S 29 AS 700/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 700/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
1. Der Bescheid des Beklagten vom 22.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2019 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, über die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ab dem 01.08.2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Der Beklagte hat der Klägerin 35 % ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die fiktive Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen bei der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Am 21.01.2019 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten für sich und ihren am 2007 geborenen Sohn die Weiterbewilligung von Leistungen ab dem 01.03.2019. Mit Bescheid vom 25.01.2019 bewilligte der Beklagte für die Zeit vom 01.03.2019 bis 30.06.2019 Leistungen i.H.v. 663,18 EUR monatlich, darunter 431,05 EUR für die Klägerin und 232,13 EUR für Ihren Sohn. Für den Zeitraum vom 01.07.2019 bis 31.08.2019 wurden Leistungen i.H.v. 653,18 EUR monatlich bewilligt (428,05 EUR Klägerin, 225,13 EUR Sohn).

Die Klägerin ist alleinerziehend. Bei der Berechnung der Leistungen wurde kein Unterhalt für den Sohn angerechnet. Die Klägerin teilte bei einer Vorsprache am 09.05.2019 dem Beklagten mit, dass sie den Vater ihres Sohnes zwar kenne, den Namen jedoch nicht nennen werde. Es handele sich um eine Samenspende. Sie habe damals mit einer Freundin zusammengewohnt und sich den Spender selbst über das Internet gesucht. Es sei weder eine Klinik noch ein Arzt beteiligt gewesen. Sie kenne den Vater aber persönlich, man laufe sich jetzt ab und zu über den Weg. Mit dem Vater sei vereinbart, dass Sie den Namen nicht weitergebe. Es sei überdies vereinbart, dass er keinerlei Unterhalt zahlen müsse. Sie würde auch tatsächlich keinen Unterhalt beziehen.

Mit Schreiben vom 09.05.2019 forderte der Beklagte die Klägerin auf, die Personalien des Kindesvaters mitzuteilen und sich mit dem Jugendamt wegen der Anerkennung der Vaterschaft in Verbindung zu setzen.

Nachdem die Klägerin sich nicht beim Jugendamt gemeldet hatte, wurde sie von dem Beklagten mit Schreiben vom 05.07.2019 an ihre Mitwirkungspflichten erinnert. Auch wurde sie darauf hingewiesen, dass der Kindesvater ihrem Sohn gegenüber zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet ist und die Unterhaltszahlungen den Anspruch ihres Sohnes auf Leistungen mindern. Auch wurde sie darauf hingewiesen, dass Leistungen ab August 2019 teilweise versagt werden, wenn sie den Kindesvater nicht benennt und auch nicht bei dem Vaterschaftsfeststellungsverfahren mitwirkt. Ergänzend wurde ihr mit Schreiben vom 08.07.2019 mitgeteilt, dass der Unterhalt für Ihren Sohn bei unbegrenzter Leistungsfähigkeit des Kindesvaters nach der Düsseldorfer Tabelle aktuell 660,00 EUR monatlich betrage und der aktuelle Leistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft nur 642,15 EUR. Mit Bescheid vom 22.07.2019 wurden die Leistungen ab August 2019 teilweise in Höhe von max. 660,00 EUR monatlich versagt.

Gegen den Versagungsbescheid erhob die Klägerin am 05.08.2019 Widerspruch. Die Klägerin trug vor, ein überragend schützenswertes Interesse an der Verweigerung der Vaterschaftsauskunft zu haben und dass der in Ansatz gebrachte monatliche Unterhaltsbetrag von 660,00 EUR nicht nachvollziehbar sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2019 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Die Klägerin erhob am 07.11.2019 Klage vor dem Sozialgericht Gießen. Sie sei zur Verweigerung der Vaterschaftsauskunft berechtigt gewesen. Es habe sich um eine anonyme Spende gehandelt und die Klägerin habe sich verpflichten müssen, dass sie den Namen des Spenders nicht nennen werde. Anfangs sei dieser der Klägerin noch nicht bekannt gewesen, sie habe den Namen nur durch Zufall erfahren. Die Klägerin erhalte für ihr Kind keinerlei Unterhaltszahlungen und sei somit auch auf die Gewährung der vollständigen Leistung existenziell angewiesen.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2019 zu verurteilen, an die Klägerin für sich und ihren Sohn auch ab 01.08.2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in ungekürzter Höhe und ohne Anrechnung von 660,00 EUR Unterhalt für das Kind der Klägerin zu erbringen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er verweist auf den Inhalt der Verwaltungsakte sowie die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid.

Die Vorsitzende hat mit den Beteiligten am 02.11.2020 einen Erörterungstermin durchgeführt. Die Beteiligten haben sich darin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 02.11.2020 Bezug genommen. All dies ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat den vorliegenden Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 105 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beteiligten wurden hierzu angehört.

Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Durchgreifende Klageart ist hier die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in Form der so genannten Verpflichtungsbescheidungsklage, § 54 Absatz 1 S. 1 SGG, da dem Beklagten bei der Beurteilung, ob Leistungen ganz oder teilweise zu entziehen sind, ein Ermessen eingeräumt wird. Der Antrag der Klägerin war insoweit auslegungsfähig.

Die Klage ist jedoch nur teilweise begründet.

Zunächst hat der Beklagte dem Grunde nach zu Recht entschieden, dass fiktive Unterhaltszahlungen auf den Leistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft anzurechnen sind (vgl. auch SG Trier vom 03.08.2015 – S 5 AS 150/15), solange die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten durch die Benennung des Kindesvaters nicht nachkommt und Leistungen gem. §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) teilweise versagt.

Gemäß § 60 Abs. 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, insbesondere alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen. Da der Beklagte zur Leistungserbringung nur im Rahmen einer bestehenden Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) verpflichtet ist, mindert etwaiges Einkommen den Leistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft. Da minderjährige Kinder von getrenntlebenden Eltern immer einen Anspruch auf Unterhalt haben, würde dieser Unterhaltsanspruch auf den Bedarf des Kindes der Klägerin angerechnet, sodass Hilfebedürftigkeit nicht im vollem Umfang des Bedarfes bestünde. Solange die Kindesmutter trotz positiver Kenntnis vom Namen des Kindesvaters diesen nicht offenbart, kommt sie ihren Mitwirkungspflichten offensichtlich nicht nach.

Die Klägerin hat auch kein Recht, die Auskunft über den Namen des leiblichen Vaters ihres Sohnes zu verweigern. Die Vorsitzende schließt sich insoweit den als zutreffend erachteten Ausführungen des Beklagten im Bescheid vom 22.07.2019 nach erneuter Prüfung vollumfänglich an, § 136 Abs. 3 SGG. Ergänzend sei an dieser Stelle angemerkt, dass zwar grundsätzlich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) folgt, dass Privatpersonen grundsätzlich das Recht haben, selbst darüber zu befinden, ob und in welcher Form und wem Einblick in die Intimsphäre und das eigene Geschlechtsleben gewährt wird, was auch das Recht umfasst, geschlechtliche Beziehungen zu einem bestimmten Partner nicht offenbaren zu müssen (BVerfG vom 24.02.2015 – 1 BvR 472/14), allerdings müssen in der diesbezüglich vorzunehmende Abwägungsentscheidung auch die Interessen des leiblichen Kindes und insbesondere auch die Interessen der Allgemeinheit Berücksichtigung finden, sofern steuerfinanzierte Leistungen anstelle des an sich Unterhaltspflichtigen begehrt werden (so auch SG Trier vom 03.08.2015 - S 5 AS 150/15). Sofern die Klägerin meint, sich auf eine Vereinbarung zwischen ihr und dem Kindesvater berufen zu müssen, wonach dieser darauf vertrauen dürfe, dass er keinerlei Unterhalt für das im Wege der "Samenspende" gezeugte Kind zu befürchten habe, so muss der Klägerin damit auch klar sein, dass sie nicht erwarten kann, dass die Allgemeinheit auf diese individuelle Abrede zwischen ihr und dem Kindesvater durch den Einsatz von steuerfinanzierten Leistungen Rücksicht nimmt bzw. Rücksicht zu nehmen hat. Im Übrigen wäre ein solcher Verzicht auf Unterhaltsansprüche des Kindes für die Zukunft ohnehin nichtig, § 1614 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. § 138 BGB.

Der Klägerin ist die geforderte Mitwirkungshandlung unter diesen Gesichtspunkten zumutbar und es ist auch nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Beklagte dann in Höhe der dadurch unterbliebenen möglichen Unterhaltszahlungen die an sich zustehende Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen fehlender Mitwirkung gemäß § 66 SGB I versagt. Allerdings ist aus dem Bescheid des Beklagten vom 22.07.2019 nicht ersichtlich, dass der Beklagte von dem ihm zustehenden Ermessen hinsichtlich der Frage, ob Leistungen ganz oder teilweise zu versagen sind, Gebrauch gemacht hätte.

Der Beklagte ist lediglich davon ausgegangen, dass der Kindesvater vollumfänglich leistungsfähig ist, er hat jedoch keinerlei Argumente für einen niedrigeren Unterhaltsanspruch in Erwägung gezogen. Es ist fernab jeglicher Lebenserfahrung und äußerst unwahrscheinlich, dass der Kindesvater ein Nettoeinkommen i.H.v. 5.101,00 – 5.500,00 EUR aufweist. Solange hierfür keine Anhaltspunkte vorliegen, kann von einem solch hohen Nettoeinkommen nicht ausgegangen werden. Ausweislich der Begründung des Bescheides vom 22.07.2019 wollte der Beklagte von der höchsten Stufe der Düsseldorfer Tabelle, der Stufe 10, ausgehen. In dieser Stufe werden 160 % des Mindestunterhaltes als Unterhalt anerkannt. Zum beabsichtigten Zeitpunkt der Leistungsversagung, dem Monat August 2019, war der Sohn der Klägerin 12 Jahre alt. Der Beklagte war wohl noch von einem 11-jährigen Kind ausgegangen, wonach 650,00 EUR an Unterhalt in der Stufe 10 der Düsseldorfer Tabelle vorgesehen waren. Bei der Berücksichtigung von 660,00 EUR dürfte es sich um ein Ableseversehen gehandelt haben.

Über den Kindesvater ist nichts bekannt. Es kann daher auch nicht notwendigerweise davon ausgegangen werden, dass der Kindesvater Einkommen im untersten Bereich der Düsseldorfer Tabelle erzielt. Das Gericht ist mangels jeglicher Angaben über den Kindesvater der Auffassung, dass in einem solchen Falle auf allgemein zugängliche Kriterien und Daten zurückgegriffen werden muss. Da die Düsseldorfer Tabelle zur Bestimmung des Kindesunterhaltes im Wesentlichen auf das Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen abstellt, ist es nach der Rechtsauffassung des Gerichts in einem solchen Falle bei der Ausübung des Ermessens sachdienlich, auf das durchschnittliche Nettoeinkommen deutscher Arbeitnehmer im Jahr 2019 abzustellen. Laut Statistik der Statista GmbH (https://de.statista.com/themen/293/durchschnittseinkommen/), veröffentlicht am 17.08.2020 betrug der durchschnittliche Netto-Arbeitslohn je ledigen Arbeitnehmer ohne Kinder 2.079,00 EUR monatlich. Laut statistischem Bundesamt (www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-Verdienstunterschiede/verdienste-branchen.html) verdiente ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer im Jahr 2019 durchschnittlich 3.994,00 EUR brutto im Monat. Unter Berücksichtigung der Steuerklasse I ergibt sich daraus ein monatlicher Nettolohn in Höhe von etwa 2.405,13 EUR. Dies erscheint nach Auffassung der Vorsitzenden recht hoch. Auch sollten angesichts der unterschiedlichen Werte etwaige Abweichungen Berücksichtigung finden, sodass bei der Ermessensausübung womöglich von der 2. Stufe der Düsseldorfer Tabelle (Nettoeinkommen zwischen 1.901,00 und 2.300,00 EUR) ausgegangen werden müsste.

Sofern aufgrund der Berücksichtigung des sich sodann nach der Düsseldorfer Tabelle ergebenden fiktiven Unterhalts ein Einkommen des Sohnes der Klägerin ergeben sollte, dass dessen Bedarf übersteigt, so wäre der übersteigende Bedarf bei der Klägerin als sonstiges Einkommen anzurechnen. Da dies jedoch kein Erwerbseinkommen ist, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass nach Auffassung des Gerichts die Versicherungspauschale gem. § 6 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (ALG II-V) i.H.v. 30,00 EUR auf diesem Betrag geltend gemacht werden könnte. Sofern sich danach ergeben sollte, dass noch verbleibendes Einkommen besteht, so wäre dieses dann nach Auffassung des Gerichts auf den Bedarf der Mutter anzurechnen.

Der Beklagte war demnach zu verurteilen, über die Leistungen ab August 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei wurde das Verhältnis von Obsiegen zu Unterliegen berücksichtigt. Statt des von dem Beklagten angerechneten fiktiven Unterhalts i.H.v. 660,00 EUR monatlich wäre nach Auffassung des Gerichts wohl ein Betrag i.H.v. 427,00 EUR anzurechnen, was 65 % des ursprünglich angerechneten Betrages entspricht.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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