S 13 U 269/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 U 269/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt. Der Streitwert wird auf 9.816,42 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufhebung und Änderung eines Veranlagungsbescheides.

Unternehmensgegenstand der Klägerin ist die enterale und parenterale Ernährung sowie Stomaversorgung.

Die Klägerin wurde durch Bescheid vom 27.11.2000 ab dem 01.04.2000 bei der Beklagten aufgenommen und zur Gefahrtarifstelle 06 "übrige Einrichtungen des Gesundheitswesens" nach der Gefahrklasse 2,4 veranlagt.

Der Mitarbeiter der Beklagten M suchte die Klägerin zur Überprüfung der Veranlagung auf und vertrat im Bericht vom 19.06.2012 die Auffassung, dass das Unternehmen der Klägerin einer Versandapotheke vergleichbar sei mit einer Veranlagung zur Tarifstelle 4.

Mit Veranlagungsbescheid vom 29.11.2012 erfolgte daraufhin eine Veranlagung zum 3. Gefahrtarif in die Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" mit der Gefahrklasse 2,10 ab dem 01.01.2012. Mit weiterem Veranlagungsbescheid vom 29.11.2012 zum 4. Gefahrtarif erfolgte ebenfalls eine Veranlagung in die Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" mit der Gefahrklasse 1,98 ab dem 01.01.2013.

Am 07.02.2013 wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, dass ihrer Auffassung nach die Einstufung als Apotheke unzutreffend sei. Unternehmen, wie das der Klägerin, seien mit dem Strukturschlüssel 071 für ambulante, sozialpflegerichte Dienste zu veranlagen. Es sei bezüglich der Veranlagung eines vergleichbaren Unternehmens eine Klage beim Sozialgericht (SG) T anhängig. Die Beklagte wolle den Ausgang dieses Verfahrens abwarten. Sofern ihre Auffassung bestätigt werde, würde die Veranlagung der Klägerin mit Wirkung für die Zukunft geändert.

Nachdem das Sozialgericht Speyer mit Urteil vom 14.03.2013 (Az.: S 12 U 60/12) die dortige Klage abgewiesen und entschieden hatte, dass ein Unternehmen zur Organisation , Beratung und Vermittlung von enteraler und parenteraler Ernährung in die Gefahrtarifstelle 15 zuzuordnen sei, hörte die Beklagte die Klägerin am 06.01.2014 zur beabsichtigten Änderung der Veranlagung ab dem 01.01.2014 an.

Mit Veranlagungsbescheid vom 24.01.2014 wurde die Klägerin ab dem 01.02.2014 zur Gefahrtarifstelle 15 "ambulante sozialpflegerische Dienste/ambulante Hospizarbeit" Gefahrklasse 6,07 veranlagt.

Dagegen legte die Klägerin am 30.01.2014 Widerspruch ein. Sie führte aus, es würden nicht unbedingt Pflegekräfte benötigt. Die tatsächliche Versorgung der Patienten werde durch ambulante Dienste oder Personal in Heimen durchgeführt.

Die Beklagte zog Auskünfte von dem Internetauftritt der Klägerin bei, u. a. eine Stellenausschreibung, wonach eine Ausbildung als examinierte Krankenschwester erforderlich sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.05.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Veranlagung zur Gefahrtarifstelle 15 mit der Gefahrklasse 6,07 sei unter dem Aspekt der Gewerbezweigzugehörigkeit nicht zu beanstanden. Sie habe gemäß §§ 160 Abs. 3 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII), 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die zu niedrigere Gefahrklasse im Veranlagungsbescheid ändern dürfen. Eine Abwägung der Interessen der Klägerin mit denen der Solidargemeinschaft habe ergeben, dass die Beibehaltung der deutlich niedrigeren Gefahrklasse nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft gehen dürfe. Es wäre nicht zu vertreten, dass die Klägerin aufgrund der niedrigeren Gefahrklasse niedrigere Beiträge entrichte als gleichartige Unternehmensarten. Der Gefahrklassenanstieg sei nur die Konsequenz der zu günstigen Gefahrklasse zuvor. Hiervon habe die Klägerin für einen vergleichbar langen Zeitraum profitiert.

Hiergegen hat die Klägerin am 13.06.2014 Klage erhoben. Sie trägt vor, es sei keine Vertrauensschutzabwägung vorgenommen worden. Die Beklagte missachte die 2-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 SGB X. Die vorausgehende Einstufung vergleichbar einer Apotheke sei zutreffend. Es würden keine pflegerischen oder sonstigen Manipulationen an Patienten durchgeführt. Die Beratungsleistung der Klägerin erschöpfe sich - wie in einer Apotheke - in der Anwendung und technischen Beratung. Hinsichtlich der Gefahr der zurückgelegten Wege verweise sie auf Botendienste von Apotheken.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Bescheid der Beklagten vom 24.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Die Klägerin betreibe keine Apotheke, so dass auch eine Veranlagung als Apotheke erfolgen könne. Auch setze die Klägerin bei der Betreuung von Patienten, Pflegeeinrichtungen und Angehörigen Pflegepersonal ein. Dies ergebe sich auch aus dem Internetauftritt der Klägerin. Die Beklagte habe die Klägerin bereits im Vorwege über die unrichtige Veranlagung informiert. Damit habe die Klägerin gerade nicht auf den Bestand des Veranlagungsbescheides zum 4. Gefahrtarif der Beklagten vom 29.11.2012 vertrauen können. Durch die Beklagte sei auch eine Abwägung vorgenommen worden. Die 2-Jahres-Frist nach Bekanntgabe des Bescheides vom 29.11.2012 sei offenkundig im Januar 2014 noch nicht abgelaufen gewesen. Sie übersendet das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 14.03,2013 (Az.: S 12 U 60/12). Der Geschäftsführer der Klägerin sei Apotheker. Im Übrigen beschäftige die Klägerin qualifiziertes Pflegepersonal und keine Apotheker. Alleine darauf abzustellen, dass die Klägerin bzw. ihr Personal selbst keine Pflegemaßnahmen durchführe, greife zu kurz. Das Aufgabenfeld von ambulanten Pflegediensten beinhalte neben der Grund- und Behandlungspflege auch eine Vielzahl von beratenden Tätigkeiten. Das Unternehmen der Klägerin teile mit Pflegedienste die Gefahren, die sich durch die zurückgelegten Wege ergäben. Dies sei auch der gemeinsame Nenner mit den ambulanten Diensten der Tarifstelle 15. Dagegen gäben die Wege zum Kunden den Unternehmen der Tarifstelle 4 nicht das Gepräge. Die übliche versicherte Tätigkeit finde in der Apotheke statt. In der Tarifstelle 4 spielten die Risikoverhältnisse der versicherten Wege kaum eine Rolle. Demgegenüber sei das Gewicht von versicherten Wegen bei Pflegediensten deutlich höher.

Das Gericht hat im Erörterungstermin vom 24.06.2015 den Geschäftsführer der Klägerin vernommen. Wegen des Inhalts der Aussage wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Prozessakten und die Verwaltungsakten der Beklagten. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Beratung der Kammer gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 24.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014 betreffend der Veranlagung zum 4. Gefahrtarif. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Zu Recht hat die Beklagte mit dem Veranlagungsbescheid vom 24.01.2014 ab dem 01.02.2014 den zuvor erlassenen Bescheid vom 29.11.2012 betreffend die Veranlagung zum 4. Gefahrtarif aufgehoben und die Veranlagung für die Zukunft abgeändert.

Rechtsgrundlage hierfür ist§ 45 SGB X, dessen Voraussetzung vorliegen. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, soweit der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen von § 45 Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen,

Zunächst ergibt die Auslegung des Bescheides vom 24.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014, dass eine Aufhebung des Veranlagungsbescheides vom 29.11.2012 betreffend der Veranlagung zum 4. Gefahrtarif erfolgt ist. Es bestand aufgrund des Veranlagungsbescheides vom 29.11.2012 zunächst eine Veranlagung in die Gefahrtarifstelle 4 ,,Apotheken" mit der Gefahrklasse 2,10. Auch wenn im Veranlagungsbescheid vom 24.01.2014 nicht ausdrücklich die Aufhebung dieses zuvor gültigen Verwaltungsaktes ausgesprochen worden ist, ergibt sich durch Auslegung, das durch die neue Veranlagung zur Gefahrtarifstelle 15 "ambulante sozialpflegerische Dienste/ambulante Hospizarbeit" zur Gefahrklasse 6,07 gleichzeitig eine Aufhebung des zuvor bestehenden Veranlagungsbescheides vom 29.11.2012 erfolgen sollte. Deutlich wird dies auch insbesondere im Widerspruchsbescheid vom 13.05,2014, in dessen Form der Verwaltungsakt vom 24.01.2014 besteht. In diesem hat die Beklagte ausdrücklich auf , die Vorschrift des § 45 SGB X Bezug genommen und dessen Voraussetzungen geprüft.

Der Bescheid vom 24.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014 ist zunächst formell rechtmäßig. Während in dem Bescheid vom 24.01.2014, der nach der Anhörung vom 06.01.2014 erlassen worden ist, keine weitere Begründung für die Aufhebung bzw. Abänderung genannt werden und keine Ermessenserwägungen mitgeteilt werden, sind diese Verfahrensfehler durch den Widerspruchsbescheid vom 13.05.2011 geheilt worden. Gemäß § 35 Abs. 1 SGB X ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen. Die Begründung von Ermessensentscheidung muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von dem die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes steht gemäß § 45 Abs. 1 SGB X im Ermessen der Behörde. Denn insoweit die Voraussetzung des· § 45 SGB X vorliegen, ,,darf" der rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 41 Abs. 1 SGB X ist eine Heilung von Verfahrensvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 40 SGB X nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird (§ 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X). Handlungen nach Abs. 1 Nr. 2 bis.6 können bis -zur letzten Tatsacheninstanz eines Sozial- oder Verwaltungsgerichtsverfahrens nachgeholt werden. Eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die zur Aufhebung des Bescheides vom 29.11.2012 geführt haben, ausführlich in dem Widerspruchsbescheid vorgenommen worden. Auch kann die Ermessensbetätigung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens nachgeholt werden (vgl. von Welfen, SGB X, Komm., 8. Aufl., § 41, Rdnr. 11). Die Ermessensausübung ist in dem Widerspruchsbescheid vom 13.05.2014 durchgeführt worden, indem die Beklagte eine Interessenabwägung der Interessen der Klägerin mit denen der Sozialgemeinschaft im Sinne der Beitragsgerechtigkeit und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin bereits mehrere Jahre lang durch die unrichtige Beitragseinstufung profitiert hat, vorgenommen hat.

Der Bescheid vom 24.01.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.05.2014 ist auch in materieller Hinsicht rechtmäßig. Zunächst liegen die Voraussetzungen des § 45 SGB X vor. Denn der Bescheid vom 29.11.2012 hinsichtlich der Veranlagung in die 4. Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" ist rechtswidrig. Dieser ist auch begünstigend, da die Einstufung in die Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" mit der Gefahrklasse 2,10 für die Klägerin günstiger gewesen ist als die Veranlagung in die Gefahrtarifstelle 15 "ambulante sozialpflegerische Dienste/ambulante Hospizarbeit" mit der Gefahrklasse 6,07. Bei der Veranlagung des Betriebes der Klägerin durfte sich die Beklagte auf das sogenannte Gewerbezweigprinzip stützen. Dieses basiert auf der Kenntnis, dass technologische Art verwandte Unternehmen gleiche oder ähnliche Unfallrisiken aufweisen und der Gewerbezweig deshalb eine geeignete Grundlage für die Bildung höchst homogener Gefahrgemeinschaften darstellt. Die Risikobewertung nach diesem Prinzip ist im Grundsatz mit den Zielvorstellungen und Wertentscheidungen des Gesetzes sowie der Verfassung vereinbar (vgl. BSG, Urteil v. 28.11.2006, Az.: B 2 U 10/05 R m. w. N.). Dies setzt voraus, dass eine sachgerechte Abgrenzung der Gewerbezweige und ihre korrekte Zuordnung zu den Gefahrtarifstellen stattgefunden haben, denn die Veranlagung nach Gefahrklassen soll eine möglichst gerechte Verteilung der Unfalllast auf die Beitragspflichtigen gewährleisten. Da ein Gewerbezweigtarif seine Rechtfertigung aus der Gleichartigkeit der Unfallrisiken und Präventionserfordernisse bei technologisch verwandten Betrieben bezieht, kommt es für die Bildung der Gewerbezweige und die Zuordnung zu ihnen entscheidend auf die in der jeweiligen Unternehmensart anzutreffenden Arbeitsbedingungen an. Dabei darf sich die Betrachtung nicht auf einzelne für oder gegen eine Vergleichbarkeit sprechende Gesichtspunkte beschränken; sie muss vielmehr alle das Gefährdungsrisiko beeinflussenden Faktoren einbeziehen. Angesichts der Entwicklung der modernen Arbeitswelt zu einer Dienstleistungsgesellschaft verlieren zwar klassische technologische Abgrenzungskriterien immer mehr an Bedeutung; dennoch bleiben für den Zuschnitt der Gewerbezweige auch unter den veränderten Bedingungen der heutigen Berufs- und Arbeitswelt in erster Linie Art und Gegenstand des Unternehmens maßgebend, da sie den zuverlässigsten Aufschluss für die Unfallgefahren in den Unternehmen geben (BSG vom 28.11.2016, a. a. 0., m. w. N.). Namentlich bei heterogen zusammengesetzten Gewerbezweigen muss geprüft werden , ob die nach technologischen Gesichtspunkten vorgenommene Zuordnung und die daran geknüpfte Vermutung einer gemeinsamen "gewerbetypischen" Unfallgefahr die tatsächliche Risikosituation in den betroffenen Unternehmen zutreffend widerspiegeln. Ergibt sich, dass bei einer bestimmten Art von Unternehmen ein vom Durchschnitt des Gewerbezweiges erheblich abweichendes Gefährdungsrisiko besteht, kann daraus ein Anspruch auf Verselbständigung als eigener Gewerbezweig oder auf Zuteilung zu einem anderen, ,,passenderen" Gewerbezweig erfolgen (a. a: 0.1 m. w. N.). Indessen sind den Bestrebungen nach Differenzierung und Berücksichtigung des individuellen Gefährdungsrisikos bei der Bildung von Gewerbezweigen Grenzen gesetzt, die sich aus der Funktion und der Systematik eines Gefahrtarifs ergeben. Eine Unternehmensart kann nur dann als eigenständiger Gewerbezweigt geführt werden wenn die zugehörigen Betriebe und Einrichtungen zusammengenommen eine Größenordnung erreichen, bei der sich eine gewerbetypische Unfalllast nach versicherungsmathematischen Grundsätzen berechnen lässt. Ist das nicht der Fall, müssen die in Rede. stehenden Unternehmen einem der im Gefahrtarif der Berufsgenossenschaft ausgewiesenen Gewerbezweige zugeordnet werden. Nach der einem Gewerbezweigtarif innewohnenden Logik kommen dafür aber nur solche Gewerbezweige in Betracht, die technologisch verwandte Unternehmensarten beherbergen. Eine Zuordnung zu einem Gewerbezweig ohne Berücksichtigung technologischer Zusammenhänge allein nach der Größe des Unfallrisikos scheidet dagegen aus, weil damit das Gewerbezweigprinzip aufgegeben und die Systementscheidung für einen Gewerbezweigtarif konterkariert würde (BSG vom 28.11.2016 ... a. a. O.). Die Forderung eines Unternehmens, wegen eines erheblich abweichenden Grades der Unfallgefahr einem anderen Gewerbezweig zugeteilt zu werden, kann danach überhaupt nur mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden, wenn der Gefahrtarif der Berufsgenossenschaft mehrere für die betreffende Unternehmensart in Betracht kommende Gewerbezweige ausweist und unklar ist, welchem von ihnen sie nach Art und Gegenstand zuzurechnen ist. Steht dagegen die nach technologischen Kriterien richtige Zuordnung fest, kann die Zugehörigkeit zu dem Gewerbezweig nicht mit dem Hinweis auf eine unterschiedliche Belastungssituation in Frage gestellt werden. Die Bildung von Gefahrklassen nach dem Gewerbezweigprinzip hat zur zwangsläufigen Folge, dass es innerhalb der Gewerbezweige nicht nur gewerbetypische, sondern auch vom Durchschnitt der Gruppe mehr oder weniger deutliche abweichende Unternehmen und Unternehmensarten gibt. Dass alle gewerbezweigzugehörigen Betriebe und Einrichtungen trotz unterschiedlicher Gefährdungslagen zu derselben Gefahrklasse veranlagt und deshalb einzelne von ihnen stärker mit Beiträgen belastet werden, als es ihrem tatsächlichen Gefährdungsrisiko entsprechen würde, ist als Folge der bei der Tarifbildung notwendigen Typisierung hinzunehmen (BSG vom 28.11.2016 ... a. a.O., m. w. N.). Zudem ist der Solidarausgleich innerhalb des gesamten Systems der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf den verschiedenen Ebenen zu beachten, der vom Ausgleich innerhalb der Gefahrtarifstellen bis zum Ausgleich zwischen Berufsgenossenschaften reicht (a. a. O.).

Hiervon ausgehend ist die Einstufung der Klägerin in die Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" im Veranlagungsbescheid vom 29.11.2012 zu Unrecht erfolgt. Denn die Klägerin betreibt keine Apotheke. Vielmehr ist nach dem Gefahrtarif der Beklagten eine Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 15 "ambulante sozialpflegerische Dienste/ambulante Hospizarbeit" geboten. Der Auffassung der Klägerin, eine Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 4 "Apotheken" sei geboten, weil durch die Mitarbeiterin der Klägerin keine pflegerischen Maßnahmen durchgeführt werden, kann nicht gefolgt werden. Denn im Gewerbezweigtarif ist die Zusammenfassung mehrerer Gewerbezweige mit wenigstens annähernd gleichen Risiken zulässig und geboten und zwar nach den Prinzipien des Belastungsprinzips und des Technologieprinzips. Nach dem Belastungsprinzip werden Gewerbezweige mit gleicher statistischer Belastung zusammengefasst. Nach dem Technologieprinzip werden sachlich miteinander verwandte Arbeitsweisen, aber auch verwandtes Material, technische Einrichtung usw. zusammengefasst (vgl. Ricke in Kassler Kommentar, § 157 SGB VII, Rdnr. 12 m. w. N.). In der Gefahrtarifstelle 15 werden· nach dem 4. Gefahrtarif der Beklagten veranlagt ambulante sozialpflegerische Dienste, Fahrdienste, Rettungsdienste, Krankentransporte, Mahlzeitendienste und Selbsthilfegruppen. Dies sind z. B. ambulante sozialpflegerische Dienste (Pflegedienste, lntensivpflege, Sozialstationen, Gemeindekrankenpflegestationen, Diakoniestationen , Haus- und Familienpflegestationen, auch Helfer(innen)stationen, Kranken-, Haus- und Altenpflege, Krankenschwestern/ -pfleger, ambulante Pflegedienste etc.), ambulante Hospize/Palliativeinrichtungen, Mahlzeitendienste, Tafelbetriebe, Fahrdienste für ältere und behinderte Menschen, Transportbegleitung,.Rettungsdienste, Krankentransporte, Sanitätsdienste, Selbsthilfe- und Helfergruppen (Nachbarschaftshilfsdienste, Helfergruppen der Krankenhaus- und Altenheimhilfe; Selbsthilfe- und Kontaktgruppen für Menschen in besonderen sozialen Situationen). Davon ausgehend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 15 nicht voraussetzt, dass Pflegekräfte beschäftigt werden. Dennoch ist dies bei der Klägerin jedenfalls teilweise der Fall. Von den 12 Mitarbeitern der Klägerin sind 4 im Büro tätig, 3 sind Krankenschwestern, 3 sind Fahrer, einer ist Außendienstmitarbeiter und eine ist Prokuristin. Von diesen werden jedenfalls die 3 Krankenschwestern sowie der Kläger selbst nach seinen Ausführungen im Erörterungstermin vom 24.06.2015 insofern "pflegerisch" tätig, als sie vor Ort über Pflegemöglichkeiten im Rahmen des Sortiments der Klägerin beraten. Maßgeblich für die Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 15 spricht zur Überzeugung der Kammer, dass der Betrieb er Klägerin technologischer artverwandt ist mit denen in der Gefahrtarifstelle 15 genannten Betrieben; dies entspricht im Wesentlichen den gleichen Arbeitsweisen, Leistungen und Erzeugnissen. Zutreffend hat die Beklagte insofern hingewiesen,.dass den in der Gefahrtarifstelle 15 genannten Dienstleistungen gemeinsam ist, dass die Patienten durch die Mitarbeiter des Unternehmens auswärts aufgesucht werden. Dabei ist die Belastung mit dem Risiko der Verunfallung auf Versicherten Wegen deutlich höher als beispielsweise in der Tarifstelle 4 (Apotheken). Insofern hat die Beklagte nachvollziehbar dargelegt, dass das Risiko, bei versicherten Wegen zu verunfallen, bei Tätigkeiten der Tarifstelle 15 etwa dreimal so hoch ist wie bei solchen der Tarifstelle 4. Entgegen der Auffassung der Klägerin ändert hieran auch nichts, dass in seltenen Fällen auch Apotheken Botendienste ausführen. Wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat, geben gerade Botendienste einer Apotheke nicht das Gepräge. Diese sind die deutliche Ausnahme, während beim Unternehmen der Klägerin in jedem Fall die Auslieferung der von der Klägerin vertriebenen Produkte durch Mitarbeiter der Klägerin erfolgt. Insofern ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Mitarbeiter der Klägerin zumindest auch im Außendienst tätig sind. Dies betrifft die 3 Krankenschwestern, die 3 Fahrer, den Außendienstmitarbeiter und letztlich den Geschäftsführer der Klägerin selbst, was sich aus dessen Einlassung im Erörterungstermin vom 24.06.2015 ergibt. Damit- besteht insbesondere eine Vergleichbarkeit mit den in der Gefahrtarifstelle 15 genannten Mahlzeitendiensten. Auch dort werden Mittel zur Ernährung durch Mitarbeiter des Unternehmens zum Kunden/Patienten gebracht.

Zur Überzeugung des. Gerichts liegen auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X vor. Gemäß § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bescheid des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauens ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Vertrauen der Klägerin auf den Bestand des Verwaltungsaktes vom 29.11.2012 sich längstens bis zum 07.02.2013 erstreckt haben kann. Denn mit Schreiben vom 07.02.2013 hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass ihrer Auffassung nach die Einstufung der Klägerin als Apotheke unzutreffend ist. Sie hatte darauf hingewiesen, dass sie den Ausgang des Rechtsstreits von dem SG Speyer abwarten und, soweit durch das SG Speyer eine Einstufung zur Gefahrtarifstelle 15 für rechtmäßig erachtet wird, beabsichtigte die entsprechenden Bescheide abzuändern. Zur Überzeugung des Gerichts wäre ein Vertrauen der Klägerin jedenfalls nicht schutzwürdig. Denn es ist in keinem Fall ersichtlich oder vorgetragen, dass die Klägerin im Hinblick auf eine jährliche Beitragsersparnis von rund 3.270,- EUR bei einem Jahresumsatz von etwa 1.200.000,00 EUR pro Jahr irgendwelche Vermögensdispositionen getroffen hätte, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen könnte. Im Übrigen hat die Beklagte auch die Frist nach § 45 Abs. 3 SGB X eingehalten. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Abs. 2 nur bis zum Ablauf von 2 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Bei der Rücknahme mit dem Bescheid vom 24.01.2014 war die Jahresfrist seit Erlass des Veranlagungsbescheides vom 29.11.2012 noch nicht abgelaufen. Da die Beklagte die Veranlagung nur mit Wirkung für die Zukunft geändert hat, sind die Einschränkungen des § 45 Abs. 4 SGB X nicht zu beachten. Auch das gem. § 45 Abs. 1 SGB X eingeräumte Ermessen wurde durch die Beklagte, wie bereits dargelegt, in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.

Wegen der Aufhebung des Veranlagungsbescheides vom 29.11.2012 hinsichtlich der Veranlagung zum 4. Gefahrtarif ab dem 01.02.2014 ist durch die Beklagte mit Veranlagungsbescheid vom 24.01.2014 zudem eine neue Veranlagung zur - wie bereits dargelegt - zutreffenden - Gefahrtarifstelle 15 erfolgt. Die Befugnis hierzu ergibt sich aus § 157 Abs. 1 SGB VII. Hiernach setzen die Unfallversicherungsträger als autonomes Recht ein Gefahrtarif fest, in welchem zur Abstufung der Beiträge Gefahrklassen festzustellen sind. Die Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 15 ist, wie bereits dargelegt, durch das Gericht nicht zu beanstanden.

Schließlich hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts keinen Anspruch auf Ausgliederung aus der Gefahrtarifstelle 15. Nach der Rechtsprechung des BSG ist ein Gewerbezweig aus einer Gefahrtarifstelle dann auszugliedern, wenn seine Durchschnittsgefahr wesentlich von den anderen in der Tarifstelle zusammengefassten Gewerbezweigen abweicht. In einem zukünftigen Gefahrtarif ist dann eine neue eigene Tarifstelle für diesen Gewerbezweig zu bilden. Dabei ist der versicherungsmäßige Ausgleich zur berücksichtigen. Kann wegen einer zu geringen Anzahl der Betriebe bzw. der Anzahl der Versicherten in den Betrieben keine tragfähige Solidargemeinschaft gebildet werden, ist der Gewerbezweig zu den anderen Gewerbezweigen mit vergleichbaren Gefährdungsrisiken zuzuordnen. Bevor jedoch ein Gewerbezweig aus der Gefahrtarifstelle ausgegliedert wird, muss über einen längeren Zeitraum die Belastung signifikant von den übrigen Gewerbezweigen abweichen. Hinsichtlich des Beobachtungszeitraumes, der der Berechnung der Gefahrklassen zugrunde gelegt wird, hat die Beklagte einen weiten Gestaltungsspielraum.(vgl. BSG, Urteil vom 11.04.2013, B 2 U 8/12 R m. w. N.). Die Länge des Beobachtungszeitraumes ist gesetzlich nicht festgelegt, weil die Berufsgenossenschaften im Hinblick auf die Struktur der ihr angehörenden Unternehmen Spielraum benötigen, um eine der Solidargemeinschaft gerecht werdende Lösung zu finden. Wie die Beklagte dargelegt hat, firmieren die Unternehmen der Versorgung, Beratung und Betreuung von pflegebedürftigen Personen im Bereich der künstlichen Ernährung/Wundversorgung nicht unter einheitlichen Bezeichnungen. Zahlenmaterialien können insoweit nicht vorgelegt werden. Wie die Beklagte weiter plausibel dargelegt hat, sind auch in diesem Bereich nunmehr erst zwei Rechtsstreite hinsichtlich der Veranlagung dieser Unternehmensart mit dem Gefahrtarif der Beklagten anhängig geworden. Von daher ist, wie das SG Speyer bereits zutreffend dargelegt hat, derzeit ein Anspruch der Klägerin auf Ausgliederung aus der Gefahrenstelle 15 nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung folgt§ 197a Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung.

Hinsichtlich der Streitwertfestsetzung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluss über die vorläufige Streitwertfestsetzung vom 27.06.2014 Bezug genommen.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Bochumer Straße 79, 45886 Gelsenkirchen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die Einreichung in elektronischer Form erfolgt durch die Übertragung des elektronischen Dokuments in die elektronische Poststelle. Diese ist über die Internetseite www.sg-gelsenkirchen.nrw.de erreichbar. Die elektronische Form wird nur gewahrt durch eine qualifiziert signierte Datei, die den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den Sozialgerichten im Lande Nordrhein-Westfalen (ERWO SG) vom 07.11.2012 (GV.NRW, 551) entspricht. Hierzu sind die elektronischen Dokumente mit einer qualifizierten Signatur nach § 2 Nummer 3 des Signaturgesetzes vom 16.05.2001 (BGBI. I, 876) in der jeweils geltenden Fassung zu versehen. Die qualifizierte elektronische Signatur und das ihr zugrunde liegende Zertifikat müssen durch das Gericht überprüfbar sein. Auf der Internetseite www.justiz.nrw.de sind die Bearbeitungsvoraussetzungen bekanntgegeben.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen. Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzi9ht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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