L 19 AS 212/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 25 AS 1377/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 212/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.01.2020 geändert. Unter Abänderung des Bescheides vom 25.08.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2016 wird der Beklagte verpflichtet, den Klägern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2015 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die dem Beklagten im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.01.2020 auferlegten Verschuldenskosten in Höhe von 250,00 Euro werden aufgehoben. Der Beklagte trägt die ½ der außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Instanzen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den Klägern in der Zeit vom 06.07.2015 bis 05.10.2015 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zustehen.

Die am 00.00.1999 bzw. 00.00.2001 geborenen Kläger und ihre Mutter, Frau J H, besitzen die ukrainische Staatsangehörigkeit. Sie reisten am 05.07.2015 als minderjährige Kinder im Alter von damals 13 bzw. 15 Jahren zusammen mit ihrer Mutter und ihrem im Jahr 2014 geborenen Halbbruder U in die Bundesrepublik ein. Der Vater von U ist der deutsche Staatsangehörige B S. U S ist deutscher Staatsangehöriger.

Frau H. und die Kläger beantragten am 18.03.2015 die Erteilung eines nationalen Visums zur Einreise bei der deutschen Botschaft in der Ukraine. Die zuständige Ausländerbehörde der Stadt L stimmte diesem Antrag zur gemeinsamen Einreise mit dem Sohn U am 11.06.2015 aufgrund von § 6 AufenthG i.V.m. § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in die Bundesrepublik zu. Die Zustimmung zur Einreise der Kläger erfolgte auf Grundlage von § 6 AufenthG i.V.m. § 32 AufenthG zur gemeinsamen Einreise mit der Mutter und dem Bruder U, da eine Versorgung der beiden Kläger im Heimatland nicht gewährleistet sei und die Mutter einen Rechtsanspruch auf Einreise gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG habe. Es liege ein Ausnahmetatbestand nach Verwaltungsvorschriften Punkt 5.1.1.2 vor. Die Erlaubnis war jeweils auf drei Monate befristet. Frau H wurde daraufhin am 30.06.2015 ein auf drei Monate befristetes Visum zum Nachzug zum deutschen Kind U erteilt. Eine Erwerbstätigkeit war gestattet Die beiden Klägern erhielten am 30.06.2015 ein auf drei Monate befristetes Visum zwecks Familienzusammenführung Minderjähriger zur Mutter.

Frau H. und die drei Kinder zogen zunächst in die Wohnung von Herr S. nach L. Später erfolgte ein Umzug nach E. Dort besuchten die Kläger das Gymnasium.

Nach ihrer Einreise beantragten Frau. H. und die Kläger am 14.07.2015 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Ausländerbehörde der Stadt L stellte jeweils am 03.09.2015 gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung (Gültigkeitszeitraum vom 03.09.2015 bis 02.03.2016) aus. Nach dem Umzug nach E zum 01.11.2015 stellte die dortige zuständige Ausländerbehörde jeweils weitere Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG aus. Am 10.03.2017 wurde Frau H. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG und den beiden Klägern am 03.11.2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 AufenthG erteilt. Der Klägerin zu 2. war eine Erwerbstätigkeit gestattet.

Der Beklagte bewilligte Herrn S. mit Bescheid vom 24.01.2015 Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.01.2015 bis 31.08.2015. Am 14.07.2015 teilte Herr S. dem Beklagten mit, dass seine Lebensgefährtin mit insgesamt drei Kindern bei ihm eingezogen sei und er für diese Leistungen beantragt.

Mit Änderungsbescheid vom 24.07.2015 bewilligte der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 24.01.2015 Grundsicherungsleistungen für Frau H. und ihrem Sohn U als Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft des Herrn S. für Zeit vom 06.07.2015 bis 31.08.2015, jedoch keine Leistungen für die Kläger. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Kläger gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten.

Mit Schreiben vom 27.07.2015 hörte der Beklagte Herrn S. wegen des Zuzugs seiner Partnerin und deren Kinder zu einer Überzahlung im Monat Juli 2015 i.H.v. 101,86 Euro an. Der Regelbedarf sei auf den Partnerregelbedarf zu reduzieren und von den Kosten der Unterkunft und Heizung könnten nur 3/5 übernommen werden, da die Kläger nicht zur Bedarfsgemeinschaft, sondern nur zur Haushaltsgemeinschaft gehören würden. Herr S. erklärte mit Schreiben vom 03.08.2015, dass eine Überzahlung nicht vorliege, da der Beklagte auch für die Kläger zuständig sei. Mit Bescheid vom 10.08.2015 hob der Beklagte gegenüber Herrn S. die Grundsicherungsleistungen für Juli 2015 i.H.v. 101,86 Euro gemäß § 48 SGB X auf. Gegen den Aufhebungsbescheid legte Herr S. am 17.08.2015 Widerspruch ein, zu dessen Begründung er im Wesentlichen angab, dass auch für die Kläger Leistungen vom Zeitpunkt der Einreise an zu erbringen seien, da sie zur Bedarfsgemeinschaft gehören würden. Der Beklagte half dem Widerspruch im Februar 2016 ab.

Bereits am 31.07.2015 stellte Herr S. einen Weiterbewilligungsantrag für sich, Frau H. und die drei Kinder. Mit Bescheid vom 25.08.2015 bewilligte der Beklagte Herrn S., Frau H. und ihrem Sohn U Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum von September 2015 bis Februar 2016; die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für die Kläger lehnte der Beklagte ab.

Gegen diesen Bescheid legte Herr S. am 31.08.2015 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Kläger zu Unrecht nicht in seiner Bedarfsgemeinschaft aufgenommen worden seien.

Mit Änderungsbescheid vom 21.10.2015 änderte der Beklagte den Bescheid vom 25.08.2015 aufgrund des Bezuges von Kindergeld für den Sohn U mit Wirkung ab dem 01.11.2015 ab. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 22.10.2015 nahm der Beklagte u.a. die Kläger ab 06.10.2015 in die Bedarfsgemeinschaft auf und bewilligte ihnen Grundsicherungsleistungen. Mit Bescheid vom 28.10.2015 hob der Beklagte wegen des Umzugs der Familie die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen mit Wirkung zum 01.11.2015 auf.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.02.2016 wies der Beklagte den Widerspruch vom 31.08.2015 als unbegründet zurück. Streitig sei der Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2015. Die Kläger seien jedoch nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen, da sie sich seit Einreise am 05.07.2015 noch nicht drei Monate in Deutschland aufhielten. Sie seien keine Familienangehörigen eines im Haushalt lebenden deutschen Staatsangehörigen.

Die Kläger haben am 29.02.2016 Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 24.02.2016 mit dem Begehren erhoben, ihnen Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 05.07.2015 bis 05.10.2015 zu gewähren. Sie haben vorgetragen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II bei verfassungskonformer Auslegung nach Art. 6 GG nicht gelte und in europarechtskonform (Art. 20 AEUV) einschränkender Auslegung die Norm nicht gegenüber solchen Ausländern, die gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zur Ausübung der Personensorge gegenüber einem minderjährigen unverheiratetem Unionsbürger (Deutschen) eingereist seien, gelte. Ihre Mutter sei dementsprechend zu Recht seit ihrer Einreise anspruchsberechtigt, nichts anderes gelte für sie. Sie hätten ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht von ihrer Mutter. Sie haben auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R - verwiesen.

Der Beklagte hat vorgetragen dass seine Rechtsansicht durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 25.02.2016 -C-299/14 gestützt werde. Dort werde ausdrücklich bestätigt, dass der Anspruchsausschluss für die ersten drei Monate nach Einreise auch bei Familiennachzug europarechtskonform sei. Der Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II unterscheide nicht zwischen volljährigen und minderjährigen Ausländern.

Mit Gerichtsbescheid vom 07.01.2020 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 24.07.2015 und vom 25.08.2015 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 21.10.2015 und 22.10.2015 und des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2016 verurteilt, den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom 06.07.2015 bis 05.10.2015 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen. Zudem sind dem Beklagten Verschuldenskosten in Höhe eines Betrages von 250,00 Euro auferlegt worden. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den am 09.01.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 07.02.2020 Berufung eingelegt. Gegenstand des Verfahrens sei der Bescheid vom 25.08.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2016. Zwar sei auf Grundlage der Rechtsprechung des BSG vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R - der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht auf die Mutter der Kläger anwendbar, da diese ihr Aufenthaltsrecht von ihrem deutschen Sohn ableite. Dies gelte aber nicht für die Kläger, da diese ihr Aufenthaltsrecht doppelt ableiten würden, nämlich von ihrer Mutter, die wiederum ihr Aufenthaltsrecht von ihrem deutschen Sohn ableite. Die Rechtsprechung des Bundesozialgerichts sei nur auf ausländische Ehegatten von Deutschen anwendbar. Auch stünden die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit einen Anspruch der Kläger in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes entgegen.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.01.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen

Die Kläger halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat mit Beschluss vom 17.04.2020 die Stadt L nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig beigeladen. Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten und der Ausländerakten der Stadt E bezüglich der Kläger und deren Mutter Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist in tenorierten Umfang begründet.

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 25.08.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2016, mit welchem der Beklagte Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Kläger für die Zeit vom 01.09.2015 bis 05.10.2015 abgelehnt hat. Der Bescheid vom 24.07.2015, mit dem der Beklagte die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen an die Kläger für die Zeit vom 05.07.2015 bis 31.08.2015 abgelehnt hat, ist nicht Streitgegenstand des Verfahrens. Insoweit ist das Sozialgericht bei der Auslegung des Klagebegehrens unzutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte durch den mit der Klage angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 24.02.2016 eine Entscheidung über einen Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid vom 24.07.2015 getroffen hat. Dies ist nicht der Fall. Aus dem Wortlaut des Widerspruchsbescheides ergibt sich eindeutig, dass durch diesen Bescheid ausschließlich der Widerspruch der Kläger, vertreten durch Herrn S. nach § 38 Abs. 1 S.1 SGB II, gegen den Bescheid vom 25.08.2015, mit dem u.a. die Leistungsansprüche der Kläger für die Zeit vom 01.09.2015 abgelehnt wurden, beschieden wurde.

Die Berufung des Beklagten ist insoweit begründet, als das Sozialgerichts ihn verurteilt hat, den Klägern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 06.07.2015 bis 31.08.2015 zu gewähren. Denn entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Klage für diesen Zeitraum unzulässig.

Soweit die Kläger die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 06.07 bis 31.08.2015 begehren, ist die von ihnen erhobene kombinierte Anfechtung- und Leistungsklage i.S.v. § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG unzulässig, da der angefochtene Bescheid betreffend diesen Zeitraum keine Regelung trifft. Ebenso ist eine reine Leistungsklage i.S.v. § 54 Abs. 5 SGG unzulässig.

Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung jedoch bereits erklärt, dass Schreiben des Herrn S. vom 03.08.2015 (Antwort auf das Anhörungsschreiben vom 27.07.2015) als Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.07.205 auszulegen und nach Abschluss des Verfahrens eine entsprechende Entscheidung auch für den Zeitraum 06.07.2015 bis 31.08.2015 zu erlassen.

Im Übrigen ist die Berufung des Beklagten unbegründet.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 01.09.2015 bis 05.10.2015 ist die von den Klägern erhobene kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage i.S.v., § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG zulässig und begründet.

Der Kläger sind durch die Ablehnung der Leistungen für den Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2015 beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 SGG.

Der Bescheid vom 25.08.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2016 ist rechtswidrig.

Die Kläger haben für den Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2016 einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

Entgegen der Auffassung des Beklagten waren die beiden Kläger - unabhängig davon, ob der Leistungsauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II zu ihren Ungunsten eingreift - im streitbefangenen Zeitraum Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus Herrn S., Frau H. und deren drei Kindern nach § 7 Abs. 3 Nrn. 1, 3c und 4. SGB II. Herr S. und Frau H. bildeten eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft i.S.v. § 7 Abs. 3 Nr. 1, 3c und Abs. 3a Nr. 2 SGB II. Die drei Kinder von Frau S. gehörten dem Haushalt von Herrn S. und Frau H. an und verfügten über kein Einkommen oder Vermögen, das ihren Lebensunterhalt vollständig deckte. Insoweit nahm Herr S. gegenüber den beiden Klägern die Funktion eines faktischen Stiefvaters wahr (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R).

Die Klägerin zu 2. erfüllte im streitbefangenen Zeitraum die Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherungsleistungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II dem Grunde nach. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1) sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik (Nr. 4). Sie war erwerbsfähig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 SGB II. Weiterhin war sie hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II, da sie weder über Einkommen noch über Vermögen verfügte und auch Herr S. und ihre Mutter weder über anrechenbares Einkommen noch zu berücksichtigendes Vermögen verfügten.

Der Kläger zu 1. war als nichterwerbsfähiges Kind leistungsberechtigt nach § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II.

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II (i.d.F. des Gesetzes vom 20.12.2011, BGBl I 2854 mit Wirkung zum 01.04.2012) greift zu Ungunsten der Kläger im streitigen Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2015 nicht ein. Danach sind vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.

Zwar hielten sich die Kläger (als Ausländer im Sinne der o.g. Vorschrift) im streitbefangenen Zeitraum erst weniger als drei Monate im Bundesgebiet auf. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II a.F. ist aber dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Familienangehörige eines Deutschen, der einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Zweiten Kapitels des AufenthG - Aufenthalt aus familiären Gründen - besitzt oder zum Zweck des Familiennachzuges von einer deutschen Botschaft ein nationales Visum (D-Visum) nach § 6 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit §§ 27 ff. AufenthG ausgestellt worden ist, von dieser Regelung nicht erfasst wird. Eine einschränkende Auslegung im Wege einer teleologischen Reduktion ist vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BSG, Urteil vom 11.07.2019 - B 14 AS 44/18 R m.w.N.). Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R) an, wonach aus dem der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen - wie die Kläger -, die im Rahmen eines Familiennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik ziehen, durch die Einführung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht beeinträchtigt werden sollte.

Mit Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU zum 28.08.2007 ist Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht eingeräumt worden, sich drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Diese Unionsbürger waren von der vormaligen vom 010.4.2006 bis zum 27.08.2007 geltenden Fassung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht erfasst. Um diese Personengruppe ebenfalls zu erfassen, ist die Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl I 1970) neu gefasst worden. Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 234) soll der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II "vor allem Unionsbürger" betreffen. Auf die Personengruppe der Drittstaatsangehörigen und insbesondere die Situation des Familiennachzugs eines Drittstaatsangehörigen zu einem deutschen Staatsangehörigen gehen die Gesetzesmaterialien nicht ein. Zweck der Gesetzesänderung war es vielmehr, einen denkbaren Leistungsanspruch von Unionsbürgern auszuschließen, die sich drei Monate lang voraussetzungslos im Bundesgebiet aufhalten dürfen (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Hieran zeigt sich, dass der Gesetzgeber lediglich auf die Neuordnung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger reagieren wollte und nicht zugleich die Leistungsberechtigung anderer Ausländer über die bisherige Regelung hinaus einschränken wollte. Im Unterschied zu den Unionsbürgern können Drittstaatsangehörige regelmäßig nicht voraussetzungslos in das Bundesgebiet einreisen. Die Einreise ist vielmehr davon abhängig, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Vorliegend handelt sich bei den Klägern als Halbgeschwister des deutschen Staatsangehörigen U S um Verwandte zweiten Grades eines minderjährigen Deutschen nach § 1589 S. 2 und S. 3 BGB und damit um sonstige Familienangehörige in einer Seitenlinie i.S.v. § 28 Abs. 4 AufenthG. Den Klägern ist ein Visum nach § 6 Abs. 3 AufenthG von der deutschen Botschaft zwecks Familiennachzuges i.S.v. § 32 Abs. 1 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 29.08.2013, BGBl I 3484 mit Wirkung zum 06.09.2013 - a.F.) sowie nach der Einreise von der zuständigen Ausländerbehörde bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse eine Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG erteilt worden. Voraussetzung eines Aufenthaltsrechtes nach § 32 Abs. 1 AufenthG a.F. ist, dass der sorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Eine solche Aufenthaltserlaubnis lag für die Mutter der Kläger gemäß § 28 Abs. 1 S.1 Nr. 3 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 29.08.2013, BGBl I 3484) vor. Hiernach wird nur dem Ehegatten eines Deutschen, einem minderjährigen ledigen Kind eines Deutschen oder einem Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge oder sonstigen Familienangehörigen erteilt. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung. (§ 28 Abs. 1 S. 2 AufenthG). Damit ist auch der Aufenthaltstitel nach § 32 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG - im Fall, dass das personenberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG besitzt - akzessorisch davon abhängig, dass das Kind in einem Verwandtschaftsverhältnis zu einem Deutschen steht. Die erteilten Aufenthaltstitel entfalten für den Beklagten wie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit Tatbestandswirkung (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2020 - B 10 EG 5/18 R und vom 14.06.2018 - B 14 As 28/17 R).

Der Senat folgt nicht der Auffassung des Beklagten, wonach nur Familienangehörige eines Deutschen i.S.v. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU (i.d.F. des Gesetzes vom 02.12.2014, BGB I 1922 mit Wirkung zum 09.12.2014) vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht erfasst sind, jedoch Familienangehörige eines Deutschen in der Seitenlinie, also sonstige Familienangehörige i.S.v. § 28 Abs. 4 AufenthG, auch wenn ihnen ein Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Zweiten Kapitels des AufenthG zum Zwecke des Familiennachzugs erteilt worden ist - vom Leistungsauschluss erfasst werden.

Das Aufenthaltsgesetz behandelt im Sechsten Abschnitt des Zweiten Kapitels den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland aus familiären Gründen. Dabei regeln die §§ 28-30, 32,33 und 36 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzung für eine Familienzusammenführung zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern und unterscheiden zusätzlich danach, ob das in Deutschland lebende Familienmitglied die deutsche Staatangehörigkeit besitzt oder nicht. Insoweit werden bei Erteilung solcher Aufenthaltserlaubnisse die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik mit den durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Familiengemeinschaft miteinander abgewogen (BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 15/12). Der Gesetzgeber wollte das fiskalische Interesse der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Erteilung eines Aufenthaltstitels berücksichtigen, jedoch nicht durch die erfolgte Umsetzung der EU-Richtlinien zur Änderung des § 7 Abs. 1 S 2 SGB II in die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen, ändern. Eine abweichende Regelungsabsicht hätte der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien zu erkennen gegeben. Es ist nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber einen Familiennachzug eines Drittstaatsangehörigen zu einem Deutschen aufenthaltsrechtlich gestatten wollte, anderseits ein solcher Nachzug vom SGB II leistungsrechtlich sanktioniert werden sollte (BSG, Urteil vom 30.01. 2013 - B 4 AS 37/12 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 - L 9 AS 3548/16).

Soweit sich der Beklagte für seine Rechtsauffassung auf die Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II Ziffer 7.22 stützt, stehen diese der Rechtsauffassung des Senats nicht entgegen. Danach werden Familienangehörige von deutschen Staatsangehörigen vom generellen Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland nicht erfasst. Dies betrifft nach den Fachlichen Hinweisen insbesondere:

• Ehegattinnen und Ehegatten,
• Lebenspartnerinnen und Lebenspartner in eingetragener Lebenspartnerschaft,
• Verwandte in gerader absteigender Linie (Kinder, Enkelkinder) die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen Unterhalt gewährt wird,
• Verwandte in gerader aufsteigender Linie (Eltern, Großeltern) denen Unterhalt gewährt wird.

Die Fachlichen Hinweise führen zwar nur die Verwandten in gerader aufsteigender und absteigender Linie auf, sonstige Familienangehörige i.S.v. § 28 Abs. 4 AufenthG, also Verwandte in Seitenlinien, werden nicht erwähnt. Durch die die Verwendung des Wortes "insbesondere" wird aber deutlich, dass die Aufzählung in der Fachlichen Weisung nicht abschließend ist. Das Wort "insbesondere" wird in der juristischen Methodenlehre nur verwendet, um sog. Regelbeispiele darzustellen. Die Merkmale eines Regelbeispiels sind jedoch keine Tatbestandsmerkmale im eigentlichen Sinne, denn sie haben nur Indizwirkung.

Nach den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur gilt jedoch auch, dass Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II a.F., die einen Aufenthaltstitel nach dem Fünften Abschnitt des Zweiten Kapitels des AufenthG - Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen - haben, vom Leistungsausschluss des §§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II a.F. nicht erfasst sind, wenn ihnen zum Zweck des Familiennachzuges zunächst von einer deutschen Botschaft ein nationales Visum (D-Visum) nach § 6 Absatz 3 in Verbindung mit §§ 27 ff. AufenthG ausgestellt wird. Dabei wird nicht zwischen einzelnen Titeln nach den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Zweiten Kapitels unterschieden. Es sind auch Verwandte in der Seitenlinie erfasst, wenn ihnen ein Aufenthaltstitel nach §§ 27 ff. AufenthG erteilt wird.

Konsequenz der Interpretation der Weisungslage durch den Beklagten - Leistungsausschluss für Familienangehörige eines Deutschen in der Seitenlinie trotz erteilen nationalen Visum nach § 6 Abs. 3 AufenthG i.V.m. §§ 27ff AufenthG -ist daher, dass Familienangehörige i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II a.F., denen ein Visum zum Familiennachzug nach §§ 27 AufenthG in die Bundesrepublik erteilt worden ist, bessergestellt werden, als Familienangehörige eines Deutschen, denen ein Visum zum Familiennachzug in die Bundesrepublik nach §§ 27 AufenthG erteilt worden ist. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung dieser beiden Personengruppen ist nicht ersichtlich und wurde vom Beklagten auch nicht nachvollziehbar dargelegt.

Die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 S. 2 Nrn. 2 und 3 SGB II greifen nicht ein, da die Kläger über Aufenthaltstitel nach dem AufenthG verfügten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die vom Sozialgericht nach § 192 SGG auferlegten Verschuldenskosten aufgehoben. Die Voraussetzungen einer missbräuchlichen Fortsetzung des Rechtsstreits durch den Beklagten lagen nicht vor. Die Klage war hinsichtlich des Zeitraums 06.07.2015 bis 31.08.2015 unzulässig.

Gründe für eine Revisionszulassung (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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