S 7 KR 1028/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 KR 1028/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wahl des Kostenerstattungsverfahrens im Krankenversicherungsrecht - Sonderrechtsnachfolge
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.05.2020 verurteilt, dem Kläger die Kosten der Leistungen nach dem SGB V in Höhe von 2.703,78 EUR anteilig zu erstatten. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Kostenerstattung für Behandlungen der ver-storbenen Ehefrau des Klägers.

Die 1944 geborene Ehefrau des Klägers war freiwilliges Mitglied bei der Beklagten. Die Ehe-frau des Klägers verstarb am 14.12.2019. Sie hatte für alle ambulanten ärztlichen Leistungen einschließlich der anordnungsfähigen, vom jeweiligen Vertragsarzt veranlassten Leistungen das Kostenerstattungsverfahren gewählt. Die Eheleute hatten sich gegenseitig bereits am 28.03.1996 eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht erteilt. Ferner war am 04.06.1984 ein Erbvertrag geschlossen worden, nach dem der erstversterbende Ehegatte den überleben-den Ehegatten zu seinem unbeschränkten Alleinerben berief.

Am 18.02.2020 beantragte der Kläger die Erstattung der Kosten für häusliche Krankenpflege, Arzneimittel, Physiotherapie, Podologie, Hilfsmittel und ärztliche Behandlung über insgesamt 2.703,78 EUR. Mit Bescheid vom 26.02.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Ansprüche auf Dienst- oder Sachleistungen würden mit dem Tod des Berechtigten erlöschen, wenn die An-sprüche zum Zeitpunkt des Todes nicht festgestellt oder ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig sei. Mit Schreiben vom 02.03.2020 legte der Kläger Widerspruch ein. Es handele sich um Kosten für medizinisch notwendige Behandlungen, die zu Lebzeiten seiner Ehefrau angefallen seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.05.2020 zurück.

Am 10.06.2020 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Konstanz erhoben.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2020 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 11.05.2020 zu verurteilen, ihm die Kosten der Leistungen nach dem SGB V in Höhe von 2.703,78 EUR anteilig zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, als Anspruchsgrundlage komme lediglich § 13 Abs. 2 des Fünf-ten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) in Betracht. Der Anspruch sei auf den Kläger nicht nach § 56 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) übergegangen. Der Anspruch auf Kostenerstattung sei hier beim Tod der Ehefrau des Klägers noch nicht fällig gewesen. Vorbehaltlich einer speziellen Satzungsregelung gemäß § 13 Abs. 2 S. 9 SGB V würde der Anspruch gemäß § 41 SGB I mit seinem Entstehen fällig. Der Kostenerstattungs-anspruch setze zwangsläufig die Fälligkeit der Vergütung der privatärztlichen Leistung vo-raus. Diese werde gemäß § 12 Abs. 1 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) erst fällig, wenn dem Zahlungspflichtigen eine der GOÄ entsprechende Rechnung erteilt worden sei. Nach § 23 Abs. 2 der Satzung der Beklagten seien der Kasse zur Erstattung die Rechnungen der Leis-tungserbringer und die Verordnungen vorzulegen. Der Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse werde somit erst mit Vorlage der ärztlichen Rechnungen fällig. Ungeachtet dessen sei der Anspruch des Klägers als Sonderrechtsnachfolger auf Kostenerstattung gemäß § 59 S. 2 SGB I erloschen, da zum Zeitpunkt des Todes der Ehefrau des Klägers bezüglich des streitgegenständlichen Kostenerstattungsanspruchs noch kein Verwaltungsverfahren ein-geleitet gewesen sei. Das Verwaltungsverfahren sei auch nicht durch die Wahl der Kostener-stattung im Sinne des § 59 SGB I eingeleitet worden. § 59 SGB I trage dem Umstand Rech-nung, dass es sich bei den Sozialleistungen um höchstpersönliche sozialrechtliche Ansprüche handele, die ihren Zweck nach dem Tod des Berechtigten nicht mehr erfüllen könnten und jedenfalls nicht der Vermehrung des Vermögens des Erben dienen sollten.

Der Kläger hat daraufhin vorgetragen, in diesem Fall müsse der Versicherte darauf hingewie-sen werden, dass die letzten Kosten vor dem Ableben de facto nicht erstattet würden. Diesen Hinweis habe die Beklagte nicht erbracht. Die Beklagte hat mitgeteilt, die Versicherte habe sich bereits ab dem 01.04.2007 für die Kostenerstattung entschieden. Diese Entscheidung sei von ihr zum 01.07.2017 bestätigt worden, als eine Satzungsänderung zur Kostenerstattung in Kraft getreten sei. Eine konkrete Beratungspflicht hinsichtlich des möglichen Ablebens eines Versicherten habe nach Ansicht der Beklagten nicht bestanden. Die Beklagte hätte sicher auf konkrete Fragen ihre Beratungspflicht erfüllt. Ferner hat die Beklagte auf gerichtliche Anfrage mit Schreiben vom 30.11.2020 mitgeteilt, dass von den Rechnungen über häusliche Kranken-pflege, Arzneimittel, Physiotherapie, Podologie, Hilfsmittel und ärztliche Behandlung, die Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits seien, keine Rechnung aus anderen Gründen nicht erstattungsfähig wäre.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat An-spruch auf anteilige Erstattung der Kosten nach dem SGB V von 2.703,78 EUR.

Gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienst-leistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen.

Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2) Kosten nur erstatten, soweit es dieses oder das Neunte Buch vorsieht.

Gemäß § 13 Abs. 2 SGB V können Versicherte anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kos-tenerstattung wählen. Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leis-tung in Kenntnis zu setzen. Der Leistungserbringer hat die Versicherten vor Inanspruchnahme der Leistung darüber zu informieren, dass Kosten, die nicht von der Krankenkasse übernom-men werden, von dem Versicherten zu tragen sind. Eine Einschränkung der Wahl auf den Bereich der ärztlichen Versorgung, der zahnärztlichen Versorgung, den stationären Bereich oder auf veranlasste Leistungen ist möglich. Nicht im Vierten Kapitel genannte Leistungser-bringer dürfen nur nach vorheriger Zustimmung der Krankenkasse in Anspruch genommen werden. Eine Zustimmung kann erteilt werden, wenn medizinische oder soziale Gründe eine Inanspruchnahme dieser Leistungserbringer rechtfertigen und eine zumindest gleichwertige Versorgung gewährleistet ist. Die Inanspruchnahme von Leistungserbringern nach § 95b Ab-satz 3 Satz 1 im Wege der Kostenerstattung ist ausgeschlossen. Anspruch auf Erstattung be-steht höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung zu tragen hätte. Die Satzung hat das Verfahren der Kostenerstattung zu regeln. Sie kann dabei Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten in Höhe von höchstens 5 Prozent in Abzug bringen. Im Falle der Kostenerstattung nach § 129 Absatz 1 Satz 5 sind die der Kran-kenkasse entgangenen Rabatte nach § 130a Absatz 8 sowie die Mehrkosten im Vergleich zur Abgabe eines Arzneimittels nach § 129 Absatz 1 Satz 3 und 4 zu berücksichtigen; die Ab-schläge sollen pauschaliert werden. Die Versicherten sind an ihre Wahl der Kostenerstattung mindestens ein Kalendervierteljahr gebunden.

Gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V sind, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Kran-kenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

§ 13 Abs. 3a SGB V regelt die Genehmigungsfiktion und den Kostenerstattungsanspruch im Fall verspäteter Entscheidung der Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen, § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V die Inanspruchnahme von Leistungen im Ausland.

Gemäß § 56 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) stehen fällige Ansprü-che auf laufende Geldleistungen beim Tod des Berechtigten nacheinander 1. dem Ehegatten, 1a. dem Lebenspartner, 2. den Kindern, 3. den Eltern, 4. dem Haushaltsführer zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

Gemäß § 58 SGB I werden, soweit fällige Ansprüche auf Geldleistungen nicht nach den §§ 56 und 57 einem Sonderrechtsnachfolger zustehen, sie nach den Vorschriften des Bürgerli-chen Gesetzbuchs vererbt. Der Fiskus als gesetzlicher Erbe kann die Ansprüche nicht geltend machen.

Gemäß § 59 SGB I erlöschen Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen erlöschen mit dem Tod des Berechtigten. Ansprüche auf Geldleistungen erlöschen nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist.

Die Ehefrau des Klägers, die Versicherte, hatte für den hier streitigen Bereich der ambulanten Versorgung einschließlich ärztlich veranlasster Leistungen Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 2 SGB V gewählt. Die von dem Kläger geltend gemachten Kosten waren auch grundsätzlich vom Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 2 SGB V abgedeckt, wie die Beklagte im Schreiben vom 30.11.2020 bestätigt hat.

Der Kostenerstattungsanspruch steht dem Kläger, dem Ehemann der Versicherten, als Sonder-rechtsnachfolger zu. Der Kläger hat, wie er in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, mit der Versicherten zum Zeitpunkt ihres Todes in einem Haushalt gelebt. Entgegen der Auffas-sung der Beklagten handelte es sich bei den eingereichten Rechnungsbeträgen auch um fällige und laufende Geldleistungen im Sinne des § 56 SGB I.

Gemäß § 41 SGB I werden, soweit die besonderen Teile dieses Gesetzbuchs keine Regelung enthalten, Ansprüche auf Sozialleistungen mit ihrem Entstehen fällig. Das Gericht schließt sich nicht der Ansicht der Beklagten an, dass die Fälligkeit des Kostenerstattungsanspruchs die Fälligkeit der Vergütung der privatärztlichen Leistung gemäß § 12 Abs. 1 der Gebührenord-nung für Ärzte (GOÄ), d.h. die Erteilung der entsprechenden Rechnung gegenüber dem Zah-lungspflichtigen, und die Vorlage der Rechnung gegenüber der Krankenkasse nach § 23 Abs. 2 der Satzung der Beklagten voraussetzt. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass der Kostenerstattungsanspruch – wie im Fall des Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 SGB V (vgl. Sozialgericht Bremen, Urteil vom 16.11.2012 – S 4 KR 238/08; vgl. auch zu der ebenfalls an die Fälligkeit anknüpfenden Regelung des § 44 SGB I Landessozialgericht Ber-lin-Brandenburg, Urteil vom 04.12.2009 – L 1 KR 5/09) – bereits mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten fällig wird. Damit handelte es sich bei dem Kostenerstat-tungsanspruch um eine bei dem Tod der Versicherten fällige Geldleistung.

Es lag auch die Voraussetzung einer "laufenden Geldleistung" im Sinne des § 56 SGB I vor. Dieser Begriff umfasst grundsätzlich Leistungen, die regelmäßig wiederkehrend für bestimm-te Zeitabschnitte gezahlt werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 18.11.2014 – B 1 KR 8/13 R; juris-PK-SGB I, Stand 02.12.2019, § 56 Rn. 15 m.w.N.). Im Fall des Kostenerstat-tungsanspruchs bei Systemmangel nach § 13 Abs. 3 SGB V wird inzwischen vom Bundesso-zialgericht eine weite Auslegung dieses Begriffs vorgenommen (vgl. Bundessozialgericht, Be-schluss vom 08.11.2011 – B 1 KR 6/11 R; Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2012 – B 1 KR 6/11 R; vgl. auch Bundessozialgericht, Beschluss vom 01.04.2019 – B 1 KR 1/19 B; a.A. noch Bundesozialgericht, Urteil vom 03.08.2006 – B 3 KR 24/05 R).

Auch wenn der Versicherte im Fall des Systemmangels aufgrund der dort gegebenen Situati-on besonders schutzbedürftig erscheint, sieht das Gericht für den hier vorliegenden Fall der Wahl des Kostenerstattungsverfahrens für grundsätzlich zu gewährende Krankenversiche-rungsleistungen keinen Grund für eine engere Auslegung des Begriffs der "laufenden Geld-leistungen". Ein Grund für die weite Auslegung des Begriffs der laufenden Geldleistungen § 56 SGB I im Bereich des Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 SGB V ist, dass der Berechtigte regelmäßig zu einer Vorfinanzierung für mehrere Zeitabschnitte gezwungen ist und die Lebensführung regelmäßig aller Familienangehörigen betroffen ist, wenn Ansprüche auf laufende Geldleistungen nicht rechtzeitig erfüllt werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2012 a.a.O.; Bundesozialgericht, Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 1/06 R; vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 08.09.2015 – B 1 KR 14/14 R). Beim Kostenerstat-tungsverfahren gemäß § 13 Abs. 2 SGB V hat zwar im Unterschied zum Fall des Systemman-gels der Versicherte selbst die Entscheidung für eine Kostenerstattung anstelle der Sachleis-tung getroffen. Gerade für die in der letzten Lebensphase in Anspruch genommenen Leistun-gen, die häufig einen ganz erheblichen Umfang aufweisen und hohe Kosten verursachen, be-stünde jedoch bei anderer Auslegung regelmäßig eine wertungsmäßig nicht nachvollziehbare Lücke für materiell-rechtlich dem Versicherten zustehende Krankenversicherungsleistungen (a.A. Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 21.02.2019 – L 1 KR 116/17; Sozialgericht Hamburg, Gerichtsbescheid vom 12.09.2017 – S 8 KR 295/15; vgl. auch Thüringer Landesso-zialgericht, Urteil vom 27.05.2014 – L 6 KR 1093/12 – im dortigen Fall waren die übrigen Voraussetzungen des § 56 SGB I nicht erfüllt).

Auf eine erbrechtliche Rechtsnachfolge (§ 58 S. 1 SGB I) nach § 59 S. 2 SGB I kam es somit nicht an. Die ebenfalls zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob zum Zeitpunkt des Todes der Versicherten ein Verwaltungsverfahren im Sinne dieser Bestimmung anhängig war, hatte das Gericht daher nicht zu entscheiden.

Die Beklagte war somit unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.05.2020 zu verurteilen, dem Kläger die Kosten der Leistun-gen nach dem SGB V in Höhe von 2.703,78 EUR anteilig zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Kläger ist – wie bereits ausgeführt – an dem Rechtsstreit als Sonderrechtsnachfolger im Sinne des § 56 SGB I beteiligt. Ihm steht die Privilegierung des § 183 SGG zu, so dass die Kostenentschei-dung nach § 193 SGG zu treffen war.
Rechtskraft
Aus
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