtung von Klagerücknahmeerklärungen insbesondere in Fällen, in denen ein rechtsunkundiger Kläger "in unzulässiger Weise - etwa durch Drohung, Druck, Täuschung oder auch unbewusste Irreführung - zur Abgabe einer Erklärung veranlasst worden ist", für möglich hält, überhaupt auf das sozialgerichtliche Verfahren übertragen werden kann (ablehnend unter Wiedergabe des Streitstandes Burkiczak, a.a.O. Rn. 40, befürwortend wohl Keller, a.a.O.). Der Kläger ist im Termin vom 15.08.2019 weder fehlerhaft belehrt noch zur Rücknahme gedrängt worden. Vielmehr hat er diese nach eingehender Erörterung aus freien Stücken erklärt.

Letztlich konnte sich der Kläger auch für die Zukunft nicht von seiner Erklärung lösen.

Die Berufungsrücknahme ist eine Prozesshandlung, die das Gericht und die Beteiligten bindet. Sie kann grundsätzlich nicht frei widerrufen oder wegen Irrtums angefochten werden (Burkiczak a.a.O., § 156 SGG, Rn. 37 bis 39 m.w.N., zur Klagerücknahme vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 8 SO 1/16 R –, a.a.O., Rn. 15; BSG SozR 1500 § 102 Nr. 2; BSG, Beschluss vom 04.11.2009 – B 14 AS 81/08 B –, juris, Rn. 6 m.w.N.; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 102 Rn. 7c m.w.N.). Daher hat der vom Kläger mit Schreiben vom 20.08.2019 sinngemäß erklärte Widerruf keine Wirkung.

Die Voraussetzungen für einen nur ausnahmsweise möglichen Widerruf nach den Regelungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 179 und 180 SGG sowie über § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 579, 580 ZPO, vgl. Burkiczak a.a.O. Rn. 39, Keller a.a.O., § 156 Rn. 2a; zur Klagerücknahme BSG, Urteil vom 14.06.1978 - 9/10 RV 31/77 - juris Rn. 12 m.w.N.; siehe auch Bundesgerichtshof [BGH] v. 02.12.1987 - IVb ZB 125/87 - juris Rn. 7 m.w.N.) sind hier nicht erfüllt. Es ist weder vom Kläger behauptet noch sonst ersichtlich, dass einer der dort genannten Fälle vorliegt.

Woraus der Kläger rechtsirrig ableitet, dass eine zu Protokoll erklärte Berufungsrücknahme binnen 14 Tagen frei widerruflich sei, hat er nicht nachvollziehbar darlegen können. Ein rechtlich unhaltbarer - Hinweis, wonach der Kläger 14 Tage Zeit habe, "Widerspruch" gegen "den Bescheid" einzulegen, bzw. es sich "innerhalb von 14 Tagen überlegen und danach Widerspruch einlegen" könne, wurde nicht erteilt. Es kann daher offen bleiben, ob ein solcher Irrtum bei der Erklärung einer Berufungsrücknahme mehr als ein - unbeachtlicher - Motivirrtum (vgl. § 119 BGB) wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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