L 8 U 3645/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 264/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 3645/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 18.09.2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Feststellung seiner Erkrankung der Wirbelsäule als Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) zusteht.

Der im Jahr 1963 geborene Kläger ist seit dem 29.06.1981 als Hemmschuhleger im Rangierbahnhof K. bei der D. B. S./C. beschäftigt.

Am 13.09.2017 beantragte der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte, die Anerkennung einer BK Nr. 2109 und führte an, dass er im Jahr 2015 eine Rehamaßnahme in der Knappschaftsklinik B. N. absolviert habe und aufgrund der Halswirbelsäulenbeschwerden mit Schmerzausstrahlung in den rechten Arm arbeitsunfähig entlassen wurde. Er sei seit 30 Jahren als Hemmschuhleger beschäftigt und ständiger, körperlicher, sehr anstrengender Arbeit ausgesetzt (vgl. Bl. 1 bis 2 der Verwaltungsakte). Während der Ermittlungen zur BK Nr. 2109 wurde zusätzlich die Untersuchung der Voraussetzungen der BK Nr. 2108 beantragt.

Der Kläger machte am 23.10.2017 in einem von der Beklagten übersandten Fragebogen Angaben zu den Wirbelsäulenbeschwerden, den ärztlichen Behandlungen und seinem beruflichen Werdegang (vgl. Bl. 14 bis 18 der Verwaltungsakte).

Die Beklagte zog ein Vorerkrankungsverzeichnis der zuständigen Krankenkasse (vgl. Bl. 61 bis 62 der Verwaltungsakte), einen Entlassungsbericht über eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der Knappschaftsklinik B.S.-S. vom 04.05.2017 bis zum 25.05.2017 (Diagnosen u.a. Funktionseinschränkung der HWS bei Unkovertebralarthrose C5-C7 mit NP-Protrusion C5/6 rechts mit Irritation von C6 rechts, vgl. Bl. 67 bis 78 der Verwaltungsakte) sowie weitere Befundberichte über eine Osteochondrose C5-C6 mit cervikalem Wurzelreizsyndrom rechts (vgl. Bl. 84 bis 88 der Verwaltungsakte) bei.

Die Beklagte veranlasste eine Prüfung der Arbeitsplatzexposition des Klägers. Der Präventionsdienst der Beklagten gab am 13.04.2018 eine Stellungnahme ab und teilte mit, dass eine berufliche Gesamtbelastungsdosis von 4 x 106 Nh (Newton-Stunden) entsprechend einem prozentualen Anteil von 16 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh für Männer vorliege. Damit sei der hälftige Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh gemäß BSG trotz der langjährigen

Tätigkeit des Klägers unterschritten. Eine Belastung im Sinne der BK Nr. 2108 sei auszuschließen. Die Hemmschuhe hätten ein Gewicht von 6,5 kg und erzeugten daher nur geringe Hebe- und Tragebelastungen. Der Legevorgang dauere 1 bis 2 Minuten. Der Zeitanteil pro Stunde betrage 15 Minuten. Das Freisetzen der Hemmschuhe durch Einsatz einer Kippstange mit einem Gewicht von 10 kg sei mit einer repräsentativen durchschnittlichen Last von 30 kg anzusetzen. Nach den technologischen Gegebenheiten im Rangierbahnhof K. war die Kippstange in etwa 10mal in einer Schicht einzusetzen (vgl. Bl. 90 bis 101 der Verwaltungsakte).

Die Beklagte zog einen Rehaentlassungsbericht über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 29.09.2015 bis zum 20.10.2015 in der Knappschaftsklinik B.-S. in B. N. (Diagnose u.a. zervikaler Bandscheibenschaden vgl. Bl 115 bis 125 der Verwaltungsakte), weitere ärztliche Berichte (vgl. Bl. 126 bis 130 der Verwaltungsakte) sowie einen Bescheid des Landratsamtes Ludwigsburg vom 12.07.2017 über die Feststellung eines GdB von 50 (vgl. Bl. 107 bis 110 der Verwaltungsakte) bei.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18.06.2018 die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV ab und teilte mit, dass Ansprüche auf Leistungen nicht bestünden. Dies gelte auch für Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen einer Berufskrankheit entgegenzuwirken. Die Beklagte verwies zur Begründung auf die Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition des Präventionsdienstes vom 13.04.2018, wonach der Kläger bei seiner Tätigkeit als Hemmschuhleger keinen Belastungen ausgesetzt sei, die ursächlich für die Entstehung der Erkrankung sein könnten (vgl. Bl 1 bis 2, 2. Bd. der Verwaltungsakte).

Der Kläger erhob hiergegen am 20.07.2018 Widerspruch und führte aus, dass das Hemmschuhgewicht in Kornwestheim nicht nur 6,5 kg, sondern teilweise bis 20 kg betragen habe. Die Arbeitsplatzanalyse vom13.04.2018 bilde daher die Tätigkeit des Klägers nicht richtig ab (vgl. Bl. 7 bis 8, 2. Bd. der Verwaltungsakte).

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.12.2018 zurück und führte aus, dass nach den Ermittlungen des Präventionsdienstes der hälftige Orientierungswert von 12,5 MNh (Mega-Newton-Stunden) beim Kläger deutlich unterschritten sei. Der Kläger sei daher bei seiner Tätigkeit als Hemmschuhleger keinen Einwirkungen ausgesetzt gewesen, die geeignet seien, eine BK im Sinne der Nr. 2108 zu verursachen (vgl. Bl. 18 bis 22, 2. Bd. der Verwaltungsakte).

Die Beklagte lehnte zudem die Anerkennung einer BK Nr. 2109 mit Bescheid vom 28.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2018 ab. Die hiergegen erhobene Klage zum Sozialgericht Heilbronn (Az: S 4 U 1978/18) wurde mit Gerichtsbescheid vom 06.03.2019 abgewiesen. Das anschließende Berufungsverfahren (Az: L 8 U 1309/19) vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg endete mit dem rechtskräftigen berufungszurückweisenden Urteil vom 24.01.2020.

Der Kläger hat gegen die Ablehnung der Anerkennung einer BK Nr. 2108 am 21.01.2019 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) und ausgeführt, dass er bereits im Widerspruchsverfahren gerügt habe, dass die Besonderheiten der Tätigkeit als Hemmschuhleger keine ausreichende Berücksichtigung gefunden hätten. Der Kläger habe unter großem Zeitdruck die Hemmschuhe 400 Meter tragen müssen. In einer Schicht von 8 Stunden habe er 150 Hemmschuhe auf einer Strecke von circa 30 km getragen. Auch habe er nicht vom Hemmschuh zurück gerollte Eisenbahnwagen mit einer Zange unter dem Waggon hervorziehen müssen. Da ein einziger Waggon bereits Tonnen wiege, habe er hierzu eine große Kraft aufbringen müssen. Dieser Vorgang müsse in einer Zwangshaltung absolviert werden mit einer großen Belastung der Arme. Auch müssten bis zu 40 Waggons miteinander verhakt werden, teilweise 22 bis 26 Mal in einer 8 Stunden – Schicht. Der Kläger hat zudem eine Stellungnahme vom 03.09.2018 vorgelegt, in der er weitere Angaben zu seiner beruflichen Belastung gemacht hat (vgl. Bl. 1 bis 4 und Bl. 12 der SG-Akte).

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.09.2019 abgewiesen und ausgeführt, dass die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 nicht erfüllt seien. Das zur Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe "langjähriges Heben und Tragen von schweren Lasten" entwickelte Mainz-Dortmunder-Dosis-Modell (MDD) fordere als Richtwert für eine geeignete berufliche Belastung eine Gesamtdosis von 25 x 106 Nh. Der untere Grenzwert bei dessen Unterschreiten nach gegenwärtigem Wissenstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Wirbelsäule ausgeschlossen sei und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden könne, betrage 12,5 x 106 Nh. Diesen unteren Grenzwert unterschreite der Kläger mit einer Gesamtbelastungsdosis von 4 MNh deutlich.

Der Kläger hat gegen den am 25.09.2019 zugestellten Gerichtsbescheid am 25.10.2019 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und hat zur Begründung im Wesentlichen auf das bisherige Vorbringen im Verwaltungs- und SG-Verfahren verwiesen. Hiermit habe sich das SG nicht ausreichend auseinandergesetzt und seine Amtsermittlungspflicht verletzt. Das BSG habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Belastungswerte des MDD keine Grenz- sondern allenfalls Orientierungswerte als Hilfe bei der Beurteilung des medizinischen Zusammenhangs zwischen versicherter Einwirkung und Erkrankung darstellten.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 18.09.2019 sowie den Bescheid vom 18.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf ihre bisherigen Ausführungen sowie den Gerichtsbescheid vom 18.09.2019 verwiesen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt (Beklagte Schreiben vom 26.03.2020, Bl. 24 der Senatsakte, Kläger Schreiben vom 30.03.2020, Bl. 25 der Senatsakte).

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheiden konnte, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache aber ohne Erfolg.

Der angefochtene Bescheid vom 18.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2018 ist nicht rechtswidrig, der Kläger wird nicht in seinen Rechten verletzt. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung seiner Erkrankungen der Wirbelsäule als BK Nr. 2108.

Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). BKen sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Aufgrund der Ermächtigung in § 9 Abs. 1 SGB VII hat die Bundesregierung die BKV vom 31.10.1997 (BGBl. I, S. 2623) erlassen, in der die derzeit als Berufskrankheiten anerkannten Krankheiten aufgeführt sind.

Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen (vgl. BSG 02.04.2009 - B 2 U 9/08 R - juris). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit. Ebenso wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den BK-Folgen, die dann gegebenenfalls zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der BK keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.

Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSGE 45, 286); eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der herrschenden medizinisch wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (BSGE 60, 58 m.w.N.; vgl. auch Mehrtens/Brandenburg, BKV, E § 9 RdNr. 26.2). Ein Kausalzusammenhang ist insbesondere nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Lässt sich eine Tatsache nicht nachweisen oder ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten dessen, der einen Anspruch aus der nicht erwiesenen Tatsache bzw. dem nicht wahrscheinlich gemachten Kausalzusammenhang für sich herleitet (BSGE 19,52, 53; 30,121, 123; 43, 110, 112).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens einer BK Nr. 2108. Der Senat kann weder feststellen, dass der Kläger bei seiner Tätigkeit als Hemmschuhleger einer ausreichenden Belastungsdosis zur Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule unterlag noch liegt eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule beim Kläger nach den beigezogenen Befundberichten vor.

Nach der Nr. 2108 der BKV sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule, die durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht sind und die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als BK anzuerkennen.

Zur Bestimmung des Ausmaßes der erforderlichen Einwirkungen bei der BK Nr. 2108 ist nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R -, juris, Rz. 15 ff.) auf der Basis der Deutschen Wirbelsäulenstudie auf das MDD (Mainz-Dortmunder Dosismodell) abzustellen (vgl. dazu die grundlegende Veröffentlichung von Jäger, Luttmann, B., Schäfer, Hartung, Kuhn, Paul, Francks, Retrospektive Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder, in: ASUMed 1999, S. 101 ff., 112 ff. und 143 ff.), das zwischenzeitlich für weite Bereiche eingeführt wurde (vgl. Fröde, Sozialer Fortschritt 2001, 117, 120; Hofmann, B., Dupuis, Rehder, Berufsbedingte Wirbelsäulenerkrankungen - Biomechanik, Epidemiologie, Exposition, Klinik und Begutachtung, in: ZblArbeitsmed 2002, 78, 86 f.). Dieses Modell stellt grundsätzlich eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK Nr. 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten nur ungenau umschriebenen Einwirkungen dar (BSG, Urteil vom 19. August 2003 - B 2 U 1/02 R -, juris). Jedoch müssen die vom MDD vorgegebenen Orientierungswerte im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse modifiziert werden (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R -, juris). Welches Maß an belastenden Einwirkungen mindestens erforderlich ist, um eine Berufskrankheit - ggf. unter Einbeziehung weiterer Kriterien - anzuerkennen oder umgekehrt, wo die Mindestgrenze liegt, bis zu der ein rechtlich relevanter Ursachenzusammenhang ohne weitere Prüfung ausgeschlossen werden kann, ist danach unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu entscheiden (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, juris). Bezüglich der BK Nr. 2108 bedarf das MDD im Hinblick auf die an seinen wissenschaftlichen Grundlagen und seinem Berechnungsmodus geäußerte Kritik der weiteren Überprüfung. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse deuten nämlich darauf hin, dass auch unterhalb der Orientierungswerte nach dem MDD liegende Werte ein erhöhtes Risiko für Bandscheibenerkrankungen auslösen können. Auf eine Mindesttagesdosis ist daher entsprechend dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh bei Männern herabzusetzen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 23. April 2015 -, juris, Rz. 14).

Vorliegend erfüllt der Kläger diese Kriterien nach Überzeugung des Senats nicht. Denn der Senat konnte nicht feststellen, dass der Kläger überhaupt schwere Lasten gehoben und getragen hat. Der Senat entnimmt den Stellungnahmen des Präventionsdienstes der Beklagten vom 13.04.2018, dass die Hemmschuhe ein Gewicht von 6,5 kg hatten und mit Haken mit einem Gewicht von 10 kg von den Schienen genommen werden konnten. Auch liegen nach den Aufnahmen des Präventionsdienstes Hemmschuhe am Arbeitsort des Klägers in Abständen von 10 bis 15 Metern auf Erhebungen bereit, so dass ein längerer Transportweg nicht anfällt. Das Freisetzen der eingeklemmten Hemmschuhe erfolgte unter Einsatz einer Kippstange. Ein regelmäßiges Heben und Tragen der Hemmschuhe wird in den Stellungnahmen des Präventionsdienstes über die Arbeitsweise der Hemmschuhleger am Rangierbahnhof in K. nicht beschrieben.

Auch den Einwänden des Klägers in seinem Schreiben vom 03.09.2018 sowie dem Vortrag seiner Prozessbevollmächtigten im Verwaltungsverfahren und im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger tatsächlich schwere Lasten gehoben und und getragen hat. Der Kläger selbst hat in seiner Stellungnahme vom 03.09.2018 auf die Kraftanstrengung beim Hervorziehen des Hemmschuhs unter dem Eisenbahnwagen sowie den körperlich anstrengenden und stressigen Vorgang des Verhakens der Wagen verwiesen. Diese Tätigkeiten beinhalten jedoch kein Tragen von schweren Lasten, sondern wirken sich – wie der Kläger selbst angibt – belastend auf die Haltung und die Arme aus. Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers in der Widerspruchsbegründung sowie nachfolgend im Klage- und Berufungsverfahren rügt, dass die Beklagte die Besonderheiten der Tätigkeit des Klägers nicht berücksichtigt habe, trifft dies nicht zu. Die Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 13.04.2018 wurde nach den örtlichen Gegebenheiten und der vom Arbeitgeber angegeben betrieblichen Auslastung des Rangierbahnhof K. erstellt. Soweit der Kläger eine weitaus höhere Arbeitsbelastung angibt, steht dies im Widerspruch zu den Aussagen des Betriebs, wonach sich insbesondere seit dem Jahr 2004 die Wagenzahl deutlich verringert hat. Belege für seine abweichenden Angaben zur Auslastung hat der Kläger nicht vorgelegt. Auch die Angabe von langen Gehstrecken sind angesichts der in Abständen von 10 bis 15 Meter bereitgestellten Hemmschuhe nach dem Foto auf Blatt 91 der Verwaltungsakte nicht nachvollziehbar. Letztlich kann dies jedoch dahingestellt bleiben, da selbst nach dem Vortrag des Klägers nicht ersichtlich ist, dass er tatsächlich dauernd schwere Lasten gehoben und getragen hat. Sofern er in seiner Stellungnahme vom 03.09.2018 das Gewicht der Hemmschuhe teilweise auch auf 25 kg beziffert, war er nach seinen Ausführungen nur manchmal in diesem Bereich eingesetzt, wobei sich die Gewichtsangabe von 25 kg in den Ermittlungen des Präventionsdienstes nicht bestätigt und der Kläger auch keine Belege für seine abweichenden Angaben vorgelegt hat. Insofern sah sich der Senat auch nicht zu weiteren Ermittlungen dazu veranlasst, ob der Vortrag des Klägers bezüglich des Gewichts der Hemmschuhe von 25 kg tatsächlich zutrifft.

Der Präventionsdienst der Beklagten kommt in seiner Stellungnahme vom 13.04.2018 zum Ergebnis, dass der Kläger bei seiner Tätigkeit als Hemmschuhleger im Zeitraum vom 29.06.1981 bis zum 12.03.2017 einer beruflichen Gesamtbelastungsdosis von 4 x 106 Nh unterlag. Zwar ist der Kläger seit dem 29.06.1981 und somit langjährig, das bedeutet mindestens 10 Berufsjahre tätig gewesen (vgl. das aktuelle Merkblatt 2108, BArbBl. 2006, Heft 10, S. 30, Abschnitt IV; bestätigend auch BSG, Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 6/13 R -, juris). Er erreicht jedoch bei Weitem nicht den Orientierungswert von 25 x 106 Nh.

Soweit der Kläger rügt, dass das SG seine Amtsermittlungspflichten verletzt habe, folgt dem der Senat nicht. Die vom Präventionsdienst in seiner für den Senat überzeugenden Stellungnahme vom 13.04.2018 ermittelte Gesamtbelastungsdosis von 4 x 106 Nh unterschreitet deutlich den hälftigen Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh. Werden die Orientierungswerte so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R –, juris) das Vorliegen einer BK Nr. 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf. Das SG hat daher zu Recht, keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen unternommen. Die Anerkennung einer BK nach der Nr. 2108 scheitert somit bereits daran, dass der Kläger die sogenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Selbst bei unterstellter ausreichender beruflicher Belastung käme jedoch vorliegend die Anerkennung einer BK Nr. 2108 nicht in Betracht, da eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule des Klägers nicht nachgewiesen ist.

In den am 04.08.2005 veröffentlichten Konsensempfehlungen der interdisziplinären Arbeitsgruppe "Medizinische Beurteilungskriterien bei den Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule" (Trauma und Berufskrankheit 3, 2005, S. 211 ff. Konsensempfehlungen) entsprechen die im vollen Konsens aller Teilnehmer verabschiedeten Kriterien zur Überzeugung des Senats der gegenwärtigen herrschenden Meinung der Wissenschaft, welche der Senat daher in ständiger Rechtsprechung (vgl. stellvertretend Urteil des Senats 28.01.2011 - L 8 U 4946/08 – juris = www.sozialgerichtsbarkeit.de) seiner Entscheidung zugrunde legt. Die Konsensempfehlungen 2005 sind nach wie vor eine hinreichende Grundlage für die Bestimmung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands, ohne dass ihnen allerdings ein irgendwie gearteter normativer Charakter zukäme (BSG 23.04.2015 - B 2 U 20/14 R - juris). Danach ist Grundvoraussetzung für die Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs eine nachgewiesene bandscheibenbedingte Erkrankung, die ihrer Ausprägung nach altersuntypisch sein muss, bei ausreichender beruflicher Belastung mit plausibler zeitlicher Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung (vgl. Konsensempfehlungen a.a.O., Nr. 1.4, S. 216). Eine Betonung der Bandscheibenschäden an den unteren drei Segmenten der Lendenwirbelsäule spricht eher für einen Ursachenzusammenhang der beruflichen Belastung, während ein Befall der Halswirbelsäule und/oder der Brustwirbelsäule je nach Fallkonstellation gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen kann. Für den Vergleich zwischen Lendenwirbelsäule und darüber gelegenen Wirbelsäulenabschnitten sind Chondrosen und Vorfälle maßgeblich. Das Vorliegen einer Begleitspondylose spricht für eine berufliche Verursachung. Bestehen jedoch wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren, die das Schadensbild durch eine überragende Qualität erklären, ist ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich (a.a.O.).

Nach der Rechtsprechung des Senats zur BK Nr. 2108 (vgl. u.a. Urteile des Senats vom 28.01.2011 a.a.O. und vom 26.10.2012 - L 8 U 4948/10 - unveröffentlicht) sind unter bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule chronische oder chronisch wiederkehrende Beschwerden mit Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule zu verstehen, die ursächlich auf eine Bandscheibenschädigung zurückzuführen sind oder mit einer solchen in einer kausalen Wechselbeziehung stehen (vgl. BSG 31.05.2005, SozR 4 5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2; Brandenburg, BG 1993, 791/794). Den Tatbestand der BK Nr. 2108 erfüllen nur solche Schäden der Wirbelsäule, die sich als das Resultat einer langjährigen schädigenden Einwirkung auf die Lendenwirbelsäule darstellen. Ein morphologisch objektivierbares Schadenssubstrat ist daher zwingend erforderlich. Die ausgelösten degenerativen Prozesse, zu denen anlagebedingte Wirbelsäulenstörungen und Fehlhaltungen nicht gehören, finden sich in durch bildgebende Verfahren objektivierbaren Formen wieder, die auch gemeinsam auftreten können. Nach den Konsensempfehlungen ist zwischen Erkrankung und Bandscheibenschaden zu unterscheiden (der bildgebend dargestellte Bandscheibenschaden muss auch zu klinischen Beschwerden geführt haben, die eine Erkrankung verursachen, Konsensempfehlung Nr. 1.3). Eine Erkrankung erfordert daher nicht nur den Nachweis eines Bandscheibenschadens, sondern die Schädigung muss auch klinisch manifest geworden sein, d.h. Beschwerden hervorgerufen haben (vgl. BSG 31.05.2005 a.a.O.).

Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule wurde beim Kläger nicht diagnostiziert. Der Senat entnimmt den im Verwaltungsverfahren beigezogenen Entlassungsberichten vom 26.10.2015 über die Reha in der Knappschaftsklinik in B. N. sowie vom 08.06.2017 über die Reha vom 04.05.2017 bis zum 25.05.2017 in der Knappschafts-Klinik B. S.-S., dass der Kläger an einer Unkovertebralarthrose der Halswirbelsäule C 5 bis C 6 mit NP-Protrusion C5/C6 rechts mit Irritation von C6 rechts leidet. Ein pathologischer Befund der Lendenwirbelsäule wird dagegen nicht diagnostiziert und ist auch nicht den weiteren beigezogenen Befundberichten zu entnehmen. Ein MRT der Brustwirbelsäule ergab nach dem Entlassungsbericht vom 26.10.2015 bis auf diskrete degenerative Veränderungen keinen Nachweis einer diskogen bedingten spinalen oder foraminalen Enge bzw. einer intraspinalen Raumforderung. Bildgebende oder klinische Befunde über Schädigungen der Lendenwirbelsäule liegen nicht vor. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule ist daher nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, so dass die Anerkennung einer BK Nr. 2108 auch am Fehlen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule scheitert.

Die Berufung des Klägers war daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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