Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 39 KR 642/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 349/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms mit dem Fertigarzneimittel Avastin kann mangels indikationsbezogener Zulassung grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verlangt werden.
2. Die Ergebnisse der im November 2017 veröffentlichten Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms lassen nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird.
Einem Anspruch auf Versorgung mit Avastin zur Behandlung eines Glioblastoms aus § 2 Abs. 1a SGB V steht derzeit die Sperrwirkung der Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 sowie die Ablehnung des Zulassungsantrags aus dem Jahr 2014 entgegen.
2. Die Ergebnisse der im November 2017 veröffentlichten Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms lassen nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird.
Einem Anspruch auf Versorgung mit Avastin zur Behandlung eines Glioblastoms aus § 2 Abs. 1a SGB V steht derzeit die Sperrwirkung der Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 sowie die Ablehnung des Zulassungsantrags aus dem Jahr 2014 entgegen.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Juni 2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin und Berufungsklägerin Anspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Avastin hat und Kosten für bereits durchgeführte Behandlungen mit Avastin zu erstatten sind.
Die 1949 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Im November 2014 wurde bei ihr ein Glioblastoma multiforme links frontal insulär, MGMT-methyliert, festgestellt. Zunächst wurde eine Chemotherapie mit dem Zytostaticum Temodal, ab Sommer 2015 zusätzlich eine Radiotherapie durchgeführt. Wegen erheblicher Nebenwirkungen wurde die Behandlung mit Temodal am 11.08.2015 und die Bestrahlungstherapie am 27.08.2015 ausgesetzt. Nach deutlichem Tumorwachstum wurde vom 07.03.2016 bis 02.05.2016 eine Chemotherapie mit Procarbazin und Lomustin (PC-Behandlung) durchgeführt, die wegen schwerer Nebenwirkungen abgebrochen wurde.
Ab dem 11.04.2016 wurde die Klägerin mit Avastin behandelt. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab ist ein rekombinanter humanisierter monoklonaler Antikörper aus der Gruppe der Immunglobuline, der für den Einsatz in Deutschland und der EU zur Behandlung verschiedener Krebserkrankungen, nicht aber zur Behandlung von Glioblastomen zugelassen ist.
Am 30.01.2017 stellte die Klägerin beim Sozialgericht München (SG) einen Eilantrag auf Behandlung mit Avastin (S 17 KR 145/17 ER). Bislang seien die Kosten für diese Behandlung auf Basis des Nikolausbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) übernommen worden. Jetzt habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) diese Therapie wegen fehlender Zulassung von Avastin zur Behandlung von Glioblastomen nicht mehr tragen dürfe. Bei ihr habe die Therapie nachweislich angesprochen.
Die Beklagte teilte dazu mit, dass ihr kein Antrag auf Kostenübernahme von Avastin vorliege. Sie sei nicht darüber informiert gewesen, dass sie diese Arzneimitteltherapie bislang bezahlt habe. Sie legte den Eilantrag der Klägerin als Antrag auf Kostenübernahme der Avastin-Therapie aus und lehnte diesen mit Bescheid vom 09.02.2017 unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, ab. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 04.04.2017 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 27.04.2017 Klage zum SG München erhoben und vorgetragen, dass sich ihr Zustand bereits wenige Wochen nach der Erstgabe von Avastin gebessert habe. Auch die aktuelle Studienlage weise darauf hin, dass die Behandlung von Glioblastomen mit Avastin eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf erwarten lasse. Hingewiesen wurde auf die AVAglio Studie, die Glarius-Studie und die sog. EORTC-Studie 26101. Zudem sei die Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17 zu berücksichtigen.
Die Beklagte hat zu den von der Klägerin erwähnten Studien ausgeführt, dass die Glarius-Studie und die EORTC-Studie 26101 Phase II-Studien seien, die für den Fall der Klägerin nicht interessant seien. Bei der Klägerin finde eine Monotherapie mit Avastin statt, während die Glarius-Studie eine Kombinationstherapie mit Avastin und Irinotecan zum Gegenstand gehabt habe, und zwar bei Glioblastomen mit nicht methyliertem MGMT-Promotor - beim Tumor der Klägerin sei eine MGMT-Promoter-Methylierung nachgewiesen. Gegenstand der EORTC-Studie 26101 sei ebenfalls eine Kombinationstherapie (Avastin in Kombination mit Lomustin) gewesen. Lomustin habe die Klägerin nach eigenem Vortrag nicht vertragen. Die von der Klägerin angesprochene AVAglio-Studie sei eine Phase III-Studie, welche die Behandlung des neu diagnostizierten Glioblastoms mit Avastin in Kombination mit Strahlentherapie und Temozolomid zum Gegenstand gehabt habe. Auf Grundlage dieser Studie habe der Hersteller von Avastin, die Firma R., einen neuen Versuch der Zulassungserweiterung bei der EMA (European Medicines Agency) gestartet, der 2014 abermals gescheitert sei. Etwa zur gleichen Zeit wie die AVAglio-Studie sei vom National Cancer Institute in den USA eine sehr ähnliche Studie (RTOG 0825) durchgeführt worden, die nach Gabe von Avastin weder eine signifikante Verlängerung des Gesamtüberlebens noch eine Verbesserung der Lebensqualität habe feststellen können, sondern im Gegenteil höhere Raten einer Verschlechterung neurokognitiver Funktionen und eine Abnahme der Lebensqualität. Die von der Klägerseite angesprochene Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, enthalte nichts Neues.
Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Dr. A. hat mitgeteilt, dass sich der Allgemeinzustand der Klägerin unter der Avastin-Therapie verbessert habe und die Lähmung des rechten Beins rückläufig sei. Auch Prof. K. hat über eine Befundverbesserung nach Avastin-Gabe berichtet. Es gebe zur Avastin-Therapie keine adäquate Alternative. Nebenwirkungen oder Komplikationen seien nicht aufgetreten. Das SG hat den Facharzt für Neurochirurgie Prof. Dr. S., Klinikum B. in B-Stadt, zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. In seinem Gutachten nach Aktenlage vom 08.03.2018 hat der Sachverständige ausgeführt, dass es für das rezidivierte Glioblastom keine Standardbehandlung gäbe, üblicherweise würde die Primärtherapie erneut eingesetzt. Auch beim Rezidiv der Klägerin sei eine Tumorresektion nicht in Frage gekommen. Eine erneute Bestrahlung sei auf Grund der damit verbundenen Risiken nicht zu empfehlen und nicht Standard. Eine Chemotherapie sei bereits durchgeführt worden mit schweren und typischen Nebenwirkungen. Trotz des langen Zeitabstands und der verbesserten Datenlage und Verträglichkeit seit der letzten Gabe liege für eine neuerliche Chemotherapie keine überzeugende Risiko-Nutzen-Relation vor. Die Studienlage zu Avastin könne wie folgt zusammengefasst werden: eine Lebensverlängerung durch Avastin habe bislang von keiner prospektiven randomisierten Studie nachgewiesen werden können, das gelte für die Gabe von Avastin allein wie auch in Kombination mit verschiedenen Chemotherapien. Umgekehrt ergäbe sich durchgehend ein positiver Effekt auf das progressionsfreie Überleben, also die Zeit bis zum neuerlichen Fortschreiten der Erkrankung. Hoch problematisch sei aber, dass das progressionsfreie Überleben vor allem über den MRT-Befund definiert werde. Die traditionelle Definition eines Glioblastoms bzw. seiner Grenzen auf dem MRT-Bild werde durch die Kontrastmittelaufnahme definiert. Die Kontrastmittelaufnahme sei aber letztlich ein gefäßabhängiges Phänomen und Avastin habe auf Angiogenese und Gefäßpermeabilität seinen primären Einfluss. Eine besondere Avastin-responsive Patientengruppe habe bislang nicht identifiziert werden können. Die gängigen molekularbiologischen Parameter, wie beim Glioblastom z.B. die MGMT-Hypermethylierung, seien nach Datenlage nicht geeignet, Avastin-Responder zu identifizieren. Es gäbe allerdings Publikationen, aus denen sich zumindest Hinweise herauslesen ließen, dass eine solche molekulare Stratifizierung von Glioblastom-Patienten möglich sein könnte. Bezüglich des Einflusses von Avastin auf die Lebensqualität seien bisher weder besonders negative noch besonders positive Effekte aufgefallen. Avastin sei nicht in der EU, aber in der Schweiz, in den USA und in Kanada für die Therapie des Glioblastoms zugelassen. Es gebe daher keinen Konsens, dass Avastin unwirksam sei. Der Krankheitsverlauf der Klägerin sei derzeit stabil, was als Therapieerfolg zu werten sei. Die Klägerin habe ohne Tumorresektion bislang drei Jahre nach Diagnosestellung überlebt. In einer aktuellen Studie werde bei Patienten mit methylierten Tumoren ein 3-Jahres-Überleben in ca. 25 % der Fälle beschrieben, wobei die Patienten im Schnitt deutlich jünger als die Klägerin gewesen seien. Andere Studien würden für nicht operable Tumore eine deutlich geringere 3-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit ergeben. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Avastin-Therapie einen positiven Effekt gehabt habe. Von daher erscheine die Avastin-Therapie bei dieser speziellen Patientin medizinisch sinnvoll. Dies impliziere nicht, dass Avastin generell oder nur im Fall der Klägerin nachgewiesenermaßen wirksam sei. Er stütze seine Bewertung lediglich auf die Beobachtung eines gegen alle Erwartungen günstigen Verlaufs unter einer Therapie, für deren Wirksamkeit plausible Argumente vorlägen. Aus der Akte seien keine Nebenwirkungen ersichtlich, welche wesentlich oder überwiegend auf die Avastin-Therapie zurückzuführen seien.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde die Beklagte mit Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29.05.2017, L 5 KR 291/17 B ER, vorläufig - längstens bis 31.12.2017 - verpflichtet, die Klägerin mit Avastin als Sachleistung zu versorgen.
Mit Bescheiden vom 15.11.2017 und 05.03.2018 erklärte sich die Beklagte bereit, die weiteren Kosten für die Behandlung mit Avastin über den 31.12.2017 hinaus bis längstens 30.06.2018 vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung in Abhängigkeit vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen. Auf dieser Grundlage hat die Beklagte die Kosten für die in der Zeit vom 29.05.2017 bis 30.06.2018 erfolgte Avastin-Behandlung übernommen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.06.2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Ein Anspruch auf Übernahme bzw. Erstattung der Kosten für die Behandlung mit Avastin aufgrund Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) komme wegen der rechtzeitigen Bescheidung des Antrags nicht in Betracht. Ein Leistungsanspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestehe mangels Zulassung nicht. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab unterfalle ausschließlich dem Zuständigkeitsbereich der VO (EG) 726/2004. Avastin verfüge nicht über die von Art 3 Abs. 1 VO (EG) 726/2004 geforderte Genehmigung für die Behandlung eines Glioblastoms. Es bestehe auch kein Anspruch gemäß § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und im Falle von klinischen Studien regele, da die dort genannten Voraussetzungen offensichtlich nicht vorlägen. Auch die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versorgung mit einem nicht oder nicht für die betreffende Indikation zugelassenen Arzneimittel im Rahmen des Off-Label-Use seien nicht gegeben. Denn es fehle jedenfalls an einer auf Grund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Hierfür müssten Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Der Hersteller habe eine solche Phase III-Studie (die sog. AVAglio Studie von Olivier L. Chinot et al.) durchführen lassen und die Ergebnisse am 01.06.2013 veröffentlicht. Die Studie habe jedoch als Untersuchungsgegenstand die Wirkweise des Wirkstoffs Bevacizumab ausgehend von einer anfänglichen Kombination zusammen mit Bestrahlung und Gabe des Chemotherapeutikums Temozolomid gehabt. Erst auf einer dritten Behandlungsstufe sei die Monotherapie mit Bevacizumab erfolgt. Damit liege nach wie vor keine Phase III-Studie zu der bei der Klägerin angewandten Monotherapie mit Avastin vor. Darüber hinaus sei die arzneimittelrechtliche Zulassung durch die EMA trotz dieser Studie am 18.11.2014 auch bezüglich der Kombinationstherapie bestehend aus Bestrahlung, Temozolomid und Avastin abgelehnt worden, da der klinisch relevante Nutzen bei vertretbaren Risiken durch diese Studie nicht habe belegt werden können. Dasselbe gelte für eine weitere Studie unter Leitung des Heidelberger Neurologen Wolfgang Wick, die 2017 im New England Journal of Medicine erschienen sei und sich mit den Wirkstoffen Lomustin und Bevacizumab befasst habe. Die Klägerin selbst stütze ihren Leistungsanspruch auf § 2 Abs. 1a SGB V bzw. das hinter diesem Anspruch stehende Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). § 2 Abs. 1a SGB V begründe aber nach der Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließe, keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation, für die eine Genehmigung im europäischen Zulassungsverfahren abgelehnt worden sei. Das BSG stütze sich hierbei auf die Entwicklungsgeschichte, das Regelungssystem des Arzneimittelzulassungsrechts und des SGB V sowie den Regelungszweck des § 2 Abs. 1a SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Es habe in zahlreichen Entscheidungen seit Erlass des sog. Nikolaus-Beschlusses des BVerfG ausgeführt, dass das arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis nicht faktisch durch die richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel systematisch unterlaufen und umgangen werden dürfe, da dies mit einem unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet und auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten verbunden sei. Der Gesetzgeber habe in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Einführung des § 2 Abs. 1a SGB V klargestellt, dass die von der Rechtsprechung zum Off-Label-Use von Arzneimitteln aufgestellten Grundsätze weitergelten sollten und hierbei Bezug genommen auf die Entscheidung des BVerfG vom 30.06.2008, 1 BvR 1665/07. In seinem Nichtannahmebeschluss vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, verweise das BVerfG darauf, dass für einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V eine notstandsähnliche Situation erforderlich sei. Mit der Frage, wie gering die Anforderungen an eine nicht entfernt liegende Aussicht auf positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf sein müssten und wie sich das Verhältnis des Anspruchs zum Off-Label-Use darstelle, setze sich das Bundesverfassungsgericht hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht auseinander.
Dagegen hat die Klägerin am 19.07.2018 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben. Ihr Prozessbevollmächtigter hat zur Begründung vorgetragen, dass das SG die Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V fehlerhaft einschränkend dahingehend ausgelegt habe, dass bei der zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln die vom BSG aufgestellten Off-Label-Use-Kriterien erfüllt sein müssten. Die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses würden aber nicht von den Kriterien der BSG-Rechtsprechung überrollt. Der Verweis auf die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 1a SGB V ändere hieran nichts. Hingewiesen worden ist ferner auf eine Neuauswertung der AVAglio-Studie, die eine Untergruppe der untersuchten Probanden ermittelt habe, bei denen sich ein hochsignifikantes Ansprechen mit verlängerter Gesamtüberlebensdauer gezeigt habe. Diese Untergruppe habe einen molekularen Subtyp (proneural) aufgewiesen. Daraus ergäbe sich, dass eine bestimmte Patientengruppe existiere, bei der das Arzneimittel Avastin eine besonders hohe Wirksamkeit entfalte. Die Klägerin zähle dazu. Infolge der Avastin-Therapie seien der Klägerin in der Zeit vom 31.01.2017 bis 29.05.2017 Kosten in Höhe von 5.149,87 EUR und in der Zeit vom 01.07.2018 bis 07.10.2019 Kosten in Höhe von 23.176,27 EUR entstanden. Die letzte Avastin-Gabe sei am 07.10.2019 erfolgt.
Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hat auf die Entscheidung des BSG vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, verwiesen, wonach bei einem zulassungsüberschreitenden Einsatz eines Arzneimittels die abstrakte und konkrete Nutzen-Risiko-Analyse für den Versicherten positiv ausfallen müsse. Diese Analyse falle jedoch bereits auf abstrakter Ebene negativ aus, wenn eine ablehnende arzneimittelrechtliche Zulassungsentscheidung zu dem beantragten Arzneimittel ergangen sei. Gleichlautende Ausführungen fänden sich im Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.06.2018 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2017 zu verurteilen, die der Klägerin entstandenen Kosten für die Behandlung mit Avastin in Höhe von 28.326,14 Euro zu erstatten und die Klägerin nach ärztlicher Verordnung mit Avastin zu versorgen sowie festzustellen, dass die Klägerin in der Zeit vom 30.01.2017 bis 30.06.2018 einen Anspruch auf Versorgung mit Avastin hatte.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.
Das Sozialgericht München hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat weder zum jetzigen Zeitpunkt noch hatte sie in der Vergangenheit Anspruch auf eine Behandlung mit Avastin. Die ihr infolge der Avastin-Behandlung entstandenen Kosten sind nicht zu erstatten.
Die erhobene Klage ist statthaft und zulässig.
Wie das SG zutreffend dargelegt hat, ist statthafte Klageart hinsichtlich des Zeitraums, in der die Beklagte die Kosten für die Avastin-Behandlung vorläufig getragen hat, die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Denn insoweit zielt die Klage nicht nur auf die Aufhebung der Entscheidung der Beklagten in der Hauptsache ab, sondern auch auf die Feststellung des Rechtsgrundes für das "Behaltendürfen" der aufgrund einstweiliger Verfügung vorläufig erbrachten Sachleistungen (vgl. dazu BSG, Urteile v. 13.12.2016, B 1 KR 1/16 R und B 1 KR 10/16 R).
Soweit die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch wegen selbst beschaffter Leistungen sowie einen Anspruch auf (künftige) Versorgung mit Avastin geltend macht, ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) statthaft.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hatte zu keinem Zeitpunkt Anspruch auf Versorgung mit Avastin. Die ihr entstandenen Kosten für durchgeführte Behandlungen mit Avastin sind nicht zu erstatten.
1. Wie vom SG zutreffend ausgeführt, kann die Klägerin den geltend gemachten Anspruch auf Versorgung mit Avastin nicht mit Erfolg aus der Regelung des § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V herleiten, da Avastin in Deutschland bzw. in der EU nicht zur Behandlung von Glioblastomen zugelassen ist. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab unterfällt als ein rekombinanter humanisierter monoklonaler Antikörper, der mittels DNA-Technologie aus Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) gewonnen wird, ausschließlich dem Zuständigkeitsbereich der VO (EG) 726/04. Avastin verfügt nicht über die nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 726/04 erforderliche Genehmigung in Bezug auf die hier maßgebliche Indikation (Behandlung des Glioblastoms). Auf die weiteren Ausführungen hierzu in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Auch ein Anspruch auf Versorgung mit Avastin im Rahmen eines Off-Label-Use scheidet vorliegend aus. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und im Falle von klinischen Studien regelt, liegt nichts vor. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use konnte und kann die Klägerin die Versorgung mit Avastin nicht verlangen. Danach kommt ein Off-Label-Use nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R).
Vorliegend fehlt es an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Von einer in diesem Sinne hinreichenden Erfolgsaussicht ist nach der Rechtsprechung des BSG nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R; Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R).
Eine Phase-III-Studie zu einer Monotherapie mit Avastin, wie sie bei der Klägerin durchgeführt worden ist, ist bislang nicht veröffentlicht worden.
In der 2014 veröffentlichten Phase-III-Studie AVAglio (Chinot et al., New England Journal of Medicine - NEJM - 2014: Bevacizumab plus Radiotherapy-Temozolomide for Newly Diagnosed Glioblastoma) wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Bevacizumab in Kombination mit Strahlentherapie und Temozolomid nach einer Operation oder Biopsie geprüft. Die Studie bezog sich auf die Behandlung des neu diagnostizierten Glioblastoms und war Grundlage des von der Fa. R. im Jahr 2014 gestellten Antrags auf Erweiterung der Zulassung von Avastin für das neu diagnostizierte Glioblastom. Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat nach Prüfung dieser Studie den Antrag abgelehnt, da die Wirksamkeit von Avastin in Kombination mit Bestrahlung und Temozolomid nicht ausreichend belegt worden sei. Zwar habe sich eine Verbesserung beim progressionsfreien Überleben gezeigt. Dieses habe jedoch aufgrund von Einschränkungen hinsichtlich der verfügbaren Methoden zur Messung der Größe der Hirntumoren nicht als klinisch relevant angesehen werden können. Darüber hinaus habe sich das Gesamtüberleben nicht verbessert. Der Ausschuss für Humanarzneimittel sei daher der Ansicht gewesen, dass der Nutzen von Avastin bei der Behandlung eines neu diagnostizierten Glioblastoms gegenüber den Risiken nicht überwiege (vgl. Presseerklärung der EMA vom 24.09.2014, Bl. 338 SG-Akte). Damit kann mit der AVAglio-Studie eine nach Datenlage begründete Erfolgsaussicht nicht begründet werden.
Die Neuauswertung der AVAglio-Studie, auf die sich die Klägerseite im Berufungsverfahren bezogen hat, wurde bereits im September 2015 veröffentlicht (Sandmann et al., Journal Of Clinical Onkology, September 2015). Es handelt sich um eine retrospektive Subgruppenanalyse der AVAglio-Studie, deren Ergebnisse in einem Artikel der Zeitschrift "Im Fokus Onkologie" vom 21.11.2015 in einem Fazit so zusammengefasst werden: "Patienten mit proneuralem IDH1-Wildtyp-Glioblastom profitieren wahrscheinlich im Gegensatz zu anderen Glioblastompatienten von Bevacizumab zusätzlich zur Erstlinien-Standardtherapie auch im Hinblick auf das Gesamtüberleben. Das sollte nun in einem unabhängigen Kollektiv validiert werden".
Die Neuauswertung der AVAglio-Studie führte demnach lediglich zu Hinweisen dafür, dass eine bestimmte Patientengruppe, deren Glioblastom eine bestimmte Molekulargenetik aufweist, stärker von einer Bevacizumab-Therapie profitieren könnte als andere Glioblastom-Patienten. Diese durch eine retrospektive Analyse von Studiendaten generierte Hypothese konnte aber im weiteren Verlauf nicht erhärtet oder validiert werden. So führt der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Prof. S. zu der These, dass Bevacizumab bei einer bestimmten Patientensubgruppe einen besonders positiven Effekt haben könnte, in seinem Gutachten vom 08.03.2018 aus, dass Konsens sicherlich sei, dass eine besondere Avastin-responsive Patientengruppe bislang nicht habe identifiziert werden können. Es gäbe allerdings Publikationen, aus denen sich zumindest Hinweise herauslesen ließen, dass eine solche molekulare Stratifizierung von Glioblastom-Patienten möglich sein könnte. Damit genügen die aufgrund der Neuauswertung der AVAglio-Studie gewonnenen Forschungsergebnisse nicht den Maßstäben, die für einen Off-Label-Use nach den Kriterien des BSG zu verlangen sind.
Die im November 2017 veröffentlichte Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms (EORTC 26101 Phase III - Wick et al. NEJM 2017: Lomustine and Bevacizumab in Progressive Glioblastoma) konnte weder eine Verbesserung des Gesamtüberlebens noch der gesundheitsbezogenen Lebensqualität noch der neurokognitiven Funktion bei einer Behandlung mit Bevacizumab und Lomustin (Kombinationsbehandlung) im Vergleich zu der nur mit Lomustin behandelten Patientengruppe bestätigen. Die Kombinationstherapie führte mit 38,5% zu signifikant mehr schwerwiegenden Nebenwirkungen als die Monotherapie mit 9,5% (vgl. hierzu auch Diener in: Arzneimitteltherapie 2018; 36(03):80-109). Wie schon bei der vorangegangenen Phase II-Studie zeigte sich jedoch eine Verbesserung des progressionsfreien Überlebens bei den mit der Kombinationsbehandlung therapierten Patienten. Nach Einschätzung des Leiters dieser Studie Prof. Wick lassen die Ergebnisse dieser Phase III-Studie nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird (vgl. Pressemitteilung des Universitätsklinikums Heidelberg 2017/137 vom 27.11.2017; MTA-Dialog vom 28.11.2017, https://www.mta-dialog.de/artikel/kein-ueberlebensvorteil-fuer-glioblastom-patienten.html). Damit ist auch diese Studie nicht geeignet, eine nach Datenlage begründete Erfolgsaussicht im vorliegenden Fall zu begründen.
Ein Leistungsanspruch der Klägerin besteht auch nicht nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw. nach der Regelung § 2 Abs. 1a SGB V. Dem Anspruch steht die Sperrwirkung entgegen, welche die Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 sowie die 2014 erfolgte Versagung der Zulassungserweiterung für Avastin durch die EMA entfalten (vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R, Rn 26). Auf die Ausführungen hierzu in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils wird ausdrücklich Bezug genommen.
Nochmals hervorzuheben ist, dass das BSG in seinem Urteil vom 16.12.2016, B 1 KR 10/16 R, festgestellt hat, dass § 2 Abs. 1a SGB V keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation begründet, für die eine Genehmigung in einem Zulassungsverfahren nach VO (EG) Nr 726/2004 abzulehnen war. Dazu genügt es, dass der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel - wie bei Avastin für die Indikation des rezidivierenden Glioblastoms - ein im Ergebnis ablehnendes Gutachten erstellt hat, ohne dass der Antragsteller das Verfahren weiterverfolgt. Dies gilt, so das BSG, auch dann, wenn der betreffende Versicherte an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet und eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung mit der Möglichkeit einer spürbar positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nicht zur Verfügung steht. Diese Auslegung, der sich der Senat anschließt, folgt aus der Entwicklungsgeschichte, dem Regelungssystem des Arzneimittelzulassungsrecht und des SGB V sowie dem Regelungszweck, ohne dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1a SGB V entgegensteht.
Die Sachlage, die den erwähnten Entscheidungen des BSG zur Versorgung Versicherter mit Avastin zur Therapie von Glioblastomen nach Rezidiv zugrunde lag (B 1 KR 10/16 R; B 1 KR 36/17 R), hat sich seither nicht entscheidend verändert. Wie schon dargelegt, wurde der erneute Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung des Arzneimittels Avastin für die Behandlung des Glioblastoms von der EMA abgelehnt (Bescheid vom 22.05.2014) und der dagegen eingelegte Widerspruch am 22.09.2014 zurückgewiesen. Der Hersteller von Avastin hat bislang keinen neuen Zulassungsantrag bei der EMA gestellt. Die Sperrwirkung sowohl der Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 als auch der förmlichen Ablehnung des Zulassungsantrags aus dem Jahr 2014 kann daher nicht als beendet betrachtet werden.
Das BSG hat sich bei seiner Entscheidung ausdrücklich auch auf die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 1a SGB V gestützt: "Für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene Arzneimittel bleiben neben der mit dem neuen § 2 Absatz 1a SGB V vorgenommenen leistungsrechtlichen Klarstellung die vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätze zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, die vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet wurden (Nichtannahmebeschluss vom 30. Juni 2008, Aktenzeichen 1 BvR 1665/07), unberührt" (BT-Drs 17/6906, S. 53). Soweit der Prozessbevollmächtigte im Berufungsverfahren dazu vorgetragen hat, dass die Verwendung des Begriffs "neben" auf eine parallele Geltung der Grundsätze des BSG und des § 2 Abs. 1a SGB V hindeute, überzeugt dies nicht. Die Gesetzesbegründung ist mit dem BSG vielmehr so zu verstehen, "dass die Rechtsprechung des BSG zur Leistungspflicht der GKV für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene Arzneimittel durch die Einfügung eines Abs. 1a unberührt bleiben solle und nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungskonform sei" (BSG, a.a.O., Rn 22).
Auch die Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, steht dem nicht entgegen. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG Bezug genommen.
2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten (28,326,14 Euro), die ihr durch bereits durchgeführte Avastin-Behandlungen entstanden sind.
Ein Anspruch aufgrund Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Antrag vom 30.01.2017 innerhalb der Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V beschieden worden ist (Bescheid vom 09.02.2017).
Ein Anspruch auf Kostenerstattung wegen rechtswidriger Leistungsablehnung gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V scheidet ebenfalls aus, da die Beklagte die Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin nicht zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. dazu 1.).
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin und Berufungsklägerin Anspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Avastin hat und Kosten für bereits durchgeführte Behandlungen mit Avastin zu erstatten sind.
Die 1949 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Im November 2014 wurde bei ihr ein Glioblastoma multiforme links frontal insulär, MGMT-methyliert, festgestellt. Zunächst wurde eine Chemotherapie mit dem Zytostaticum Temodal, ab Sommer 2015 zusätzlich eine Radiotherapie durchgeführt. Wegen erheblicher Nebenwirkungen wurde die Behandlung mit Temodal am 11.08.2015 und die Bestrahlungstherapie am 27.08.2015 ausgesetzt. Nach deutlichem Tumorwachstum wurde vom 07.03.2016 bis 02.05.2016 eine Chemotherapie mit Procarbazin und Lomustin (PC-Behandlung) durchgeführt, die wegen schwerer Nebenwirkungen abgebrochen wurde.
Ab dem 11.04.2016 wurde die Klägerin mit Avastin behandelt. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab ist ein rekombinanter humanisierter monoklonaler Antikörper aus der Gruppe der Immunglobuline, der für den Einsatz in Deutschland und der EU zur Behandlung verschiedener Krebserkrankungen, nicht aber zur Behandlung von Glioblastomen zugelassen ist.
Am 30.01.2017 stellte die Klägerin beim Sozialgericht München (SG) einen Eilantrag auf Behandlung mit Avastin (S 17 KR 145/17 ER). Bislang seien die Kosten für diese Behandlung auf Basis des Nikolausbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) übernommen worden. Jetzt habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) diese Therapie wegen fehlender Zulassung von Avastin zur Behandlung von Glioblastomen nicht mehr tragen dürfe. Bei ihr habe die Therapie nachweislich angesprochen.
Die Beklagte teilte dazu mit, dass ihr kein Antrag auf Kostenübernahme von Avastin vorliege. Sie sei nicht darüber informiert gewesen, dass sie diese Arzneimitteltherapie bislang bezahlt habe. Sie legte den Eilantrag der Klägerin als Antrag auf Kostenübernahme der Avastin-Therapie aus und lehnte diesen mit Bescheid vom 09.02.2017 unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, ab. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 04.04.2017 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 27.04.2017 Klage zum SG München erhoben und vorgetragen, dass sich ihr Zustand bereits wenige Wochen nach der Erstgabe von Avastin gebessert habe. Auch die aktuelle Studienlage weise darauf hin, dass die Behandlung von Glioblastomen mit Avastin eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf erwarten lasse. Hingewiesen wurde auf die AVAglio Studie, die Glarius-Studie und die sog. EORTC-Studie 26101. Zudem sei die Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17 zu berücksichtigen.
Die Beklagte hat zu den von der Klägerin erwähnten Studien ausgeführt, dass die Glarius-Studie und die EORTC-Studie 26101 Phase II-Studien seien, die für den Fall der Klägerin nicht interessant seien. Bei der Klägerin finde eine Monotherapie mit Avastin statt, während die Glarius-Studie eine Kombinationstherapie mit Avastin und Irinotecan zum Gegenstand gehabt habe, und zwar bei Glioblastomen mit nicht methyliertem MGMT-Promotor - beim Tumor der Klägerin sei eine MGMT-Promoter-Methylierung nachgewiesen. Gegenstand der EORTC-Studie 26101 sei ebenfalls eine Kombinationstherapie (Avastin in Kombination mit Lomustin) gewesen. Lomustin habe die Klägerin nach eigenem Vortrag nicht vertragen. Die von der Klägerin angesprochene AVAglio-Studie sei eine Phase III-Studie, welche die Behandlung des neu diagnostizierten Glioblastoms mit Avastin in Kombination mit Strahlentherapie und Temozolomid zum Gegenstand gehabt habe. Auf Grundlage dieser Studie habe der Hersteller von Avastin, die Firma R., einen neuen Versuch der Zulassungserweiterung bei der EMA (European Medicines Agency) gestartet, der 2014 abermals gescheitert sei. Etwa zur gleichen Zeit wie die AVAglio-Studie sei vom National Cancer Institute in den USA eine sehr ähnliche Studie (RTOG 0825) durchgeführt worden, die nach Gabe von Avastin weder eine signifikante Verlängerung des Gesamtüberlebens noch eine Verbesserung der Lebensqualität habe feststellen können, sondern im Gegenteil höhere Raten einer Verschlechterung neurokognitiver Funktionen und eine Abnahme der Lebensqualität. Die von der Klägerseite angesprochene Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, enthalte nichts Neues.
Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Dr. A. hat mitgeteilt, dass sich der Allgemeinzustand der Klägerin unter der Avastin-Therapie verbessert habe und die Lähmung des rechten Beins rückläufig sei. Auch Prof. K. hat über eine Befundverbesserung nach Avastin-Gabe berichtet. Es gebe zur Avastin-Therapie keine adäquate Alternative. Nebenwirkungen oder Komplikationen seien nicht aufgetreten. Das SG hat den Facharzt für Neurochirurgie Prof. Dr. S., Klinikum B. in B-Stadt, zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. In seinem Gutachten nach Aktenlage vom 08.03.2018 hat der Sachverständige ausgeführt, dass es für das rezidivierte Glioblastom keine Standardbehandlung gäbe, üblicherweise würde die Primärtherapie erneut eingesetzt. Auch beim Rezidiv der Klägerin sei eine Tumorresektion nicht in Frage gekommen. Eine erneute Bestrahlung sei auf Grund der damit verbundenen Risiken nicht zu empfehlen und nicht Standard. Eine Chemotherapie sei bereits durchgeführt worden mit schweren und typischen Nebenwirkungen. Trotz des langen Zeitabstands und der verbesserten Datenlage und Verträglichkeit seit der letzten Gabe liege für eine neuerliche Chemotherapie keine überzeugende Risiko-Nutzen-Relation vor. Die Studienlage zu Avastin könne wie folgt zusammengefasst werden: eine Lebensverlängerung durch Avastin habe bislang von keiner prospektiven randomisierten Studie nachgewiesen werden können, das gelte für die Gabe von Avastin allein wie auch in Kombination mit verschiedenen Chemotherapien. Umgekehrt ergäbe sich durchgehend ein positiver Effekt auf das progressionsfreie Überleben, also die Zeit bis zum neuerlichen Fortschreiten der Erkrankung. Hoch problematisch sei aber, dass das progressionsfreie Überleben vor allem über den MRT-Befund definiert werde. Die traditionelle Definition eines Glioblastoms bzw. seiner Grenzen auf dem MRT-Bild werde durch die Kontrastmittelaufnahme definiert. Die Kontrastmittelaufnahme sei aber letztlich ein gefäßabhängiges Phänomen und Avastin habe auf Angiogenese und Gefäßpermeabilität seinen primären Einfluss. Eine besondere Avastin-responsive Patientengruppe habe bislang nicht identifiziert werden können. Die gängigen molekularbiologischen Parameter, wie beim Glioblastom z.B. die MGMT-Hypermethylierung, seien nach Datenlage nicht geeignet, Avastin-Responder zu identifizieren. Es gäbe allerdings Publikationen, aus denen sich zumindest Hinweise herauslesen ließen, dass eine solche molekulare Stratifizierung von Glioblastom-Patienten möglich sein könnte. Bezüglich des Einflusses von Avastin auf die Lebensqualität seien bisher weder besonders negative noch besonders positive Effekte aufgefallen. Avastin sei nicht in der EU, aber in der Schweiz, in den USA und in Kanada für die Therapie des Glioblastoms zugelassen. Es gebe daher keinen Konsens, dass Avastin unwirksam sei. Der Krankheitsverlauf der Klägerin sei derzeit stabil, was als Therapieerfolg zu werten sei. Die Klägerin habe ohne Tumorresektion bislang drei Jahre nach Diagnosestellung überlebt. In einer aktuellen Studie werde bei Patienten mit methylierten Tumoren ein 3-Jahres-Überleben in ca. 25 % der Fälle beschrieben, wobei die Patienten im Schnitt deutlich jünger als die Klägerin gewesen seien. Andere Studien würden für nicht operable Tumore eine deutlich geringere 3-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit ergeben. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Avastin-Therapie einen positiven Effekt gehabt habe. Von daher erscheine die Avastin-Therapie bei dieser speziellen Patientin medizinisch sinnvoll. Dies impliziere nicht, dass Avastin generell oder nur im Fall der Klägerin nachgewiesenermaßen wirksam sei. Er stütze seine Bewertung lediglich auf die Beobachtung eines gegen alle Erwartungen günstigen Verlaufs unter einer Therapie, für deren Wirksamkeit plausible Argumente vorlägen. Aus der Akte seien keine Nebenwirkungen ersichtlich, welche wesentlich oder überwiegend auf die Avastin-Therapie zurückzuführen seien.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde die Beklagte mit Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29.05.2017, L 5 KR 291/17 B ER, vorläufig - längstens bis 31.12.2017 - verpflichtet, die Klägerin mit Avastin als Sachleistung zu versorgen.
Mit Bescheiden vom 15.11.2017 und 05.03.2018 erklärte sich die Beklagte bereit, die weiteren Kosten für die Behandlung mit Avastin über den 31.12.2017 hinaus bis längstens 30.06.2018 vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung in Abhängigkeit vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen. Auf dieser Grundlage hat die Beklagte die Kosten für die in der Zeit vom 29.05.2017 bis 30.06.2018 erfolgte Avastin-Behandlung übernommen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.06.2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Ein Anspruch auf Übernahme bzw. Erstattung der Kosten für die Behandlung mit Avastin aufgrund Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) komme wegen der rechtzeitigen Bescheidung des Antrags nicht in Betracht. Ein Leistungsanspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestehe mangels Zulassung nicht. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab unterfalle ausschließlich dem Zuständigkeitsbereich der VO (EG) 726/2004. Avastin verfüge nicht über die von Art 3 Abs. 1 VO (EG) 726/2004 geforderte Genehmigung für die Behandlung eines Glioblastoms. Es bestehe auch kein Anspruch gemäß § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und im Falle von klinischen Studien regele, da die dort genannten Voraussetzungen offensichtlich nicht vorlägen. Auch die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versorgung mit einem nicht oder nicht für die betreffende Indikation zugelassenen Arzneimittel im Rahmen des Off-Label-Use seien nicht gegeben. Denn es fehle jedenfalls an einer auf Grund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Hierfür müssten Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Der Hersteller habe eine solche Phase III-Studie (die sog. AVAglio Studie von Olivier L. Chinot et al.) durchführen lassen und die Ergebnisse am 01.06.2013 veröffentlicht. Die Studie habe jedoch als Untersuchungsgegenstand die Wirkweise des Wirkstoffs Bevacizumab ausgehend von einer anfänglichen Kombination zusammen mit Bestrahlung und Gabe des Chemotherapeutikums Temozolomid gehabt. Erst auf einer dritten Behandlungsstufe sei die Monotherapie mit Bevacizumab erfolgt. Damit liege nach wie vor keine Phase III-Studie zu der bei der Klägerin angewandten Monotherapie mit Avastin vor. Darüber hinaus sei die arzneimittelrechtliche Zulassung durch die EMA trotz dieser Studie am 18.11.2014 auch bezüglich der Kombinationstherapie bestehend aus Bestrahlung, Temozolomid und Avastin abgelehnt worden, da der klinisch relevante Nutzen bei vertretbaren Risiken durch diese Studie nicht habe belegt werden können. Dasselbe gelte für eine weitere Studie unter Leitung des Heidelberger Neurologen Wolfgang Wick, die 2017 im New England Journal of Medicine erschienen sei und sich mit den Wirkstoffen Lomustin und Bevacizumab befasst habe. Die Klägerin selbst stütze ihren Leistungsanspruch auf § 2 Abs. 1a SGB V bzw. das hinter diesem Anspruch stehende Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). § 2 Abs. 1a SGB V begründe aber nach der Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließe, keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation, für die eine Genehmigung im europäischen Zulassungsverfahren abgelehnt worden sei. Das BSG stütze sich hierbei auf die Entwicklungsgeschichte, das Regelungssystem des Arzneimittelzulassungsrechts und des SGB V sowie den Regelungszweck des § 2 Abs. 1a SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Es habe in zahlreichen Entscheidungen seit Erlass des sog. Nikolaus-Beschlusses des BVerfG ausgeführt, dass das arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis nicht faktisch durch die richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel systematisch unterlaufen und umgangen werden dürfe, da dies mit einem unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet und auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten verbunden sei. Der Gesetzgeber habe in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Einführung des § 2 Abs. 1a SGB V klargestellt, dass die von der Rechtsprechung zum Off-Label-Use von Arzneimitteln aufgestellten Grundsätze weitergelten sollten und hierbei Bezug genommen auf die Entscheidung des BVerfG vom 30.06.2008, 1 BvR 1665/07. In seinem Nichtannahmebeschluss vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, verweise das BVerfG darauf, dass für einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V eine notstandsähnliche Situation erforderlich sei. Mit der Frage, wie gering die Anforderungen an eine nicht entfernt liegende Aussicht auf positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf sein müssten und wie sich das Verhältnis des Anspruchs zum Off-Label-Use darstelle, setze sich das Bundesverfassungsgericht hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht auseinander.
Dagegen hat die Klägerin am 19.07.2018 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben. Ihr Prozessbevollmächtigter hat zur Begründung vorgetragen, dass das SG die Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V fehlerhaft einschränkend dahingehend ausgelegt habe, dass bei der zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln die vom BSG aufgestellten Off-Label-Use-Kriterien erfüllt sein müssten. Die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses würden aber nicht von den Kriterien der BSG-Rechtsprechung überrollt. Der Verweis auf die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 1a SGB V ändere hieran nichts. Hingewiesen worden ist ferner auf eine Neuauswertung der AVAglio-Studie, die eine Untergruppe der untersuchten Probanden ermittelt habe, bei denen sich ein hochsignifikantes Ansprechen mit verlängerter Gesamtüberlebensdauer gezeigt habe. Diese Untergruppe habe einen molekularen Subtyp (proneural) aufgewiesen. Daraus ergäbe sich, dass eine bestimmte Patientengruppe existiere, bei der das Arzneimittel Avastin eine besonders hohe Wirksamkeit entfalte. Die Klägerin zähle dazu. Infolge der Avastin-Therapie seien der Klägerin in der Zeit vom 31.01.2017 bis 29.05.2017 Kosten in Höhe von 5.149,87 EUR und in der Zeit vom 01.07.2018 bis 07.10.2019 Kosten in Höhe von 23.176,27 EUR entstanden. Die letzte Avastin-Gabe sei am 07.10.2019 erfolgt.
Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hat auf die Entscheidung des BSG vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, verwiesen, wonach bei einem zulassungsüberschreitenden Einsatz eines Arzneimittels die abstrakte und konkrete Nutzen-Risiko-Analyse für den Versicherten positiv ausfallen müsse. Diese Analyse falle jedoch bereits auf abstrakter Ebene negativ aus, wenn eine ablehnende arzneimittelrechtliche Zulassungsentscheidung zu dem beantragten Arzneimittel ergangen sei. Gleichlautende Ausführungen fänden sich im Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.06.2018 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2017 zu verurteilen, die der Klägerin entstandenen Kosten für die Behandlung mit Avastin in Höhe von 28.326,14 Euro zu erstatten und die Klägerin nach ärztlicher Verordnung mit Avastin zu versorgen sowie festzustellen, dass die Klägerin in der Zeit vom 30.01.2017 bis 30.06.2018 einen Anspruch auf Versorgung mit Avastin hatte.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.
Das Sozialgericht München hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat weder zum jetzigen Zeitpunkt noch hatte sie in der Vergangenheit Anspruch auf eine Behandlung mit Avastin. Die ihr infolge der Avastin-Behandlung entstandenen Kosten sind nicht zu erstatten.
Die erhobene Klage ist statthaft und zulässig.
Wie das SG zutreffend dargelegt hat, ist statthafte Klageart hinsichtlich des Zeitraums, in der die Beklagte die Kosten für die Avastin-Behandlung vorläufig getragen hat, die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Denn insoweit zielt die Klage nicht nur auf die Aufhebung der Entscheidung der Beklagten in der Hauptsache ab, sondern auch auf die Feststellung des Rechtsgrundes für das "Behaltendürfen" der aufgrund einstweiliger Verfügung vorläufig erbrachten Sachleistungen (vgl. dazu BSG, Urteile v. 13.12.2016, B 1 KR 1/16 R und B 1 KR 10/16 R).
Soweit die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch wegen selbst beschaffter Leistungen sowie einen Anspruch auf (künftige) Versorgung mit Avastin geltend macht, ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) statthaft.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hatte zu keinem Zeitpunkt Anspruch auf Versorgung mit Avastin. Die ihr entstandenen Kosten für durchgeführte Behandlungen mit Avastin sind nicht zu erstatten.
1. Wie vom SG zutreffend ausgeführt, kann die Klägerin den geltend gemachten Anspruch auf Versorgung mit Avastin nicht mit Erfolg aus der Regelung des § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V herleiten, da Avastin in Deutschland bzw. in der EU nicht zur Behandlung von Glioblastomen zugelassen ist. Der in Avastin enthaltene Wirkstoff Bevacizumab unterfällt als ein rekombinanter humanisierter monoklonaler Antikörper, der mittels DNA-Technologie aus Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) gewonnen wird, ausschließlich dem Zuständigkeitsbereich der VO (EG) 726/04. Avastin verfügt nicht über die nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 726/04 erforderliche Genehmigung in Bezug auf die hier maßgebliche Indikation (Behandlung des Glioblastoms). Auf die weiteren Ausführungen hierzu in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Auch ein Anspruch auf Versorgung mit Avastin im Rahmen eines Off-Label-Use scheidet vorliegend aus. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und im Falle von klinischen Studien regelt, liegt nichts vor. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use konnte und kann die Klägerin die Versorgung mit Avastin nicht verlangen. Danach kommt ein Off-Label-Use nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R).
Vorliegend fehlt es an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Von einer in diesem Sinne hinreichenden Erfolgsaussicht ist nach der Rechtsprechung des BSG nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R; Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R).
Eine Phase-III-Studie zu einer Monotherapie mit Avastin, wie sie bei der Klägerin durchgeführt worden ist, ist bislang nicht veröffentlicht worden.
In der 2014 veröffentlichten Phase-III-Studie AVAglio (Chinot et al., New England Journal of Medicine - NEJM - 2014: Bevacizumab plus Radiotherapy-Temozolomide for Newly Diagnosed Glioblastoma) wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Bevacizumab in Kombination mit Strahlentherapie und Temozolomid nach einer Operation oder Biopsie geprüft. Die Studie bezog sich auf die Behandlung des neu diagnostizierten Glioblastoms und war Grundlage des von der Fa. R. im Jahr 2014 gestellten Antrags auf Erweiterung der Zulassung von Avastin für das neu diagnostizierte Glioblastom. Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat nach Prüfung dieser Studie den Antrag abgelehnt, da die Wirksamkeit von Avastin in Kombination mit Bestrahlung und Temozolomid nicht ausreichend belegt worden sei. Zwar habe sich eine Verbesserung beim progressionsfreien Überleben gezeigt. Dieses habe jedoch aufgrund von Einschränkungen hinsichtlich der verfügbaren Methoden zur Messung der Größe der Hirntumoren nicht als klinisch relevant angesehen werden können. Darüber hinaus habe sich das Gesamtüberleben nicht verbessert. Der Ausschuss für Humanarzneimittel sei daher der Ansicht gewesen, dass der Nutzen von Avastin bei der Behandlung eines neu diagnostizierten Glioblastoms gegenüber den Risiken nicht überwiege (vgl. Presseerklärung der EMA vom 24.09.2014, Bl. 338 SG-Akte). Damit kann mit der AVAglio-Studie eine nach Datenlage begründete Erfolgsaussicht nicht begründet werden.
Die Neuauswertung der AVAglio-Studie, auf die sich die Klägerseite im Berufungsverfahren bezogen hat, wurde bereits im September 2015 veröffentlicht (Sandmann et al., Journal Of Clinical Onkology, September 2015). Es handelt sich um eine retrospektive Subgruppenanalyse der AVAglio-Studie, deren Ergebnisse in einem Artikel der Zeitschrift "Im Fokus Onkologie" vom 21.11.2015 in einem Fazit so zusammengefasst werden: "Patienten mit proneuralem IDH1-Wildtyp-Glioblastom profitieren wahrscheinlich im Gegensatz zu anderen Glioblastompatienten von Bevacizumab zusätzlich zur Erstlinien-Standardtherapie auch im Hinblick auf das Gesamtüberleben. Das sollte nun in einem unabhängigen Kollektiv validiert werden".
Die Neuauswertung der AVAglio-Studie führte demnach lediglich zu Hinweisen dafür, dass eine bestimmte Patientengruppe, deren Glioblastom eine bestimmte Molekulargenetik aufweist, stärker von einer Bevacizumab-Therapie profitieren könnte als andere Glioblastom-Patienten. Diese durch eine retrospektive Analyse von Studiendaten generierte Hypothese konnte aber im weiteren Verlauf nicht erhärtet oder validiert werden. So führt der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Prof. S. zu der These, dass Bevacizumab bei einer bestimmten Patientensubgruppe einen besonders positiven Effekt haben könnte, in seinem Gutachten vom 08.03.2018 aus, dass Konsens sicherlich sei, dass eine besondere Avastin-responsive Patientengruppe bislang nicht habe identifiziert werden können. Es gäbe allerdings Publikationen, aus denen sich zumindest Hinweise herauslesen ließen, dass eine solche molekulare Stratifizierung von Glioblastom-Patienten möglich sein könnte. Damit genügen die aufgrund der Neuauswertung der AVAglio-Studie gewonnenen Forschungsergebnisse nicht den Maßstäben, die für einen Off-Label-Use nach den Kriterien des BSG zu verlangen sind.
Die im November 2017 veröffentlichte Phase III-Studie zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms (EORTC 26101 Phase III - Wick et al. NEJM 2017: Lomustine and Bevacizumab in Progressive Glioblastoma) konnte weder eine Verbesserung des Gesamtüberlebens noch der gesundheitsbezogenen Lebensqualität noch der neurokognitiven Funktion bei einer Behandlung mit Bevacizumab und Lomustin (Kombinationsbehandlung) im Vergleich zu der nur mit Lomustin behandelten Patientengruppe bestätigen. Die Kombinationstherapie führte mit 38,5% zu signifikant mehr schwerwiegenden Nebenwirkungen als die Monotherapie mit 9,5% (vgl. hierzu auch Diener in: Arzneimitteltherapie 2018; 36(03):80-109). Wie schon bei der vorangegangenen Phase II-Studie zeigte sich jedoch eine Verbesserung des progressionsfreien Überlebens bei den mit der Kombinationsbehandlung therapierten Patienten. Nach Einschätzung des Leiters dieser Studie Prof. Wick lassen die Ergebnisse dieser Phase III-Studie nicht erwarten, dass Avastin eine Zulassungserweiterung zur Behandlung von Glioblastomen erhalten wird (vgl. Pressemitteilung des Universitätsklinikums Heidelberg 2017/137 vom 27.11.2017; MTA-Dialog vom 28.11.2017, https://www.mta-dialog.de/artikel/kein-ueberlebensvorteil-fuer-glioblastom-patienten.html). Damit ist auch diese Studie nicht geeignet, eine nach Datenlage begründete Erfolgsaussicht im vorliegenden Fall zu begründen.
Ein Leistungsanspruch der Klägerin besteht auch nicht nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw. nach der Regelung § 2 Abs. 1a SGB V. Dem Anspruch steht die Sperrwirkung entgegen, welche die Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 sowie die 2014 erfolgte Versagung der Zulassungserweiterung für Avastin durch die EMA entfalten (vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R, Rn 26). Auf die Ausführungen hierzu in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils wird ausdrücklich Bezug genommen.
Nochmals hervorzuheben ist, dass das BSG in seinem Urteil vom 16.12.2016, B 1 KR 10/16 R, festgestellt hat, dass § 2 Abs. 1a SGB V keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation begründet, für die eine Genehmigung in einem Zulassungsverfahren nach VO (EG) Nr 726/2004 abzulehnen war. Dazu genügt es, dass der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel - wie bei Avastin für die Indikation des rezidivierenden Glioblastoms - ein im Ergebnis ablehnendes Gutachten erstellt hat, ohne dass der Antragsteller das Verfahren weiterverfolgt. Dies gilt, so das BSG, auch dann, wenn der betreffende Versicherte an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet und eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung mit der Möglichkeit einer spürbar positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nicht zur Verfügung steht. Diese Auslegung, der sich der Senat anschließt, folgt aus der Entwicklungsgeschichte, dem Regelungssystem des Arzneimittelzulassungsrecht und des SGB V sowie dem Regelungszweck, ohne dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1a SGB V entgegensteht.
Die Sachlage, die den erwähnten Entscheidungen des BSG zur Versorgung Versicherter mit Avastin zur Therapie von Glioblastomen nach Rezidiv zugrunde lag (B 1 KR 10/16 R; B 1 KR 36/17 R), hat sich seither nicht entscheidend verändert. Wie schon dargelegt, wurde der erneute Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung des Arzneimittels Avastin für die Behandlung des Glioblastoms von der EMA abgelehnt (Bescheid vom 22.05.2014) und der dagegen eingelegte Widerspruch am 22.09.2014 zurückgewiesen. Der Hersteller von Avastin hat bislang keinen neuen Zulassungsantrag bei der EMA gestellt. Die Sperrwirkung sowohl der Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens aus dem Jahr 2009 als auch der förmlichen Ablehnung des Zulassungsantrags aus dem Jahr 2014 kann daher nicht als beendet betrachtet werden.
Das BSG hat sich bei seiner Entscheidung ausdrücklich auch auf die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 1a SGB V gestützt: "Für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene Arzneimittel bleiben neben der mit dem neuen § 2 Absatz 1a SGB V vorgenommenen leistungsrechtlichen Klarstellung die vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätze zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, die vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet wurden (Nichtannahmebeschluss vom 30. Juni 2008, Aktenzeichen 1 BvR 1665/07), unberührt" (BT-Drs 17/6906, S. 53). Soweit der Prozessbevollmächtigte im Berufungsverfahren dazu vorgetragen hat, dass die Verwendung des Begriffs "neben" auf eine parallele Geltung der Grundsätze des BSG und des § 2 Abs. 1a SGB V hindeute, überzeugt dies nicht. Die Gesetzesbegründung ist mit dem BSG vielmehr so zu verstehen, "dass die Rechtsprechung des BSG zur Leistungspflicht der GKV für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene Arzneimittel durch die Einfügung eines Abs. 1a unberührt bleiben solle und nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungskonform sei" (BSG, a.a.O., Rn 22).
Auch die Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2017, 1 BvR 452/17, steht dem nicht entgegen. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG Bezug genommen.
2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten (28,326,14 Euro), die ihr durch bereits durchgeführte Avastin-Behandlungen entstanden sind.
Ein Anspruch aufgrund Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Antrag vom 30.01.2017 innerhalb der Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V beschieden worden ist (Bescheid vom 09.02.2017).
Ein Anspruch auf Kostenerstattung wegen rechtswidriger Leistungsablehnung gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V scheidet ebenfalls aus, da die Beklagte die Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin nicht zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. dazu 1.).
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
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