S 15 KR 2293/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 15 KR 2293/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Zur schwerwiegenden Erkrankung im Sinne § 31 Abs. 6 SGB V
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Genehmigung einer Behandlung mit Cannabis.

Der im Jahre 1980 geborene Kläger beantragte am 13.07.2018 die Versorgung mit Bedrocan (Einzeldosis bis 0,5 g, Tagesdosis bis 1 g) aufgrund einer Antriebs- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-Diagnose F90.0), Migräne (F81.3) und Angst und depressive Störung gemischt (S 41.2). Als Behandlungsziel sei die Verbesserung der Arbeitsfähigkeit, der Lebensqualität und eine Reduktion der Kopfschmerzen und der Migräneattacken anvisiert. Die Erkrankung sei wegen Konzentrationsprobleme, innerer Unruhe, Kreisen von Gedanken, Anspannung und reduzierter Aufmerksamkeit bei depressiver Störung, Schlafstörung und Angsterkrankung schwerwiegend. Als Hintergrund wird ein erlittenes Schädel-Hirn-Trauma und anschließender epileptischer Störung mit antikonvulsiver Therapie bis 2009 angegeben. Das ADHS-Syndrom werde gerade nicht medikamentös behandelt, gegen die Cephalgie und Migräne erhalte der Kläger NSRA bzw. Triptane.

Die Standardbehandlung würde vom Kläger nicht vertragen werden. Sie habe viele Nebenwirkungen wie Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit und Rebound bei mangelnder Schmerzdämpfung. Es liege eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome vor, da der behandelnde Arzt Dr. D. die Behandlung mit Cannabis bereits als Selbstzahlerleistung durchführen würde.

Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Beurteilung. Dieser verneinte das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Es sei auch medizinisch nicht nachvollziehbar, dass das Arzneimittel eingesetzt werden solle. In Bezug auf ADHS sei seit Jahren keine medikamentöse Therapie mehr erfolgt. Auch sei eine spezielle Schmerztherapie durch spezialisierte Schmerztherapeuten nicht dokumentiert, aber möglich. In Bezug auf die psychischen Erkrankungen sei ein Psychotherapiezyklus zuletzt im Jahre 2011 durchgeführt worden. Eine Psychotherapie sei vorrangig.

Aufgrund dieser Einschätzung wurde der Antrag mit Bescheid vom 26.07.2018 abgelehnt. Eine Kostenübernahme für Bedrocan sowie einen gegebenenfalls erforderlichen Verdampfer sei nicht möglich.

Hiergegen richtet sich der Widerspruch vom 26.09.2018 durch den behandelnden Privatarzt Dr. D ... Eine schwerwiegende Erkrankung würde vorliegen. Es sei eine mehrjährige Behandlung mit Ritalin und Citalopram durchgeführt worden. Diese sei aber nicht zielführend gewesen. Der Teilnahme des Klägers an einer anonymisierten Begleitforschung stehe nichts entgegen. Die Durchführung einer speziellen multimodalen Schmerztherapie sei nicht ausreichend, zumal diese in Teilen bereits im Vorfeld erfolglos versucht worden sei. Es gelte die Arbeitsfähigkeit und die Gesundheit des Klägers zu erhalten. Eine weitere ambulante Psychotherapie sei derzeit nicht erforderlich. Der beantragte Behandlungsversuch, der temporär ausgelegt sei, sei eine sinnvolle und alternativlose Maßnahme.

Der Kläger ergänzte die Stellungnahme des behandelnden Arztes am 01.10.2018. Er leide seit seiner Kindheit an ADHS. Die Krankheit sei allgegenwärtig und er habe große Schwierigkeiten, seinen Alltag ohne permanente Beeinträchtigung zu meistern. Eine Medikation sei mit Ritalin über viele Jahre erfolgt. Während der Behandlung habe sich ein hoher Grad an Aggressivität gezeigt, sodass sich der tägliche Umgang mit den Mitmenschen als sehr problembehaftet erwiesen habe. Auch eine Behandlung mit Citalopram und eine ambulante Psychotherapie hätten zu keinem Erfolg geführt. Aktuell sei er mit Cannabis versorgt und das Krankheitsbild habe sich wesentlich verändert. Die körperlichen und psychischen Auswirkungen von ADHS würden durch Cannabis erheblich gelindert werden, ohne dass Nebenwirkungen wie Aggressivität den normalen Umgang im Alltag belasten würden. Seine Lebensqualität habe sich dadurch verbessert.

Der Antrag auf Versorgung mit Cannabis sei durch die Hausärztin erfolgt, da Dr. D. keine kassenärztliche Zulassung habe.

Die Beklagte fasste die Widerspruchsbegründung des Klägers als erneuten Antrag auf und beschied diesen ablehnend am 25.10.2018. Eine erneut eingeholte Stellungnahme des MDK Bayern vom 22.10.2018 führte zu keiner anderen Einschätzung: Eine schwerwiegende Erkrankung sei nicht ausreichend erkennbar. ADHS werde derzeit offenbar nicht therapiert. Eine Alternativlosigkeit der Behandlung mit Cannabinoiden sei nicht erkennbar.

Am 19.01.2019 wurde seitens Dr. D. eine weitere Stellungnahme vorgelegt. Eine Behandlung mit zugelassenen Arzneimitteln sei nicht möglich, da die medikamentöse Behandlung von ADHS zu vermehrten Migräneattacken geführt habe. Die Ausübung der beruflichen Tätigkeit sei in diesen Zeiten nicht möglich (gewesen). Auch würde der Kläger als Nebenwirkung der Behandlung über Erektionsstörungen berichten. Da er in einer intakten Partnerschaft leben würde, würde sich dies auf die Lebensqualität massiv auswirken. Eine durchgeführte Verhaltenstherapie habe weder die Symptome des Klägers gelindert noch habe sie zu einer Heilung geführt. Dr. D. könne die Ablehnung der Kostenübernahme für einen befristeten und begleiteten Behandlungsversuch nicht nachvollziehen.

Die Beklagte beauftragte sodann den MDK Bayern mit einer dritten Begutachtung. Mit Widerspruchsgutachten vom 27.06.2019 führt der MDK Bayern aus, dass die Erkrankung bislang nicht zu Teilhabestörungen im Beruf geführt habe. Angaben zu einem Grad der Behinderung, einer Erwerbsminderungsrente, einem Pflegegrad etc. würden nicht vorliegen. Als Standardtherapie sei die Vorstellung in einer ADHS-Spezialambulanz zu nennen, gegebenenfalls unterstützt durch eine Therapie nach den Psychotherapie-Richtlinien. Die wissenschaftliche Datenlage zum Einsatz von Cannabinoiden zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter sei nicht geeignet, um eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome zu begründen. Auch eine aktuelle Stellungnahme der ADHS Deutschland e.V. gehe nicht von einer empfehlenswerten Therapie aus. Die Nebenwirkung des Cannabis auf die kognitive Leistungsfähigkeit stünde nicht in einem gesunden Verhältnis zur Wirkung auf die Symptomatik des ADHS. In den aktuell gültigen Leitlinien zu Migräne und Kopfschmerzen hätten Cannabinoide keinen Stellenwert, weder zur Anfallsprophylaxe noch im Migränefall. Inhalative Cannabinoide sollten aufgrund der Pharmacokinetik und aufgrund von Sicherheitsaspekten nur in Ausnahmefällen angewendet werden.

Aufgrund dieser Einschätzung des MDK Bayern wurde sodann der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.2019 zurückgewiesen. Eine schwerwiegende Erkrankung sei nicht ableitbar. Auch könne nicht bestätigt werden, dass die vertraglich verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien.

Hiergegen richtet sich die Klage zum Sozialgericht München vom 18.09.2019.

Eine schwerwiegende Erkrankung müsse im Kontext von § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) so ausgelegt werden, dass es vor allem um die Einschränkung der Lebensqualität gehen würde. Medizinischer Cannabis verbessere vordergründig die Lebensqualität der Patienten durch Verminderung der Symptome, beispielsweise von Schmerzen oder Appetitlosigkeit. Damit sei vordergründig auf die Symptomatik abzustellen. Auch Gesetzeswortlaut und Gesetzesbegründung stellten eindeutig auf den Nutzen hinsichtlich der Symptomatik ab und nicht auf eine Heilung der Krankheit bzw. eine Einwirkung auf deren Verlauf. Rechtlich nicht vertretbar sei das Argument, dass eine Erwerbstätigkeit die Annahme einer schwerwiegenden Erkrankung ausschließen würde.

Die Genehmigungsanträge bei der Erstversorgung seien nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen, um der Therapiehoheit des Vertragsarztes und der Vertragsärztin Rechnung zu tragen. Dem behandelnden Vertragsarzt würde eine Einschätzungsprärogative eingeräumt werden, die von der Krankenkasse und im Gerichtsverfahren nur begrenzt auf inhaltliche Richtigkeit überprüfbar sei (Verweis auf Entscheidungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30.01.2019, Az. L 11 KR 442/18 B ER, und des Landessozialgerichts Hamburg vom 02.04.2019, Az. L 1 KR 16/19 B ER). Der Vertragsarzt müsse kein Gutachten vorlegen. Ausreichend sei, wenn er seine Einschätzung abgeben würde und diese begründe. Sofern diese nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei sei, sei diese Einschätzung hinzunehmen.

Es liege auch eine nicht ganz entfernte Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. auf die Symptomatik vor, wie die bereits in der Vergangenheit durchgeführte Therapie zeigen würde.

Der Kläger beantragt:

1. Der Bescheid vom 25.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.08.2019 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger ab Antragstellung mit Cannabis bzw. Cannabinoiden nach Maßgabe vertragsärztlicher Verordnungen zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.

Nach Auffassung der Beklagten würde weder eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen noch sei nachgewiesen, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung stehen würde oder im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen könne. Der Kläger sei in in den Jahren 2010-2012 ausweislich des beiliegenden Medikationskontos mit dem NSAR Ibuprofen 600 bzw. 800, dem Antidepressivum Citalopram und dem Muskelrelaxant Tetrazapim behandelt worden. In den Jahren 2016-2019 sei jeweils einmal im Jahr Ibuprofen 600 mg verordnet worden. Eine Behandlung der Cephalgie (Kopfschmerz) und Migräne mit Triptanen, wie im Arztfragebogen angegeben, sei nicht nachzuvollziehen. Eine Behandlung des ADHS mit Ritalin sei lediglich von Mai 1996 bis Dezember 1997 erfolgt. Andere medikamentöse und nicht medikamentöse Therapiemaßnahmen seien aus den Leistungsdaten der letzten fünf Jahre nicht zu eruieren.

Darüber hinaus sei keine begründete Einschätzung einer Cannabistherapie erfolgt. Insoweit wird auf die Anforderungen, die die Rechtsprechung (Verweis auf Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Februar 2019, Az. L 11 KR 240/18 B ER, Rn. 71) hierzu gestellt hat, verwiesen. Nachgängige Ermittlungen von Sachverständigen seien nicht in der Lage, die fehlende "begründete Einschätzung" zu substituieren.

Das Gericht hat die Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Nach dem Befundbericht der behandelnden Fachärztin für allgemeine Medizin Frau C., die auch den Antrag auf Genehmigung der Behandlung mit Cannabinoiden gestellt hat, vom 23.01.2020 ist der Kläger seit dem 26.06.2018 bei dieser im Behandlung. Der Kläger habe ihr gegenüber als Beschwerden die Verschlechterung der Schlafstörung mit psychischer Erschöpfung und Depression angegeben. Auch gehäufte Kopfschmerzattacken seien wieder aufgetreten. Diagnostisch seien u.a. eine Depression, ein chronischer Erschöpfungszustand, eine generalisierte Angststörung, eine Migräne, ein Zustand nach Epilepsie, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, eine psychogene Erschöpfung sowie Angst und depressive Störung gemischt zu nennen. Für den Kläger wurde im Jahre 2018 für sieben Tage, im Jahre 2019 für acht Tage und im Jahre 2020 seit dem 20.01.2020 bis auf weiteres (Stand: 23.01.2020) Arbeitsunfähigkeit festgestellt.

Die Ärztin führt weiter aus, dass der Kläger 2017 eine Erstverordnung vom Cannabis durch Dr. D. erhalten habe, wodurch eine deutliche Besserung der Symptomatik eingetreten sei (Abnahme der Migräneattacken, Verbesserung des Schlafs, der Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer bei der Arbeit, Reduzierung der Angstattacken und der inneren Unruhe). Die Depression habe sich leider seit Herbst 2019 deutlich verschlechtert und es sei eine psychosomatische Erschöpfung mit erneuten Schlafstörungen und Antriebsarmut eingetreten. Diese Symptome hätten sich durch die privat gezahlte Cannabistherapie zunächst deutlich gebessert. Die erneute massive Verschlechterung sei auf die psychische Belastung durch die nicht erfolgte Genehmigung der Therapie mit Cannabis und der dadurch bestehenden Unsicherheit der weiteren Therapie einschließlich der finanziellen Belastungen zurückzuführen. Auch komme es wieder zu starken Kopfschmerzattacken und Migräne vor allem nach Nächten mit gestörtem Schlaf.

Beigelegt wird ein ärztlicher Befundbericht für eine Rehabilitationsmaßnahme der Deutschen Rentenversicherung vom 29.03.2019. Danach hatte der Kläger im März 2019 Schlafstörungen und habe sich müde und erschöpft gefühlt. Er sei kaum regenerationsfähig über das Wochenende sowie reizbar und habe Gedankenkreisen und Konzentrationsprobleme. Dies führe zu Angst vor einem Arbeitsplatzverlust. Diagnostisch seien ein chronischer Erschöpfungszustand, Angst und depressive Störung, allergisches Asthma und Migräne gegeben.

Dr. D. gab mit Befundbericht vom 03.02.2020 an, dass der Kläger seit Juli 2018 nicht mehr bei ihm in Behandlung gewesen sei. Er habe lediglich auf Wunsch des Klägers das Schreiben im Widerspruchsverfahren vom 19.01.2019 verfasst. Konkrete Beschwerden könne er daher für den Zeitraum ab Juli 2018 nicht angeben. Zuvor habe der Kläger angegeben, ständig unter Stress zu stehen und habe von sprunghaften Gedanken und Konzentrationsschwierigkeiten berichtet. Es habe eine konstante körperliche Unruhe mit Tendenz zu hyperkinetischem motorischen Verhalten bestanden. Morgens habe Gedankenkreisen bei ansonsten stabiler Stimmungslage bestanden. Berichtet wird auch von einer manifesten Durchschlafstörung mit im Schnitt fünfmaligem Erwachen pro Nacht. Auch sei der Kläger impulsiv im Sozialverhalten mit raschem Aufbrausen und verbalen Entgleisungen gewesen.

Seit Juli 2018 seien keine Befunde erhoben worden. Seit 1995 habe eine Antriebs- und Aufmerksamkeitsstörung sowie eine Hochbegabung mit sekundärer Verhaltensstörung bestanden. Seit 1995 sei auch eine Migräne bei positiver Familienanamnese dokumentiert.

Der Kläger habe unter der Behandlung mit Cannabis eine Stabilisierung gezeigt.

Auf weitere Nachfrage des Gerichts führte Dr. D. ferner am 11.05.2020 aus, dass er dem Kläger von einer klageweisen Geltendmachung abgeraten habe. Er habe den Kläger nur am 20.03.2018 für eine Stunde gesehen und danach vor allem schriftliche Ausführungen für ihn bzgl. der Cannabis-Behandlung und einer Rehabilitationsmaßnahme gemacht. Er habe alleine am 20.03.2018 einmal ein BTM-Rezept mit insgesamt 30 g Bedrocan (Bedarf für vier Wochen) ausgestellt. Bzgl. der letzten Frage des Gerichts, in welchem Umfang Dr. D. wann im gesamten Behandlungszeitraum welche Medikamente gegen welche Beschwerdebilder verordnet haben, wurde erneut auf die anamnestischen Angaben des Klägers verwiesen, dass die Einnahme von Ritalin zu vermehrten Migräneattacken geführt hätte. Auch wurde die anamnestische Angabe des Klägers von Erektionsstörungen unter der Einnahme von SSRI zitiert sowie dargelegt, dass die durchgeführte Verhaltenstherapie weder die Symptome des Klägers gelindert noch zur Heilung geführt habe.

Auf Nachfrage des Gerichts, in welchem Umfang sie wann im gesamten Behandlungszeitraum welche Medikamente gegen welche Beschwerdebilder verordnet habe, gab Frau C. an, dass Triptane (Maxalt und Sumatriptan) als Muster ausgegeben worden seien und wegen mangelnder Wirksamkeit dann nicht auf Kassenrezept verordnet worden seien. Ritalin dürfe sie mangels Facharztzulassung nicht verordnen. Die Information über die Ritalin-Unverträglichkeit stamme vom Bruder und der Mutter des Klägers, vom Kläger selbst und von Dr. D ... NSRA seien frei verkäuflich. Sie habe zu einer Einnahme von 2x 400 mg Ibuprofen geraten. Dieses habe nicht gegen die Cephalgie gewirkt. Der Kläger sei seit 2017 ihr Patient. Über vorangegangene Behandlungen mit Antidepressiva könne sie keine Angaben machen, sie müsse sich auf die Angaben des Patienten verlassen. Sie habe seit Beginn der Behandlung Cannabisprodukte auf Privatrezept verordnet. Sie würde dieses auch auf BTM-Rezept verordnen. Ein erneuter Behandlungsversuch mit Antidepressiva sei vom Kläger abgelehnt worden. Der Kläger habe sich seit Frühjahr 2019 um eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme bemüht, diese sei nun genehmigt worden. Auf die Frage des Gerichts, ob sie vor dem Hintergrund einer sehr sporadischen Versorgung des Klägers mit Antidepressiva ohne vertragsfachärztliche ambulante psychiatrische oder neurologische Behandlung eine Verordnung von Cannabinoiden noch für medizinisch ratsam und notwendig erachtet, ist die Ärztin nicht eingegangen.

Der Allgemeinmediziner Dr. E. gab am 23.04.2020 gegenüber dem Gericht an, dass der Kläger wegen der beklagten Angelegenheit bei ihm nicht in Behandlung sei.

Die Beklagte macht mit Schreiben vom 21.04.2020 darauf aufmerksam, dass zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen in Deutschland vier Wirkstoffe zugelassen seien. Seit 2014 sei keine einziges dieser Medikamente verordnet worden. Auch sei in den letzten 14 Jahren, seit 2006, keine ambulante psychotherapeutische Therapie abgerechnet worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist möglich, da die Sache keinerlei Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden angehört.

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden und beschweren den Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Genehmigung einer Therapie mit Cannabinoiden gegen seine ADHS.

§ 31 Abs. 6 SGB V bestimmt: Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

a) nicht zur Verfügung steht oder

b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.

1. Die Erkrankung ADHS des Klägers ist keine schwerwiegende Erkrankung im Rechtssinne ist.

Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung wird in § 31 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in "eng begrenzten Ausnahmefällen" gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S 14 und 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert ist, hält es die Kammer für sachgerecht, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung so wie in § 35c Abs 2 Satz 1 SGB V zu verstehen. Auch bei dieser Bestimmung geht es um die Verwendung von Arzneimitteln als Alternative zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten, ohne dass bereits ausreichendes wissenschaftliches Erkenntnismaterial in Bezug auf den Nachweis einer Wirksamkeit zur Verfügung steht (vgl Flint in: Hauck/Noftz, § 35c SGB V, Rn 40). Es muss sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt (BSG 26.09.2006, B 1 KR/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 5, zitiert nach Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 - L 11 KR 3414/17 ER-B -, Rn. 28, juris).

Diese Voraussetzungen sind beim Krankheitsbild des Klägers zur Überzeugung des Gerichts nicht gegeben. Gegen eine besondere Schwere der Erkrankung spricht bereits die fehlende fachärztliche Versorgung des Klägers. Frau C. ist Allgemeinmedizinerin, die Ritalin (und andere Medikamente gegen ADHS) nicht verordnen darf und mangels Facharztausbildung das Krankheitsbild des Klägers nicht adäquat betreuen kann. Dr. D. hat zwar eine Facharztausbildung, hat den Kläger aber alleine am 20.03.2018 eine Stunde lang gesehen, d.h. alle von ihm erhobenen Befunde und darauf begründeten medizinischen Aussagen basieren auf dieser einen Begegnung. Mangels (aktueller) anderweitiger fachärztlicher Behandlung des Klägers kann sich Dr. D. insoweit auch nicht auf Fremdbefunde stützen. Die psychiatrischen Befunde (und Diagnosen) von Frau C. sind letztlich nur die Wiedergabe anamnestischer Angaben, da Frau C. trotz Nachfrage des Gerichts nicht angegeben hat, eigene psychiatrische Befunde erhoben zu haben. Auch Dr. D. gab in seinem Befundbericht vom 11.05.2020 unter Befunde (Ziffer 3) lediglich die anamnestischen Angaben des Klägers (Verweis auf Ziffer 2) an. Eine Verlaufskontrolle dieser Angaben ist bei einem einmaligen Besuch des Klägers bei Dr. D. entsprechend nicht erfolgt.

Gegen eine besondere Schwere des Krankheitsbilds des Klägers spricht auch die Tatsache, dass der Kläger bei einer behaupteten, medizinisch nicht bestätigten Ritalin-Unverträglichkeit (Frau C. verweist insoweit nur auf Dr. D., der nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme wiederum selbst kein Ritalin verordnet hat) keine Anstrengungen unternommen hat, Alternativ-Präparate (die Beklagte verweist in ihrem Schriftsatz vom 21.04.2020 zu Recht auf drei mögliche Alternativwirkstoffe) zu erhalten. Daher ist die Verneinung einer schwerwiegenden Erkrankung seitens des MDK Bayern im Gutachten vom 27.06.2019 (zur Verwertbarkeit von MDK-Gutachten im gerichtlichen Verfahren vergleiche Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juli 2015 - L 1 KR 104/15 -, Rn. 31, juris, unter Verweis auf BSG, Beschluss vom 23. Dezember 2004 - B 1 84/04 R - juris Rn. 5) schlüssig und nachvollziehbar; die Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne tragfähige psychiatrische Befunde ist insoweit nicht veranlasst.

2. Darüber hinaus ist die erste Fallalternative (Fehlen einer allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung) nicht einschlägig.

Die Beklagte hat zutreffend dargelegt, dass vier weitere Wirkstoffe neben Ritalin zur Verfügung stehen würden. Gleichwohl ist seit Jahren keine medikamentöse Standardtherapie mehr durchgeführt worden (vgl. Arzneimittelkonto, Bl. 72 der Gerichtsakte). Im Zeitraum zwischen 2012 und 2019 sind nahezu keine ambulanten Behandlungen auf neurologischem oder psychiatrischem Fachgebiet erfolgt (vgl. Bl. 73 der Gerichtsakte). Vielmehr ist es so, dass der Kläger eine solche psychiatrische Fachbehandlung ablehnt und einseitig eine Behandlung mit Cannabinoiden anstrebt. Dies ergibt sich aus der Aussage von Frau C., das der Kläger eine Behandlung mit Antidepressiva ablehnen würde, sie ihm gleichwohl aber seit geraumer Zeit auf Privatrezept Cannabinoide verordnen würde.

3. Es liegt keine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten vor, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann.

Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche, konkret zu erwartenden Nebenwirkungen der Standardtherapie und Nebenwirkungen der Cannabinoidtherapie (BT-Drucks. 18/10902 S. 19; BT-Drucks. 18/8965 S. 24; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.10.2018 - L 11 KR 3114/18 ER-B -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019 - L 11 KR 442/18 B ER -, Rn. 28, juris). Diesem Maßstab hält der von Frau C. vorgelegte Arztfragebogen (Bl.1-2 der Verwaltungsakte) nicht stand. Eine Abwägung der Cannabis-Behandlung mit bisherigen Therapieversuchen erfolgte überhaupt nicht. Zwar wurde dargelegt, dass die Therapie mit Ritalin (bis Dezember 1997) eine gute Symptomkontrolle zur Folge gehabt habe, aber als Nebenwirkungen Schlaf- und Appetitlosigkeit resultiert hätten. Letzteres kann Frau C. aber nur anamnestisch vom Kläger erfahren haben, da dieser 1997 noch nicht bei ihr in Behandlung war. Auf etwaige zu erwartende Nebenwirkungen einer Cannabis-Therapie geht Frau C. gar nicht ein. Auch zeigt sich, dass Frau C. - als Nicht-Fachärztin - gar nicht bewusst ist, dass noch andere Standardtherapie-Möglichkeiten (andere Wirkstoffe, Psychotherapie etc.) zur Verfügung stehen würden. Demgemäß wird nur ausgeführt, dass "sie" (die allgemeine Standard-Behandlungsoption) vom Kläger aufgrund der Nebenwirkungen nicht vertragen werde. Hierbei bezieht sich die Ärztin aber nur auf die 1997 (!) beendete Therapie mit Ritalin. Auf individuelle Verhältnisse des Patienten, u.a. auch auf mögliche Sucht-Gefahren, wird gar nicht eingegangen. Schließlich wird dargelegt, dass die Behandlung mit Cannabinoiden nicht nur gegen ADHS, sondern auch gegen Migräne und Angst und Depression (gemischt) helfen soll. Auf die beiden letzten Krankheitsbilder wird aber weder bzgl. der bisherigen Therapie noch bzgl. etwaiger Nebenwirkungen einer Cannabis-Behandlung eingegangen.

Auch die nachgereichte "fachärztliche Stellungnahme" von Dr. D. vom 26.09.2018 führt nicht zu einer anderen Bewertung, da auch Dr. D. nicht substantiiert auf bisherige Behandlungsversuche (bzgl. aller drei Störungen, gegen die Cannabis helfen soll) eingeht. Dies ist auch folgerichtig, da Dr. D. den Kläger nur von einer einzigen Behandlung her kennt.

Nach allem ergibt sich das Bild eines patientengetriebenen Wunsches nach einer Cannabis-Behandlung ohne ausreichende (fach-) ärztliche Begleitung und Absicherung.

Eine "begründete Einschätzung" kann nur im Verwaltungsverfahren vorgelegt werden und nicht durch nachgängige Ermittlungen eines Gerichts nachgeholt oder gar substituiert werden kann. Insoweit gilt, dass das Gericht nicht und insbesondere nicht durch eine aufwändige Beweisaufnahme zu klären hat, ob die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutrifft (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019 - L 11 KR 442/18 B ER -, Rn. 34, juris)

Die Klage war daher abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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