Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 KG 1/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Regelungen zum Anspruch auf Kindergeld für sich selbst sind nicht als Ausnahmeregelung einschränkend auszulegen. Insbesondere steht auch eine etwaige fahrlässige Unkenntnis des Aufenthaltsortes der Eltern dem Anspruch nicht entgegen (im Anschluss an BSG, Urt. v. 8. April 1992 (10 RKg 12/91 – SozR 3-5870 § 1 Nr. 1).
2. Dem Anspruch auf Kindergeld für sich selbst kann daher nur die jedem Recht immanente Schranke des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten werden. Ein solcher ist bei unbegleitet geflüchteten Minderjährigen regelmäßig zu verneinen, wenn sie nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland zur Überzeugung des Gerichts keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern im Herkunftsstaat hatten; sie sind auch nicht verpflichtet, über internationale (nichtstaatliche) Suchdienste den Aufenthaltsort ihrer Eltern zu ermitteln, um damit ihren Kindergeldanspruch zu Fall zu bringen.
2. Dem Anspruch auf Kindergeld für sich selbst kann daher nur die jedem Recht immanente Schranke des Rechtsmissbrauchs entgegengehalten werden. Ein solcher ist bei unbegleitet geflüchteten Minderjährigen regelmäßig zu verneinen, wenn sie nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland zur Überzeugung des Gerichts keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern im Herkunftsstaat hatten; sie sind auch nicht verpflichtet, über internationale (nichtstaatliche) Suchdienste den Aufenthaltsort ihrer Eltern zu ermitteln, um damit ihren Kindergeldanspruch zu Fall zu bringen.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 verurteilt, an den Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe ab Oktober 2019 zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst.
Der aus Syrien stammende Kläger reiste am 9. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er einen Asylantrag stellte. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 wurde ihm durch das BAMF die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuerkannt und er erhielt entsprechend eine Aufenthaltserlaubnis. In der Folgezeit erhielt der Kläger zunächst Kindergeld für sich selbst durch die Beklagte – dies auch noch im Zeitraum "ab Oktober 2018", nachdem er sich am 11. September 2018 für ein Vollzeitstudium an der Hochschule A-Stadt immatrikuliert hatte (Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2018). Aktuell ist er nach wie vor Student der Hochschule.
Im Juli 2019 sowie nachfolgend zu weiteren Zeitpunkten forderte die Beklagte den Kläger auf, eine Studienbescheinigung mit Geltungsdauer ab Oktober 2019 vorzulegen; unter dem 17. September 2019 verlangte sie sodann auch die Vorlage eines Fragebogens zum Aufenthalt der Eltern des Klägers, den dieser ausgefüllt mit Datum vom 18. Oktober 2019 vorlegte. Darin gab der Kläger an, zu seinen Eltern seit seiner Flucht aus Syrien keinen Kontakt mehr gehabt zu haben. Er habe auch mangels Möglichkeiten keine Bemühungen zu einer Kontaktaufnahme unternommen. Der letzte Kontakt zu seinem Vater sei am 20. September 2015 gewesen, seine Mutter sei bereits vor der Flucht verstorben.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 den Antrag des Klägers auf Leistung von Kindergeld ab dem Monat Oktober 2019 ab; dabei ging sie von einem Antrag auf Kindergeldleistungen des Klägers vom 10. Oktober 2019 aus. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass keine Bemühungen dargelegt worden seien, den Aufenthalt der Eltern des Klägers zu ermitteln.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2019 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst nur dann bestehe, wenn ihm der Aufenthalt seiner Eltern unbekannt sei. Dabei habe ein Anspruchsteller die ihm möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um den konkreten Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Insofern stehe die missbräuchliche Nichtkenntnis der positiven Kenntnis des Aufenthaltsortes gleich. Andernfalls habe es ein Antragsteller in der Hand, die Voraussetzungen seines Kindergeldanspruchs selbst zu schaffen. Dabei sei auch die gesetzgeberische Entscheidung zu berücksichtigen, derzufolge die Zahlung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst nur eine eng begrenzte Ausnahmeregelung darstelle.
Vorliegend habe der Kläger keinerlei Bemühungen dargelegt, den Aufenthaltsort seiner Eltern zu ermitteln. Zwar habe der Kläger vorgetragen, aufgrund seines aufenthaltsrechtlichen Status nicht berechtigt zu sein, mit den Behörden seines Heimatstaates Kontakt aufzunehmen; es seien aber keine Gründe ersichtlich, weshalb es ihm nicht zumutbar sein sollte, zumindest einen Suchauftrag über eine Hilfsorganisation zu stellen. Es bestünden zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vater des Klägers seinen ursprünglichen Wohnsitz in Syrien aufgegeben habe. Die gesetzliche Regelung zur Leistung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst zeigten, dass ein solcher Anspruch nur dann bestehen solle, "wenn es aufgrund objektiv feststellbarer Umstände ausgeschlossen" erscheine, "dass die Eltern den Kindergeldanspruch realisieren können. Bereits die hypothetische Möglichkeit, den Wohnsitz ins Inland zu verlegen", schließe "den Kindergeldanspruch des Kindes für sich selbst aus, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern diese Möglichkeit wahrnehmen können oder wollen.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16. Januar 2020, der am 20. Januar 2020 bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat der Kläger sodann Klage erhoben und verfolgt sein Begehren auf Zahlung von Kindergeld weiter. Zur Begründung führte er aus, dass er nach wie vor nicht in der Lage sei, den Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Er habe seine Eltern in Syrien zurückgelassen, wobei angesichts des Bürgerkriegs unklar sei, ob sie überhaupt noch lebten. Aufgrund seines Flüchtlingsstatus sei es ihm auch verwehrt, mit syrischen Behörden Kontakt aufzunehmen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 22. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 die Beklagte zu verurteilen, an ihn Kindergeld in gesetzlicher Höhe ab Oktober 2019 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt des angefochtenen Widerspruchsbescheides und wiederholt insoweit ihr bisheriges Vorbringen in Bezug auf das nach ihrer Auffassung anspruchsschädliche Fehlen von Bemühungen des Klägers, den Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Hierbei sei ihm zuzumuten, sich anbietende oder auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeiten zu nutzen. Insofern sei der Kläger verpflichtet, über online-Suchmöglichkeiten, die das Deutsche Rote Kreuz biete, eine Ermittlung des Aufenthaltsorts seiner Eltern zu versuchen; dadurch sei keine Gefährdung von Leib und Leben des Klägers zu besorgen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll vom 27. Oktober 2020 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ab Oktober 2019.
Dabei kann zunächst offenbleiben, ob der Bescheid vom 22. Oktober 2019 nicht bereits deshalb rechtswidrig ist, weil es an einem entsprechenden Antrag vom 10. Oktober 2019 fehlt; ein solcher ergibt sich jedenfalls nicht aus der Akte der Beklagten. Vielmehr begann sie Mitte des Jahres 2019, durch Anforderung einer Studienbescheinigung mit Geltung ab Oktober 2019 das Fortbestehen des durch Bescheid vom 26. Oktober 2018 festgestellten Kindergeldanspruchs des Klägers für sich selbst zu prüfen. Dem trat dann im September 2019 die Aufforderung zur Erklärung bezüglich der klägerischen Kenntnis über den Aufenthaltsort seiner Eltern hinzu. Eine Antragstellung durch den Kläger ergibt sich daraus nicht, vielmehr war das Verwaltungshandeln und dann auch die Entscheidung vom 22. Oktober 2019 darauf gerichtet, einen bereits zuerkannten Kindergeldanspruch aufzuheben. Die dafür gem. § 18 BKGG maßgeblichen Vorschriften des SGB X sind aber offensichtlich durch die Beklagte gar nicht angewandt worden. Hierauf kommt es aber letztlich nicht an, da sich der angegriffene Bescheid unabhängig hiervon als rechtswidrig erweist. Denn dem Kläger steht ein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst auch über September 2019 hinaus zu.
Gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Dabei besteht der Anspruch für einen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer wie den Kläger gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4, 3 lit. c. BKGG nur dann, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt im Bundesgebiet aufhält.
Diese Voraussetzungen sind unter den Beteiligten nicht umstritten und auch für die Kammer außer Zweifel – mit Ausnahme der Anspruchsvoraussetzung, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt. Diese ist jedoch ebenfalls zu bejahen.
Nach dem Vorbringen des Klägers, wie es sich insbesondere auch in seiner persönlichen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung darstellt, hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im hier streitigen Leistungszeitraum ab Oktober 2019 tatsächlich keine Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern hat(te), wobei seine Mutter bereits verstorben ist. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger insoweit gegenüber dem Gericht oder der Beklagten wahrheitswidrige Behauptungen aufgestellt haben könnte.
Auf fehlende oder unzureichende Bemühungen des Klägers, den Aufenthaltsort seines Vaters (in seinem Heimatland Syrien) zu ermitteln, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten vorliegend nicht an.
Zunächst ist festzustellen, dass ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts nur positive Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern einem Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst entgegensteht. Fahrlässige oder anderweitige schuldhafte Nichtkenntnis kann dem daher nicht gleichgestellt werden. Dies folgt angesichts des Wortlauts auch daraus, dass dem Gesetzgeber, insbesondere im Bereich des Sozialrechts, der Begriff der fahrlässigen Nichtkenntnis nicht nur bekannt ist, sondern auch verbreitet genutzt wird. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf § 48 Abs. 1 Nr. 4 SGB X oder auch § 404 Abs. 1 SGB III und § 103 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Wenn demnach der Kläger entsprechende Formulierungen in § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG gerade nicht benutzt hat, kann daraus nur der Umkehrschluss gezogen werden, dass er entsprechende fahrlässige Nichtkenntnis auch nicht sanktionieren wollte.
Dies steht im Übrigen im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG, das im Urteil vom 8. April 1992 (10 RKg 12/91 – SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 = juris Rn. 18) ausgeführt hat, dass im konkreten Fall, aber auch generaliter offenbleiben könne, wie zu verfahren sei, "wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht nachgeht". Denn aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG lasse "sich jedenfalls in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte". Zu erwägen sei deshalb nur, "ob eine mißbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann".
Damit kommt nur der Rechtsmissbrauch als Grenze jeder Rechtsausübung als Umstand in Betracht, der trotz Unkenntnis des Aufenthalts seiner Eltern und damit dem Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen einem Kindergeldanspruch entgegenstehen kann. Ein solcher Rechtsmissbrauch ist jedoch noch fernliegender als in dem Fall, der der vorzitierten Entscheidung des BSG zugrunde lag und in dem die Mutter der Anspruch stellenden Klägerin zumindest noch sporadischen Kontakt gehalten und sich im europäischen Ausland aufgehalten hatte.
Dabei ist der Begriff des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung (auch) des BSG "als uneinheitlich und unbeständig" zu beschreiben (so Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S. 130 m. zahlr. Nw.). Daher ist abstrakt keine greifbare Definition möglich, vielmehr ergeben sich einzelfallbezogene, dezisionistische Feststellungen. Auch wenn kein klassisches Verschuldenselement erforderlich sein soll, müssen nach der Rechtsprechung gleichwohl subjektive Elemente zur Bejahung eines Rechtsmissbrauchs hinzutreten (vgl. Knödler, ebd., S. 112). Solche sind vorliegend im Fall des Klägers auch deshalb nicht naheliegend, weil die Initiative zur Beantragung von Kindergeld, das im letztlich für einen längeren Zeitraum auch gewährt worden war, ursprünglich nicht von ihm selbst ausging, sondern vom Landkreis Fulda als Grundsicherungsträger. Ungeachtet dessen setzte aber die Annahme von Rechtsmissbrauch im vorliegenden Fall voraus, dass der Kläger praktisch entweder eine Suche nach Kontakten zu seinen Eltern unterlassen hat, um damit einen Anspruch auf Kindergeld zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten, oder aber zumindest unabhängig hiervon keinen Kontakt zu ihnen suchte, obwohl dies ohne Weiteres möglich wäre, um dann nachträglich diese Option für sich als Anspruchsgrund für Kindergeldzahlungen zu nutzen. Für beides fehlen vorliegend aus Sicht der Kammer jegliche Anhaltspunkte. Letztlich dürfte eine Rechtsmissbräuchlichkeit überhaupt nur dann anzunehmen sein, wenn bezogen auf den (potentiellen) Aufenthaltsstaat der Eltern ein Meldesystem existiert, das europäischen Standards entspricht. In einem allgemeinkundig durch einen Bürgerkrieg extremen Ausmaßes unter Beteiligung fremder Staaten weithin zerstörten Land wie Syrien fehlt es an jeglicher Verwaltung oder Infrastruktur, die eine einfache oder naheliegende Kontaktaufnahme zu dortigen Personen kaum realistisch macht, jedenfalls nicht als naheliegend erscheinen lässt. Es wäre zur Feststellung des Aufenthalts ein Aufwand erforderlich, dessen Unterlassen von vornherein kaum mit dem Begriff Rechtsmissbrauch beschrieben werden könnte; hierauf kommt es nach dem Dargelegten jedoch nicht an.
Das somit gefundene Ergebnis steht im Übrigen auch im Einklang mit der Auffassung des Gesetzgebers, jedenfalls nicht in Widerspruch dazu. Die Regelung in § 1 Abs. 2 BKGG geht auf eine Initiative des Bundesrates in einem Gesetzgebungsverfahren zum BKGG mit anderer Zielrichtung zurück. Die Länderkammer hielt es zur "Vermeidung von Härtefällen" für "geboten, auch alleinstehende Vollwaisen für ihre eigene Person in die Kindergeldzahlungen einzubeziehen, damit zu dem persönlichen Verlust bei Tod der Eltern nicht zusätzliche finanzielle Verschlechterungen durch den teilweisen Wegfall des Kindergeldes eintreten". Die Bundesregierung teilte daraufhin in ihrer Gegenäußerung mit, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren ein entsprechender Formulierungsvorschlag eingebracht werde (s. zu dem allen BT-Drs. 10/2886, S. 9, 10). Allerdings lässt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien nicht erkennen, warum neben tatsächlichen Vollwaisen auch solche Kinder in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen worden sind, die zwar nicht Vollwaisen sind, aber faktisch wegen Unkenntnis des Aufenthalts ihrer Eltern in vergleichbarer Situation leben. Soweit der Bundesrat auf eine Doppelbelastung von Vollwaisen durch Verlust der Eltern einerseits und zusätzlich durch den finanziellen Nachteil wegen "Wegfall[s]" des Kindergeldes abstellt, könnte daraus zwar der Schluss gezogen werden, dass Vollwaisen nur dann einen Kindergeldanspruch haben sollten, die zuvor mit Eltern gelebt haben. Dies könnte dann einen Kindergeldanspruch für Menschen wie den Kläger, der zu keiner Zeit mit kindergeldberechtigten Eltern in der Bundesrepublik gelebt hat, ausschließen, da Kindergeld niemals "weggefallen" ist.
Ein solches Verständnis des gesetzgeberischen Motivs wäre jedoch zu eng. Entscheidender Schwerpunkt der Regelung, wie er insbesondere auch in seinem Wortlaut Eingang in das BKGG gefunden hat, ist es, für Personen, deren Status (Alter, Ausbildung) an sich zu einem Kindergeldanspruch für die unterhaltspflichtigen Eltern führen würde, einen gleichwertigen Anspruch zu begründen, weil es an den eigentlich anspruchsberechtigten Eltern schlicht fehlt. Wer daher wie der Kläger als Flüchtling in das Bundesgebiet gekommen ist und zuvor seine Eltern zurückgelassen hat, lebt hier in der völlig gleichen Situation, wie sie sich für einen Vollwaisen darstellte. Insofern entspricht die Geltendmachung des Kindergeldanspruchs durch den Kläger letztlich dem gesetzgeberischen Ziel, so dass sich auch deshalb die Annahme eines (objektiven) Rechtsmissbrauchs verbietet. Dies gilt umso mehr, wenn man die sozialpolitische Zielsetzung des § 1 Abs. 2 BKGG darin sieht, dass der Kindergeldanspruch "allgemein in jenen Fällen nicht verloren sein" soll, "in denen kein Leistungsberechtigter für das Kind vorhanden ist" (so SG Landshut, Beschluss vom 17. April 2012 – S 10 KG 1/12 ER –, BeckRS 2012, 68757).
Es war dem Kläger auch nicht zuzumuten, die von der Beklagten thematisierten Suchmöglichkeiten über das Deutsche Rote Kreuz in Anspruch zu nehmen; das Unterlassen entsprechender Bemühungen war damit auch nicht anspruchsschädlich. Denn es ist keineswegs ersichtlich, dass damit jegliche Gefährdung des Klägers, der sich vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in die Bundesrepublik begeben hat, ausgeschlossen gewesen wäre. Ist dies aber der Fall, kann ein Unterlassen entsprechenden Handelns keinesfalls rechtsmissbräuchlich sein. Daher musste die Kammer auch nicht vor ihrer Entscheidung entsprechend der Anregung der Beklagten in ihrem jüngsten Schriftsatz vom 27. November 2020 den Kläger zunächst hierzu auffordern oder dies gegebenenfalls abwarten.
Nur ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie der im Widerspruchsbescheid zum Ausdruck kommenden Auffassung der Beklagten im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Leistung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst nicht folgt. Zwar stellt es natürlich den Regelfall dar, dass Kindergeld an unterhaltspflichtige Eltern geleistet wird. Die Regelung im Hinblick auf einen Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst in § 1 Abs. 2 BKGG ist als solche aber sowohl eindeutig wie auch weitreichend. Wer Vollwaise ist oder den Aufenthalt seine Eltern nicht kennt, erhält Kindergeld für sich selbst. Dass diese Regelung darüber hinaus noch weiter einschränkend im Sinne der Beklagtenauffassung ausgelegt werden müsste, ist nicht erkennbar. Insbesondere ist es deutlich zu weitgehend, einen solchen Anspruch schon dann auszuschließen, wenn auch nur die hypothetische Möglichkeit besteht, dass Eltern, die sich im Ausland aufhalten, ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen. Hierauf kommt es aber aufgrund der vorstehenden Gründe nicht an.
Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger den Aufenthalt seines Vaters als alleinigem noch lebenden Elternteil nicht kennt und diese Unkenntnis nicht rechtsmissbräuchlich durch den Kläger herbeigeführt bzw. aufrechterhalten worden ist. Damit liegen sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld an den Kläger für sich selbst vor, so dass die Klage vollumfänglich Erfolg hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst.
Der aus Syrien stammende Kläger reiste am 9. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er einen Asylantrag stellte. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2016 wurde ihm durch das BAMF die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuerkannt und er erhielt entsprechend eine Aufenthaltserlaubnis. In der Folgezeit erhielt der Kläger zunächst Kindergeld für sich selbst durch die Beklagte – dies auch noch im Zeitraum "ab Oktober 2018", nachdem er sich am 11. September 2018 für ein Vollzeitstudium an der Hochschule A-Stadt immatrikuliert hatte (Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2018). Aktuell ist er nach wie vor Student der Hochschule.
Im Juli 2019 sowie nachfolgend zu weiteren Zeitpunkten forderte die Beklagte den Kläger auf, eine Studienbescheinigung mit Geltungsdauer ab Oktober 2019 vorzulegen; unter dem 17. September 2019 verlangte sie sodann auch die Vorlage eines Fragebogens zum Aufenthalt der Eltern des Klägers, den dieser ausgefüllt mit Datum vom 18. Oktober 2019 vorlegte. Darin gab der Kläger an, zu seinen Eltern seit seiner Flucht aus Syrien keinen Kontakt mehr gehabt zu haben. Er habe auch mangels Möglichkeiten keine Bemühungen zu einer Kontaktaufnahme unternommen. Der letzte Kontakt zu seinem Vater sei am 20. September 2015 gewesen, seine Mutter sei bereits vor der Flucht verstorben.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 den Antrag des Klägers auf Leistung von Kindergeld ab dem Monat Oktober 2019 ab; dabei ging sie von einem Antrag auf Kindergeldleistungen des Klägers vom 10. Oktober 2019 aus. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass keine Bemühungen dargelegt worden seien, den Aufenthalt der Eltern des Klägers zu ermitteln.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2019 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst nur dann bestehe, wenn ihm der Aufenthalt seiner Eltern unbekannt sei. Dabei habe ein Anspruchsteller die ihm möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um den konkreten Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Insofern stehe die missbräuchliche Nichtkenntnis der positiven Kenntnis des Aufenthaltsortes gleich. Andernfalls habe es ein Antragsteller in der Hand, die Voraussetzungen seines Kindergeldanspruchs selbst zu schaffen. Dabei sei auch die gesetzgeberische Entscheidung zu berücksichtigen, derzufolge die Zahlung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst nur eine eng begrenzte Ausnahmeregelung darstelle.
Vorliegend habe der Kläger keinerlei Bemühungen dargelegt, den Aufenthaltsort seiner Eltern zu ermitteln. Zwar habe der Kläger vorgetragen, aufgrund seines aufenthaltsrechtlichen Status nicht berechtigt zu sein, mit den Behörden seines Heimatstaates Kontakt aufzunehmen; es seien aber keine Gründe ersichtlich, weshalb es ihm nicht zumutbar sein sollte, zumindest einen Suchauftrag über eine Hilfsorganisation zu stellen. Es bestünden zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vater des Klägers seinen ursprünglichen Wohnsitz in Syrien aufgegeben habe. Die gesetzliche Regelung zur Leistung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst zeigten, dass ein solcher Anspruch nur dann bestehen solle, "wenn es aufgrund objektiv feststellbarer Umstände ausgeschlossen" erscheine, "dass die Eltern den Kindergeldanspruch realisieren können. Bereits die hypothetische Möglichkeit, den Wohnsitz ins Inland zu verlegen", schließe "den Kindergeldanspruch des Kindes für sich selbst aus, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern diese Möglichkeit wahrnehmen können oder wollen.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16. Januar 2020, der am 20. Januar 2020 bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat der Kläger sodann Klage erhoben und verfolgt sein Begehren auf Zahlung von Kindergeld weiter. Zur Begründung führte er aus, dass er nach wie vor nicht in der Lage sei, den Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Er habe seine Eltern in Syrien zurückgelassen, wobei angesichts des Bürgerkriegs unklar sei, ob sie überhaupt noch lebten. Aufgrund seines Flüchtlingsstatus sei es ihm auch verwehrt, mit syrischen Behörden Kontakt aufzunehmen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 22. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 die Beklagte zu verurteilen, an ihn Kindergeld in gesetzlicher Höhe ab Oktober 2019 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt des angefochtenen Widerspruchsbescheides und wiederholt insoweit ihr bisheriges Vorbringen in Bezug auf das nach ihrer Auffassung anspruchsschädliche Fehlen von Bemühungen des Klägers, den Aufenthaltsort seiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Hierbei sei ihm zuzumuten, sich anbietende oder auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeiten zu nutzen. Insofern sei der Kläger verpflichtet, über online-Suchmöglichkeiten, die das Deutsche Rote Kreuz biete, eine Ermittlung des Aufenthaltsorts seiner Eltern zu versuchen; dadurch sei keine Gefährdung von Leib und Leben des Klägers zu besorgen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll vom 27. Oktober 2020 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ab Oktober 2019.
Dabei kann zunächst offenbleiben, ob der Bescheid vom 22. Oktober 2019 nicht bereits deshalb rechtswidrig ist, weil es an einem entsprechenden Antrag vom 10. Oktober 2019 fehlt; ein solcher ergibt sich jedenfalls nicht aus der Akte der Beklagten. Vielmehr begann sie Mitte des Jahres 2019, durch Anforderung einer Studienbescheinigung mit Geltung ab Oktober 2019 das Fortbestehen des durch Bescheid vom 26. Oktober 2018 festgestellten Kindergeldanspruchs des Klägers für sich selbst zu prüfen. Dem trat dann im September 2019 die Aufforderung zur Erklärung bezüglich der klägerischen Kenntnis über den Aufenthaltsort seiner Eltern hinzu. Eine Antragstellung durch den Kläger ergibt sich daraus nicht, vielmehr war das Verwaltungshandeln und dann auch die Entscheidung vom 22. Oktober 2019 darauf gerichtet, einen bereits zuerkannten Kindergeldanspruch aufzuheben. Die dafür gem. § 18 BKGG maßgeblichen Vorschriften des SGB X sind aber offensichtlich durch die Beklagte gar nicht angewandt worden. Hierauf kommt es aber letztlich nicht an, da sich der angegriffene Bescheid unabhängig hiervon als rechtswidrig erweist. Denn dem Kläger steht ein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst auch über September 2019 hinaus zu.
Gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Dabei besteht der Anspruch für einen nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländer wie den Kläger gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4, 3 lit. c. BKGG nur dann, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt im Bundesgebiet aufhält.
Diese Voraussetzungen sind unter den Beteiligten nicht umstritten und auch für die Kammer außer Zweifel – mit Ausnahme der Anspruchsvoraussetzung, dass der Kläger den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt. Diese ist jedoch ebenfalls zu bejahen.
Nach dem Vorbringen des Klägers, wie es sich insbesondere auch in seiner persönlichen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung darstellt, hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im hier streitigen Leistungszeitraum ab Oktober 2019 tatsächlich keine Kenntnis vom Aufenthalt seiner Eltern hat(te), wobei seine Mutter bereits verstorben ist. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger insoweit gegenüber dem Gericht oder der Beklagten wahrheitswidrige Behauptungen aufgestellt haben könnte.
Auf fehlende oder unzureichende Bemühungen des Klägers, den Aufenthaltsort seines Vaters (in seinem Heimatland Syrien) zu ermitteln, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten vorliegend nicht an.
Zunächst ist festzustellen, dass ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts nur positive Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern einem Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst entgegensteht. Fahrlässige oder anderweitige schuldhafte Nichtkenntnis kann dem daher nicht gleichgestellt werden. Dies folgt angesichts des Wortlauts auch daraus, dass dem Gesetzgeber, insbesondere im Bereich des Sozialrechts, der Begriff der fahrlässigen Nichtkenntnis nicht nur bekannt ist, sondern auch verbreitet genutzt wird. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf § 48 Abs. 1 Nr. 4 SGB X oder auch § 404 Abs. 1 SGB III und § 103 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Wenn demnach der Kläger entsprechende Formulierungen in § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG gerade nicht benutzt hat, kann daraus nur der Umkehrschluss gezogen werden, dass er entsprechende fahrlässige Nichtkenntnis auch nicht sanktionieren wollte.
Dies steht im Übrigen im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG, das im Urteil vom 8. April 1992 (10 RKg 12/91 – SozR 3-5870 § 1 Nr. 1 = juris Rn. 18) ausgeführt hat, dass im konkreten Fall, aber auch generaliter offenbleiben könne, wie zu verfahren sei, "wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern nicht nachgeht". Denn aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG lasse "sich jedenfalls in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte". Zu erwägen sei deshalb nur, "ob eine mißbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann".
Damit kommt nur der Rechtsmissbrauch als Grenze jeder Rechtsausübung als Umstand in Betracht, der trotz Unkenntnis des Aufenthalts seiner Eltern und damit dem Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen einem Kindergeldanspruch entgegenstehen kann. Ein solcher Rechtsmissbrauch ist jedoch noch fernliegender als in dem Fall, der der vorzitierten Entscheidung des BSG zugrunde lag und in dem die Mutter der Anspruch stellenden Klägerin zumindest noch sporadischen Kontakt gehalten und sich im europäischen Ausland aufgehalten hatte.
Dabei ist der Begriff des Rechtsmissbrauchs in der Rechtsprechung (auch) des BSG "als uneinheitlich und unbeständig" zu beschreiben (so Knödler, Mißbrauch von Rechten, selbstwidersprüchliches Verhalten und Verwirkung im öffentlichen Recht, 2000, S. 130 m. zahlr. Nw.). Daher ist abstrakt keine greifbare Definition möglich, vielmehr ergeben sich einzelfallbezogene, dezisionistische Feststellungen. Auch wenn kein klassisches Verschuldenselement erforderlich sein soll, müssen nach der Rechtsprechung gleichwohl subjektive Elemente zur Bejahung eines Rechtsmissbrauchs hinzutreten (vgl. Knödler, ebd., S. 112). Solche sind vorliegend im Fall des Klägers auch deshalb nicht naheliegend, weil die Initiative zur Beantragung von Kindergeld, das im letztlich für einen längeren Zeitraum auch gewährt worden war, ursprünglich nicht von ihm selbst ausging, sondern vom Landkreis Fulda als Grundsicherungsträger. Ungeachtet dessen setzte aber die Annahme von Rechtsmissbrauch im vorliegenden Fall voraus, dass der Kläger praktisch entweder eine Suche nach Kontakten zu seinen Eltern unterlassen hat, um damit einen Anspruch auf Kindergeld zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten, oder aber zumindest unabhängig hiervon keinen Kontakt zu ihnen suchte, obwohl dies ohne Weiteres möglich wäre, um dann nachträglich diese Option für sich als Anspruchsgrund für Kindergeldzahlungen zu nutzen. Für beides fehlen vorliegend aus Sicht der Kammer jegliche Anhaltspunkte. Letztlich dürfte eine Rechtsmissbräuchlichkeit überhaupt nur dann anzunehmen sein, wenn bezogen auf den (potentiellen) Aufenthaltsstaat der Eltern ein Meldesystem existiert, das europäischen Standards entspricht. In einem allgemeinkundig durch einen Bürgerkrieg extremen Ausmaßes unter Beteiligung fremder Staaten weithin zerstörten Land wie Syrien fehlt es an jeglicher Verwaltung oder Infrastruktur, die eine einfache oder naheliegende Kontaktaufnahme zu dortigen Personen kaum realistisch macht, jedenfalls nicht als naheliegend erscheinen lässt. Es wäre zur Feststellung des Aufenthalts ein Aufwand erforderlich, dessen Unterlassen von vornherein kaum mit dem Begriff Rechtsmissbrauch beschrieben werden könnte; hierauf kommt es nach dem Dargelegten jedoch nicht an.
Das somit gefundene Ergebnis steht im Übrigen auch im Einklang mit der Auffassung des Gesetzgebers, jedenfalls nicht in Widerspruch dazu. Die Regelung in § 1 Abs. 2 BKGG geht auf eine Initiative des Bundesrates in einem Gesetzgebungsverfahren zum BKGG mit anderer Zielrichtung zurück. Die Länderkammer hielt es zur "Vermeidung von Härtefällen" für "geboten, auch alleinstehende Vollwaisen für ihre eigene Person in die Kindergeldzahlungen einzubeziehen, damit zu dem persönlichen Verlust bei Tod der Eltern nicht zusätzliche finanzielle Verschlechterungen durch den teilweisen Wegfall des Kindergeldes eintreten". Die Bundesregierung teilte daraufhin in ihrer Gegenäußerung mit, dass im weiteren Gesetzgebungsverfahren ein entsprechender Formulierungsvorschlag eingebracht werde (s. zu dem allen BT-Drs. 10/2886, S. 9, 10). Allerdings lässt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien nicht erkennen, warum neben tatsächlichen Vollwaisen auch solche Kinder in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen worden sind, die zwar nicht Vollwaisen sind, aber faktisch wegen Unkenntnis des Aufenthalts ihrer Eltern in vergleichbarer Situation leben. Soweit der Bundesrat auf eine Doppelbelastung von Vollwaisen durch Verlust der Eltern einerseits und zusätzlich durch den finanziellen Nachteil wegen "Wegfall[s]" des Kindergeldes abstellt, könnte daraus zwar der Schluss gezogen werden, dass Vollwaisen nur dann einen Kindergeldanspruch haben sollten, die zuvor mit Eltern gelebt haben. Dies könnte dann einen Kindergeldanspruch für Menschen wie den Kläger, der zu keiner Zeit mit kindergeldberechtigten Eltern in der Bundesrepublik gelebt hat, ausschließen, da Kindergeld niemals "weggefallen" ist.
Ein solches Verständnis des gesetzgeberischen Motivs wäre jedoch zu eng. Entscheidender Schwerpunkt der Regelung, wie er insbesondere auch in seinem Wortlaut Eingang in das BKGG gefunden hat, ist es, für Personen, deren Status (Alter, Ausbildung) an sich zu einem Kindergeldanspruch für die unterhaltspflichtigen Eltern führen würde, einen gleichwertigen Anspruch zu begründen, weil es an den eigentlich anspruchsberechtigten Eltern schlicht fehlt. Wer daher wie der Kläger als Flüchtling in das Bundesgebiet gekommen ist und zuvor seine Eltern zurückgelassen hat, lebt hier in der völlig gleichen Situation, wie sie sich für einen Vollwaisen darstellte. Insofern entspricht die Geltendmachung des Kindergeldanspruchs durch den Kläger letztlich dem gesetzgeberischen Ziel, so dass sich auch deshalb die Annahme eines (objektiven) Rechtsmissbrauchs verbietet. Dies gilt umso mehr, wenn man die sozialpolitische Zielsetzung des § 1 Abs. 2 BKGG darin sieht, dass der Kindergeldanspruch "allgemein in jenen Fällen nicht verloren sein" soll, "in denen kein Leistungsberechtigter für das Kind vorhanden ist" (so SG Landshut, Beschluss vom 17. April 2012 – S 10 KG 1/12 ER –, BeckRS 2012, 68757).
Es war dem Kläger auch nicht zuzumuten, die von der Beklagten thematisierten Suchmöglichkeiten über das Deutsche Rote Kreuz in Anspruch zu nehmen; das Unterlassen entsprechender Bemühungen war damit auch nicht anspruchsschädlich. Denn es ist keineswegs ersichtlich, dass damit jegliche Gefährdung des Klägers, der sich vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in die Bundesrepublik begeben hat, ausgeschlossen gewesen wäre. Ist dies aber der Fall, kann ein Unterlassen entsprechenden Handelns keinesfalls rechtsmissbräuchlich sein. Daher musste die Kammer auch nicht vor ihrer Entscheidung entsprechend der Anregung der Beklagten in ihrem jüngsten Schriftsatz vom 27. November 2020 den Kläger zunächst hierzu auffordern oder dies gegebenenfalls abwarten.
Nur ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie der im Widerspruchsbescheid zum Ausdruck kommenden Auffassung der Beklagten im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Leistung von Kindergeld an ein Kind für sich selbst nicht folgt. Zwar stellt es natürlich den Regelfall dar, dass Kindergeld an unterhaltspflichtige Eltern geleistet wird. Die Regelung im Hinblick auf einen Anspruch eines Kindes auf Kindergeld für sich selbst in § 1 Abs. 2 BKGG ist als solche aber sowohl eindeutig wie auch weitreichend. Wer Vollwaise ist oder den Aufenthalt seine Eltern nicht kennt, erhält Kindergeld für sich selbst. Dass diese Regelung darüber hinaus noch weiter einschränkend im Sinne der Beklagtenauffassung ausgelegt werden müsste, ist nicht erkennbar. Insbesondere ist es deutlich zu weitgehend, einen solchen Anspruch schon dann auszuschließen, wenn auch nur die hypothetische Möglichkeit besteht, dass Eltern, die sich im Ausland aufhalten, ihren Wohnsitz in das Bundesgebiet verlegen. Hierauf kommt es aber aufgrund der vorstehenden Gründe nicht an.
Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger den Aufenthalt seines Vaters als alleinigem noch lebenden Elternteil nicht kennt und diese Unkenntnis nicht rechtsmissbräuchlich durch den Kläger herbeigeführt bzw. aufrechterhalten worden ist. Damit liegen sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld an den Kläger für sich selbst vor, so dass die Klage vollumfänglich Erfolg hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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