S 20 AY 34/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AY 34/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2020 verurteilt, dem Kläger unter Anrechnung der bewilligten und gezahlten Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG Leistungen nach § 2 AsylbLG für die Zeiträume vom 14.02. bis 30.09.2019 und vom 01.03. bis 05.03.2020 in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeiträume vom 14.02. bis 30.09.2019 und 01.03. bis 05.03.2020 einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 Asylbe-werberleistungsgesetz (AsylbLG) in analoger Anwendung des Zwölften Buch Sozialge-setzbuch (SGB XII) anstelle der nach §§ 3, 3a AsylbLG bewilligten und gezahlten Leistun-gen hat. Der am xx.xx.xxxx geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger, ledig und allein-stehend. Er reiste am xx.xx.xxxx nach Deutschland ein und stellte am xx.xx.xxxx in der Erstaufnahmeeinrichtung V.-N. formlos einen Asylantrag. Dieser wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durch Bescheid vom xx.xx.xxxx als unzulässig abge-lehnt; zugleich wurde in diesem Bescheid die Abschiebung nach Italien angeordnet. Ein gerichtlicher Eilantrag des Klägers hiergegen blieb erfolglos. Die gesetzliche Frist zur Überstellung des Klägers nach Italien lief am xx.xx.xxxx ab; da der Kläger bis dahin nicht abgeschoben worden war, wird das Asylverfahren nunmehr in Deutschland betrieben. Der Kläger ist seitdem in Besitz einer Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfah-rens. Ihm ist aufgrund einer vorerst bis xx.xx.xxxx befristeten Zustimmung der Bunde-sagentur für Arbeit eine Erwerbstätigkeit als Produktionshelfer gestattet. Der Kläger war vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Die erste Lohnzah-lung (für September 2019) ging am xx.xx.xxxx, die letzte Lohnzahlung (für Januar 2020) am xx.xx.xxxx auf seinem Konto ein. Durch Bescheid der Bezirksregierung B. vom xx.xx.xxxx wurde der Kläger der Stadt B. zugewiesen, wo er seit dem xx.xx.xxxx wohnt. Die Beklagte bewilligte und zahlte dem Klä-ger ab xx.xx.xxxx Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Am xx.xx.xxxx beantragte der Kläger die Umstellung der Leistungen in solche nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII. Durch Bescheid vom xx.xx.xxxx setzte die Beklagte die nach §§ 3, 3a AsylbLG bewilligten Leistungen für den Monat September 2019 bis 30.09.2019 neu auf 399,89 EUR fest. Ab 01.10.2019 stellte sie die Leistungen im Hinblick auf die aufgenommene Beschäftigung und das daraus erzielte Einkommen ein. Durch Bescheid vom xx.xx.xxxx lehnte die Beklagte den Antrag auf Leistungen nach § 2 anstatt nach § 3 AsylbLG für die Zeit vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx ab. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe die Dauer seines Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Mit der Stellung eines weiteren Asylantrags nach Einreise in die Bundesrepub-lik Deutschland habe er sich bereits in Widerspruch zu Artikel 13 Abs. 1 der VO (EU) 604/2013 (Dublin III – VO) vom 26.06.2013 gesetzt, wonach Italien für die Prüfung des auch dort gestellten Asylantrags zuständig gewesen sei. Hierbei handele es sich um einen objektiven Rechtsmissbrauchstatbestand. Im Hinblick auf das erst seit dem xx.xx.xxxx rechtmäßig in Deutschland betriebene Asylverfahren sei eine Umstellung der Leistungen auf solche nach § 2 AsylbLG erst ab xx.xx.xxxx möglich. Dagegen legte der Kläger am xx.xx.xxxx Widerspruch ein. Er vertrat die Auffassung, rechtsmissbräuchliches Verhalten liege bei ihm nicht vor; weder die Einreise - noch die Nichtausreise stellten für sich genommen Rechtsmissbrauchstatbestände dar. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom xx.xx.xxxx als un-begründet zurück. Durch Bescheid vom xx.xx.xxxx bewilligte die Beklagte dem Kläger ab xx.xx.xxxx Leistun-gen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII in Höhe von monatlich 478,89 EUR. Gegen den Bescheid vom xx.xx.xxxx in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom xx.xx.xxxx hat der Kläger am xx.xx.xxxx Klage erhoben. Er ist der Ansicht, bereits ab dem xx.xx.xxxx einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu haben. Ein Verhalten, das als Rechtsmissbrauch im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG zu bewerten sei, liege nicht vor. Eine Einreise selbst könne nicht als Rechtsmissbrauch gewertet werden; dies gelte auch dann, wenn ein unzulässiger Asylantrag gestellt worden sei. Der Rechtsmissbrauch bezie-he sich nicht darauf, dass überhaupt ein Aufenthalt in Deutschland stattfinde, sondern auf die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Ebenso stelle die Nichtausreise für sich genom-men keinen Rechtsmissbrauch dar. Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom xx.xx.xxxx in der Fassung des Wi-derspruchsbescheides vom xx.xx.xxxx zu verurteilen, ihm unter Anrechnung der bewillig-ten und gezahlten Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG Leistungen nach § 2 AsylbLG für die Zeiträume vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx und vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie bleibt bei ihrer Auffassung, der Kläger habe seine Aufenthaltsdauer rechtsmissbräuch-lich selbst beeinflusst. Nach der Intention des Gesetzgebers solle zwischen den Auslän-dern entschieden werden, die unverschuldet nicht ausreisen können, und jenen Auslän-dern, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkämen. Rechtsmissbrauch setze ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Ein solches unredliches Verhalten könne beispielsweise bei Verstößen gegen aufenthaltsrechtliche, asylverfahrensrechtliche oder sonstige Vorschriften gesehen werden, soweit diese Auswir-kungen auf die Dauer des Aufenthalts hätten. Rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leis-tungsberechtigten liege nicht erst dann vor, wenn es als unentschuldbar anzusehen sei; genügend sei ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst habe. Im Fall des Klägers sei dieser Missbrauchstatbestand mit der Zustellung der Entscheidung des BAMF als erfüllt anzuse-hen. Der Kläger sei im fraglichen Zeitraum vollziehbar ausreisepflichtig gewesen und sei dieser Verpflichtung vorsätzlich nicht nachgekommen. Dies erfülle den Tatbestand der Rechtsmissbräuchlichkeit. Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung der Kammer durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwi-schen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsak-te sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG insoweit beschwert ist, als die Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII für die Zeiträume vom xx.xx. bis xx.xx.xxxx und xx.xx. bis xx.xx.xxxx abgelehnt hat. Der Kläger hat ab dem xx.xx.xxxx Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII. Danach ist abweichend von den §§ 3 und 4 so-wie 6 bis 7 das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Diese Vo-raussetzungen liegen seit dem xx.xx.xxxx vor. Der Kläger, der sich seit dem xx.xx.xxxx in Deutschland aufhält, stellte am xx.xx.xxxx formlos einen Asylantrag. Dieser wurde zwar durch Bescheid des BAMF xx.xx.xxxx unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Klä-gers nach Italien angeordnet. Die danach laufende gesetzliche Überstellungsfrist wurde jedoch – aus vom Kläger nicht zu vertretenden Gründen – von der zuständigen Behörde nicht eingehalten und lief am xx.xx.xxxx ab. Da der Kläger bis zu diesem Zeitpunkt nicht nach Italien abgeschoben/überstellt worden war, wird das Asylverfahren seitdem förmlich in Deutschland durchgeführt und der Asylantrag hier auch inhaltlich geprüft. Im Hinblick auf den seit xx.xx.xxxx anhängigen Asylantrag, der in der Sache bis zum xx.xx.xxxx noch nicht beschiedenen war, sind am xx.xx.xxxx, 24.00 Uhr, die 15 Monate eines ununterbro-chenen Aufenthalts abgelaufen. Der Kläger hat die Dauer seines Aufenthaltes bis dahin nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG wird im Gesetz nicht konkretisiert. Die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt ein auf die Aufenthalts-verlängerung zielendes vorsätzliches, sozialwidriges Verhalten unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R). Jedenfalls dann, wenn Anknüpfungspunkt des Rechtsmissbrauchsvorwurfs – wie im vorliegenden Fall – ein Unterlassen ist, sind strenge Anforderungen zu stellen. Soweit Mitwirkungspflichten bestehen, erfüllen nur nachhaltige Pflichtverletzungen den Rechtsmissbrauchstatbestand (Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, 1. Überarbeitung, § 2 AsylbLG, Rdnr. 65). Ein bloßes Hinauszögern des Beginns des Asylverfahrens durch ver-spätete Antragstellung reicht hierfür nicht aus (Oppermann, a.a.O, Rdnr. 70.1). Unter Zu-grundelegung dieser Maßstäbe kann dem Kläger kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden. Unstreitig betreibt der Kläger rechtmäßig ein Asylverfahren, eingeleitet durch den Asylan-trag vom 13.11.2017. Dass er trotz zuvor erfolgter Abweisung seines Asylgesuchs als un-zulässig nach Anordnung der Abschiebung durch Bescheid des BAMF vom xx.xx.xxxx nicht ausgereist ist, beruht nicht auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten, sondern teils auf der Ausschöpfung seiner Rechtsmittel, teils aber und insbesondere auf der von den deut-schen Behörden verursachten Nichteinhaltung der Überstellungsfrist. Der Kläger war in den Zeiträumen vom xx.xx. bis xx.xx.xxxx und xx.xx. bis xx.xx.xxxx mangels in dieser Zeit einsetzbaren Einkommens und/oder Vermögens auch hilfebedürf-tig. Der aus der Beschäftigung vom xx.xx.xxxx bis xx.xx.xxxx zustehende Lohn wurde dem Kläger erstmals am xx.xx.xxxx (für September 2019) und letztmals am xx.xx.xxxx (für Januar 2020) ausgezahlt. Für die Monate Oktober 2019 bis Februar 2020 stehen dem Kläger daher keine Leistungen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII zu, da er in diesem Zeitraum seinen Bedarf aus dem Einkommen decken konnte. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kosten der Beklagten sind nicht er-stattungsfähig (§ 194 Abs. 4 SGG). Da die Differenz zwischen den nach §§ 3, 3a AsylbLG bewilligten und den nach § 2 AsylbLG abgelehnten Leistungen insgesamt offensichtlich den Berufungsstreitwert von 750 EUR nicht übersteigt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGG), hat die Kammer die Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzlich Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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