L 18 AL 200/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 58 AL 3908/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 200/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu er-statten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosen-geld (Alg) für die Zeit vom 23. März 2015 bis 9. September 2015 und die von der Be-klagten für die Zeit vom 24. April 2015 bis 31. August 2015 geltend gemachte Erstat-tung von gezahltem Alg iHv insgesamt 4.470,40 EUR nebst Beiträgen zur Kranken- bzw Pflegeversicherung (KV/PV) iHv 1.140,24 EUR bzw 169,59 EUR.

Die Klägerin war bis 28. Februar 2015 bei der j GmbH versicherungspflichtig be-schäftigt; das Arbeitsverhältnis endete wegen Insolvenz der Arbeitgeberin durch Aufhebungsvertrag vom 23. Februar/3. März/4. März 2015 unter Gewährung einer Abfindung. Die Klägerin meldete sich am 3. März 2015 arbeitslos. Die Beklagte be-willigte Alg nach Ablauf einer Ruhensfrist wegen der erhaltenen Entlassungsent-schädigung ab 24. April 2015 für 180 Tage bis 23. Oktober 2015 iHv tgl 35,20 EUR (Ru-hensbescheid und Bewilligungsbescheid vom 12. März 2015).

Die Klägerin erkrankte arbeitsunfähig vom 23. März 2015 bis 22. Mai 2015 und war in diesem Zeitraum aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, eine versiche-rungspflichtige Beschäftigung auszuüben. Die entsprechenden ärztlichen Be-scheinigungen legte sie der Beklagten anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 10. September 2015 vor. Mit Bescheiden vom 10. September 2015 hob die Be-klagte die Alg-Bewilligung für die Zeit ab 23. März 2015 auf und forderte Erstattung des für die Zeit vom 23. Mai 2015 bis 31. August 2015 gezahlten Alg iHv 3.449,60 EUR nebst KV/PV-Beiträgen iHv 1.140,24 EUR bzw 169,59 EUR (Gesamtforderung 4.759,43 EUR). Für die Zeit vom 24. April 2015 bis 22. Mai 2015 stehe der Klägerin ein Kranken-geldanspruch zu, so dass insoweit (1.020,80 EUR) die Krankenkasse zur Erstattung aufgefordert worden sei. Mit Bescheid vom 25. September 2015 bewilligte die Be-klagte Alg für die Zeit ab 10. September 2015 für 180 Tage bis 9. März 2016 iHv tgl 35,20 EUR. Den Widerspruch gegen die vorgenannten Bescheide wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2015 zurück. Krankengeld ist der Kläge-rin für den Streitzeitraum nicht gezahlt worden.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Beklagte, nachdem die Krankenkasse insoweit eine Erstattung für die Zeit vom 24. April 2015 bis 22. Mai 2015 abgelehnt hatte, von der Klägerin auch die Erstattung des auf diesen Zeitraum entfallenden Alg-Betrages iHv 1.020,80 EUR gefordert (Bescheid vom 15. April 2016). Die Klägerin hat bekräftigt, die Arbeitsunfähigkeits(AU)-Bescheinigungen jeweils zeitnah bei der Beklagten eingereicht zu haben.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Aufhebung der Bescheide vom 10. Sep-tember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2015 ge-richtete Klage abgewiesen (Urteil vom 21. Oktober 2016). Zur Begründung ist aus-geführt: Die Alg-Bewilligung sei rechtswidrig gewesen. Für die Zeit vom 24. April 2015 bis 22. Mai 2015 sei die Klägerin wegen ihrer AU nicht verfügbar und damit nicht arbeitslos gewesen. Die Nahtlosigkeitsregelung in § 145 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) sei ebenfalls nicht anwendbar, weil die Klägerin nicht im laufenden Bezug von Alg erkrankt sei. Ein Alg-Anspruch für die Zeit vom 23. Mai 2015 bis 31. August 2015 habe wegen Erlöschens der Arbeitslosmeldung nach § 141 Abs. 2 Nr. 1 SGB III nicht bestanden. Die Beklagte sei gemäß § 48 Sozialge-setzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) auch berechtigt und verpflichtet gewesen, die Alg-Bewilligung rückwirkend aufzuheben, weil die Klägerin ihrer Pflicht, die AU unverzüglich mitzuteilen, pflichtwidrig nicht nachgekommen sei.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Der Aufhebungsbe-scheid vom 10. September 2015 sei bereits unbestimmt, da er das Datum des Alg-Bewilligungsbescheides nicht benenne.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 2016 und die Bescheide der Beklagten vom 10. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 27. Oktober 2015 aufzuheben.

Die Beklagte, die ein Anhörungsverfahren (Schreiben vom 9. Oktober 2017) zu ih-ren Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen nachgeholt hat, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Gerichtsakte und die Verwal-tungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Gegenstand des Verfahrens sind neben der Entscheidung der Vorinstanz der Be-scheid vom 10. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2015 über die Aufhebung der Alg-Bewilligung ab 23. März 2015, deren Regelungswirkung bis zur Neubewilligung von Alg ab 10. September 2015 reicht, und die Erstattung des für die Zeit vom 23. Mai 2015 bis 31. August 2015 gezahlten Alg iHv 3.449,60 EUR nebst KV/PV-Beiträgen iHv 1.140,24 EUR bzw 169,59 EUR (Gesamtfor-derung 4.759,43 EUR), ferner der Erstattungsbescheid vom 15. April 2016 iHv 1.020,80 EUR, der sich auf den Zeitraum vom 24. April 2015 bis 22. Mai 2015 bezieht und der den insoweit ergangenen weiteren Bescheid vom 10. September 2015 iSv § 96 Abs. 1 SGG in vollem Umfang ersetzt hat. Auch über den letztgenannten Bescheid war mit der Berufung zu entscheiden (vgl Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 26. Mai 2011 – B 10 EG 12/10 R = SozR 4-7837 § 4 Nr 2). Die Klägerin wendet sich ge-gen diese Bescheide mit der statthaften isolierten Anfechtungsklage.

Von einer notwendigen Beiladung der Krankenkasse (vgl § 75 Abs. 2 und 5 SGG) hat der Senat abgesehen, weil die Klägerin keine Leistungsklage erhoben hat und über einen Krankengeldanspruch der Klägerin im Rahmen der hier zu prüfenden isolierten Anfechtungsklage gegen die Alg-Aufhebungsentscheidung und die Er-stattungsentscheidungen der Beklagten nicht zu befinden war (vgl hierzu BSG, Ur-teil vom 2. November 2000 – B 11 AL 25/00 R – juris – Rn 17). Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist hinreichend bestimmt iSv § 33 Abs. 1 SGB X. Die Beklagte hat den Aufhebungszeitraum zutreffend benannt. Einer Be-nennung des (einzigen) Bewilligungsbescheides vom 12. März 2015 bedurfte es nicht. Es ergibt sich aus der getroffenen Aufhebungsentscheidung unzweideutig, dass die Alg-Bewilligung für den dort genannten Zeitraum vollständig aufgehoben werden sollte (vgl hierzu auch BSG, Urteil vom 25. Oktober 2017 – B 14 AS 9/17 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 19 – Rn 26, 32; BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 12 – Rn 25 ff). Auch die Benennung einer Gesamter-stattungsforderung genügt dem Bestimmtheitsgebot (vgl BSG SozR 4-1300 § 33 Nr 2).

Die Beklagte war berechtigt und verpflichtet, die Alg-Bewilligung für die Zeit ab 23. März 2015 (bis im Ergebnis 9. September 2015) aufzuheben. Grundlage ihrer Auf-hebungsentscheidung ist § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X iVm § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III. Danach ist die Beklagte, ohne dass dabei Ermessen auszuüben wäre, ver-pflichtet, einen Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Ver-hältnisse zurückzunehmen, soweit bei einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.

Die Alg-Bewilligung der Beklagten war mWv 23. März 2015 objektiv rechtswidrig. Denn die Klägerin war von diesem Zeitpunkt an arbeitsunfähig erkrankt und nicht in der Lage, einer versicherungspflichtigen, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung nachzugehen und damit mangels objektiver Verfüg-barkeit iSv § 138 Abs. 1 Nr. 3 iVm Abs. 5 Nr. 1 SGB III nicht mehr arbeitslos, ohne dass eine mehr als sechsmonatige Minderung ihrer Leistungsfähigkeit iSv § 145 Abs. 1 SGB III vorgelegen hätte. Auch ein Anspruch gemäß § 146 SGB III scheidet insoweit aus, weil die AU nicht während des Alg-"Bezugs" iS eines realisierbaren Alg-Anspruchs (vgl zur Vorgängerregelung in § 105b Arbeitsförderungsgesetz BSG, Urteil vom 29. März 2001 – B 7 AL 14/00 R – juris – Rn 15; BSG, Urteil vom 2. No-vember 2000 – B 11 AL 25/00 R – Rn 21; zu § 126 SGB III aF BSG, Urteil vom 7. Februar 2002 – B 7 AL 28/01 R – juris – Rn 20) eingetreten ist, sondern während des Ruhens des Alg-Anspruchs. Ein Anspruch auf Krankengeld, über den hier nicht zu entscheiden war, dürfte indes ungeachtet der Aufhebung der Alg-Bewilligung dem Grunde nach (nur) für die Zeit des Alg-Bezugs vom 24. April 2015 bis 31. August 2015 (vgl die aufgrund des Alg-Bezugs eingetretene Versicherungs-pflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversiche-rung – (SGB V) in der vom 1. Januar 2015 bis 31. Dezember 2015 geltenden Fas-sung) bestanden haben, nicht aber für die Zeit vom 23. März 2015 bis 23. April 2015, da insoweit keiner der in § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V genannten Ruhenstatbe-stände vorlag.

Da durch das mehr als sechswöchige Unterbrechen der Arbeitslosigkeit (AU bis 22. Mai 2015) die Arbeitslosmeldung entfallen war (vgl § 141 Abs. 2 Nr. 1 SGB III), be-stand ein Alg-Anspruch der Klägerin erst mit der erneuten Arbeitslosmeldung ab 10. September 2015.

Die Klägerin hat durch die nicht unverzügliche Vorlage der AU-Bescheinigungen entgegen § 311 SGB III ihre Anzeige- und Mitwirkungspflicht zumindest grob fahr-lässig verletzt. Der Senat ist wie das SG überzeugt, dass die Klägerin die maßge-benden AU-Bescheinigungen (Erstbescheinigung vom 23. März 2015, Folgebe-scheinigungen vom 7. und 16. April 2015 sowie vom 7. Mai 2015) der Beklagten erstmals am 10. September 2015 vorgelegt hat. Der Vortrag, sie habe die Bescheini-gungen immer zügig zur Post gegeben, ist nicht glaubhaft, da kein Eingang der an-geblichen vier Briefe bei der Beklagten feststellbar ist. Der Klägerin war nach ihrer Einsichts- und Kritikfähigkeit in Anwendung eines subjektiven Fahrlässigkeitsmaß-stabes nach den Hinweisen in dem ihr ausgehändigten Merkblatt 1 für Arbeitslose auch ohne weiteres klar erkennbar, dass sie die AU anzuzeigen und die Beschei-nigungen zeitnah vorzulegen hatte. Schließlich hat sie diese auch bei der Kran-kenkasse erstmals am 10. September 2015 vorgelegt (vgl auch Schreiben der BKK Pfalz vom 18. September 2015).

Die Anhörung der Klägerin ist von der Beklagten nachgeholt worden. Zwar hat der Beklagte die Klägerin vor Erlass der in ihre Rechtsposition eingreifenden Aufhe-bungsund Erstattungsentscheidungen nicht angehört. Ausgehend von ihrer inso-weit maßgeblichen (vgl BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 4 AS 37/09 R = SozR 4-1300 § 41 Nr 2 – Rn 12) materiell-rechtlichen Rechtsansicht ist aber bereits wäh-rend des Widerspruchsverfahrens, in dessen Rahmen sich die Klägerin zu den aus Sicht des Beklagten entscheidungserheblichen Tatsachen äußern konnte, die er-forderliche Anhörung nachgeholt und damit der Verfahrensmangel gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X geheilt worden. Selbst wenn dies als nicht ausreichend anzusehen wäre, hat die Beklagte im Rahmen des Berufungsverfahrens ein förmli-ches Anhörungsverfahren durch das an die Klägerin adressierte Schreiben vom 9. Oktober 2017 in die Wege geleitet. Die Beklagte ist im Grundsatz nach § 41 Abs. 2 SGB X befugt, die fehlende Anhörung bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozi-algerichtlichen Verfahrens nachzuholen (dazu etwa BSG Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 22; BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2; BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R – Rn 21). Wegen der Aufhebungs- und Erstattungsentscheidun-gen kam - vom rechtlichen Ausgangspunkt der Beklagten betrachtet - im Übrigen die Regelung des § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X zum Tragen, weil von den tatsächlichen Angaben, die die Klägerin am 10. September 2015 gemacht hat, nicht zu ihren Un-gunsten abgewichen werden sollte.

Die Erstattungspflicht der Klägerin hinsichtlich des zu Unrecht bezogenen Alg folgt aus § 50 Abs. 1 SGB X. Die Beklagte hat die Alg-Rückforderung iHv insgesamt 4.470,40 EUR für die Zeit vom 24. April 2015 bis 31. August 2015 zutreffend berechnet. Hinsichtlich der von der Klägerin nach § 335 Abs. 1 und Abs. 5 SGB III zu erstatten-den KV/PV-Beiträge hat die Beklagte einen niedrigeren als den tatsächlichen Ge-samtbetrag (1.140,24 EUR bzw 169,59 EUR anstatt 1.477,66 bzw 219,77 EUR) geltend ge-macht, was die Klägerin indes nicht beschwert. Da die Klägerin nicht pflichtgemäß gehandelt hatte, kommt auch im Hinblick auf die sog teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs von § 335 SGB III (vgl hierzu BSG, Urteil vom 21. November 2002 – B 1 AL 79/01 R = SozR 3-4300 § 335 Nr 2 – Rn 17 ff) ein Absehen von der Erstattungspflicht nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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