Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 57 AL 2800/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AL 44/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Soziale Vergünstigungen bzw. Rechte, die ein Arbeitnehmer allein nach bilateralem Abkommensrecht aufgrund von Beschäftigungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, dürfen nicht durch dieses Abkommensrecht verdrängendes Unionsrecht genommen werden (Anknüpfung an EuGH, u.a. Urteil vom 9. November 2000 - C-75/99 "Thelen" -, juris).
2. Dies gilt entsprechend, wenn Bestimmungen des bilateralen Abkommensrechts aufgrund ausdrücklicher Anordnungen nach dem (erstmaligen) In-Kraft-Treten von Unionsrecht fortgelten und erst später geändertes Gemeinschaftsrecht diese Bestimmungen verdrängt (Weiterentwicklung von EuGH, a.a.O.).
2. Dies gilt entsprechend, wenn Bestimmungen des bilateralen Abkommensrechts aufgrund ausdrücklicher Anordnungen nach dem (erstmaligen) In-Kraft-Treten von Unionsrecht fortgelten und erst später geändertes Gemeinschaftsrecht diese Bestimmungen verdrängt (Weiterentwicklung von EuGH, a.a.O.).
Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2017 und der Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 2014 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Mai 2014 bis 14. Mai 2014 zu zahlen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das gesamte Verfahren zu tragen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. bis 14. Mai 2014. Umstritten ist nur die Berücksichtigung in der Schweiz zurückgelegter Beschäftigungszeiten.
Die 1953 geborene Klägerin war vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2014 im Bereich der Altenpflege in der Schweiz beschäftigt und erzielte in den letzten 12 Monaten dieser Beschäftigung ein monatliches (Brutto-)Arbeitsentgelt von durchschnittlich 6.565,85 CHF. Mit Schreiben vom 8. Januar 2014 löste ihre Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis "unter Einhaltung der Kündigungsfrist per 31. April 2014 auf". Nach deren weiteren Angaben in der Arbeitsbescheinigung war die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch das Verhalten der Klägerin veranlasst worden. Als versicherte "Zeiten, die für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind" bescheinigte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich unter Verwendung des Vordrucks PD U1 den o.g. Zeitraum. Die Klägerin meldete sich bei der Beklagten am 9. Januar 2014 arbeitssuchend und am 15. April 2014 zum 1. Mai 2014 arbeitslos. Am 15. Mai 2014 nahm sie in Deutschland eine neue Beschäftigung auf.
Den Antrag der Klägerin auf Arbeitslosengeld lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juni 2014, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 2014 ab, weil die von der Klägerin in der Schweiz zurückgelegten Beschäftigungszeiten nicht berücksichtigt werden könnten. Sie sei keine Grenzgängerin gewesen. Art. 7 Abs. 1 des bilateralen Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland sei in ihrem Fall nicht anwendbar, weil sie innerhalb der für sie maßgeblichen Rahmenfrist (1. Mai 2012 bis 30. April 2014) keine schweizerischen versicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten vor dem 1. April 2012 zurückgelegt habe. Mit gleichlautender Begründung hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Januar 2017).
Gegen dieses ihr am 27. Februar 2017 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 27. März 2017, zu deren Begründung sie vorträgt: Das Urteil habe nicht beachtet, dass die Regelungen des deutsch-schweizerischen Abkommens ersetzt worden seien durch EU-Vorschriften, die auch für in der Schweiz Beschäftigte einschlägig seien. Nach Art. 61 Abs. 1 der EU-Verordnung 883/2004 sei auch eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Schweiz zur Erfüllung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld heranzuziehen. Auf den Status als Grenzgängerin habe sie sich nie berufen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2017 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 2014 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Mai bis 14. Mai 2014 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren subjektiven Rechten. Denn ihr steht für die Zeit ab dem 1. Mai 2014 Arbeitslosengeld zu. A. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstands die Wertgrenze von 750.- EUR gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Ausgangspunkt für den nach § 149, § 150 Abs. 1, § 151 Abs. 1 Satz 1, § 153 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) zu berechnenden streitgegenständlichen Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld ist ihr im letzten Jahr ihrer Schweizer Beschäftigung durchschnittlich im Monat erzieltes Arbeitsentgelt i.H.v. 6.565,85 CHF, welches auf der Grundlage des damaligen Wechselkurses (ca. 1,2, vgl. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:C2012/136/03&from=IT) gerundet 5.471,54 EUR, mithin einem täglichen (gerundeten) Bruttoentgelt (Bemessungsentgelt) von 179,89 EUR entspricht. Berücksichtigt man die Lohnsteuerklasse der Klägerin (IV) und einen Leistungssatz von 60 % – weil nach Aktenlage kein Nachweis für ein Kind i.S.v. § 149 Nr. 1 SGB III erbracht ist –, ergibt sich auf der Basis des von der Beklagten auf ihrer Website zur Verfügung gestellten "Selbstberechnungsprogramm zur Ermittlung der Höhe des Arbeitslosengeldes" (https://www.pub.arbeitsagentur.de/start.html) ein kalendertägliches Arbeitslosengeld von 58,43 EUR. Im Hinblick auf eine Bezugsdauer von 14 Tagen beträgt der Wert des Beschwerdegegenstands somit 818,02 EUR.
B. Die Berufung ist auch begründet
I. Nach § 137 Abs. 1 SGB III – diese wie alle weiteren Vorschriften des SGB III in der seit dem 1. April 2012 geltenden, hier maßgeblichen Fassung – setzt ein solcher Anspruch voraus, dass ein Arbeitnehmer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos meldet und die Anwartschaft erfüllt hat.
Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitslos i.S.v. § 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGB III, weil sie nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stand, sich bemühte, diese Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen der Beklagten zur Verfügung stand. Letzteres ist im Hinblick auf § 138 Abs. 5 Nr. 1 bis 4 SGB III zu bejahen, weil die Klägerin eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben konnte und durfte (Nr. 1), Vorschlägen der Beklagten zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten konnte (Nr. 2), bereit war, nach Nr. 3 jede Beschäftigung im Sinne der Nr. 1 anzunehmen und auszuüben und schließlich i.S.v. Nr. 4 an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen. Sie hatte sich ferner entsprechend § 141 SGB III am 15. April 2014 mit Wirkung zum 1. Mai 2014 arbeitslos gemeldet und die Anwartschaft erfüllt.
Die Anwartschaft hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist (§ 143 SGB III) mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 143 Abs. 1 SGB III). Die im Falle der Klägerin geltende Rahmenfrist – ausgehend von einer Arbeitslosmeldung zum 1. Mai 2014 – hat die Beklagte zutreffend als den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2014 bestimmt. Innerhalb dieses Zeitraums hat die Klägerin nicht in einem inländischen Versicherungspflichtverhältnis (§§ 24 ff. SGB III i.V.m. § 3, § 1 Abs. 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IV) gestanden. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist aber die o.g. Beschäftigung der Klägerin in der Schweiz zu berücksichtigen. 1. Die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – VO (EG) Nr. 883/2004 – erlauben die Berücksichtigung der von der Klägerin zurückgelegten Schweizer Beschäftigungszeiten allerdings nicht.
a. Diese Verordnung ist anwendbar, obwohl die Schweiz nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) ist.
Nach Art. 8 i.V.m. Anh. II Abschn. A Nr. 1 des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (Abkommen EG-Schweiz) war im Verhältnis zur Schweiz zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ab 1. Juni 2002 die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO (EWG) Nr. 1408/71) anzuwenden. Dieses Abkommen ist durch das Gesetz vom 2. September 2001 (BGBl II 2001, 810) ratifiziert worden und insoweit am 1. Juni 2002 in Kraft getreten (BGBl II 2002, 1692). Mit dem am 31. März 2012 erlassenen und am 1. April 2012 in Kraft getretenen Beschluss Nr. 1/2012 des im Rahmen des Abkommens EG-Schweiz eingesetzten Gemischten Ausschusses zur Ersetzung des Anh. II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. (EU) L 103/51) wurde Abschn. A des Anh. II des Abkommens aktualisiert und nimmt nunmehr Bezug auf die VO (EG) Nr. 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 987/2009) vom 30. Oktober 2009 (ABl. (EU) L 284/1).
b. Gemäß Art. 61 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 muss die Beklagte als zuständiger Träger des Mitgliedstaats (hier: Deutschland), nach dessen Rechtsvorschriften u.a. der Erwerb des Leistungsanspruchs (hier: auf Arbeitslosengeld) von der Zurücklegung von Versicherungs-, Beschäftigungs- und Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig ist, diese Zeiten grundsätzlich auch berücksichtigen, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates zurückgelegt wurden. Das Gebot der Zusammenrechnung relevanter Zeiten gehört zu den elementaren Prinzipien des Koordinierungsrechts und ist deshalb primärrechtlich in Art. 48 lit. a) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt.
Das Gebot der Zusammenrechnung gilt allerdings gemäß Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 – mit näheren Maßgaben und abgesehen von den Fällen des Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 – nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit zurückgelegt hat. Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 schränkt das Prinzip der Zusammenrechnung relevanter Zeiten ein (vgl. Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7.A., VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 61, Rn. 3) und hat nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Ziel, die Arbeitssuche in dem Mitgliedstaat zu fördern, in dem der Betreffende unmittelbar zuvor Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, und diesen Staat die Leistungen bei Arbeitslosigkeit tragen zu lassen (EuGH, Urteil vom 8. April 1992 – C-62/91 –, juris). Personen, die ihren Lebensmittelpunkt an den Arbeitsort beziehungsweise in den Beschäftigungsstaat verlagert hatten, müssen deshalb bei Rückumzug in den früheren Staat vor Anerkennung der im Beschäftigungsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zunächst eine Versicherungszeit im früheren Staat erfüllen (vgl. Geiger, info also, 2013, S. 147).
Vorliegend fehlt es an der nach Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 erforderlichen Vorbeschäftigungszeit in Deutschland. Die Klägerin stand bis einschließlich 30. April 2014 in einem Beschäftigungsverhältnis in der Schweiz und hat sich direkt im Anschluss daran – zum 1. Mai 2014 – bei der Beklagten arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt.
Die Klägerin ist auch nicht im Hinblick auf Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich des Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgenommen. Nach Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 erhalten die in Art. 65 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VO (EG) 883/2004 genannten Arbeitslosen – die sog. unechten Grenzgänger, d.h. Personen, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnen oder in ihn zurückkehren – von dem Träger des Wohnorts Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für sie während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Da die Klägerin die Eigenschaft als echte (vgl. Art. 1 lit. f) VO (EG) 883/2004) oder unechte Grenzgängerin ausdrücklich nicht geltend gemacht hat und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte hierfür ersichtlich sind, bleibt es bei der aus Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 resultierenden Unbeachtlichkeit der Schweizer Beschäftigungszeiten.
2. Diese Zeiten sind jedoch nach dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Arbeitslosenversicherung vom 20. Oktober 1982 (Abkommen Schweiz-Deutschland, BGBl II 1983, 578) i.V.m. Art. 7 Abs. 2 lit c) VO (EWG) Nr. 1408/71 zu berücksichtigen.
a. Nach Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland werden Zeiten einer bei-tragspflichtigen unselbständigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind, für die Anwartschaftszeit und die Anspruchsdauer berücksichtigt, sofern der Antragsteller die Staatsangehörigkeit des Vertragsstaates besitzt, in dem der Anspruch geltend gemacht wird, und im Gebiet dieses Vertragsstaates wohnt. Diese Zeiten werden so berücksichtigt, als wären sie nach den Rechtsvorschriften dieses Vertragsstaates zurückgelegt worden. Bei Anwendung dieser Regelungen würde die Klägerin, da sie als deutsche Staatsangehörige seit dem 1. Mai 2014 (wieder) in Deutschland lebt, die Anwartschaft nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III durch ihre o.g. Beschäftigung in der Schweiz erfüllen. Allerdings sind diese Regelungen im vorliegenden Fall nicht unmittelbar (hierzu b), sondern nur mittelbar (hierzu ab c) anwendbar.
b. Denn die VO (EG) 883/2004 tritt nach ihrem Art. 8 Abs. 1 (Satz 1) im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit. Indem diese das Rangverhältnis zwischen europäischem und zwischenstaatlichem Sozialrecht betreffende Vorschrift einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts (Hauschild, in: Schlegel/Voelzke, juris Praxiskommentar SGB I [jurisPK-SGB I], 3.A., Art. 8 VO (EG) 883/2004 (Stand: 15.03.2018), Rn. 15) anordnet, stellt sie sicher, dass durch die bestehenden Abkommen den Angehörigen dieser Staaten der Vorteil, der ihnen durch die VO (EG) Nr.&8201;883/2004 zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit eingeräumt ist, nicht vorenthalten wird. Gleichzeitig wird verhindert, dass neue Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten über die soziale Sicherheit die Verordnung aushebeln (Steinmeyer, in: Fuchs, a.a.O., Art. 8, Rn. 4).
c. Zugleich lässt es aber die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 48 ff. AEUV) nicht zu, dass Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, (nur) weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des In-Kraft-Tretens der Verordnung unanwendbar geworden sind (EuGH, Urteile vom 07. Februar 1991 – C-227/89 "Rönfeldt" –, vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen" – und vom 5. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" –, juris, zu Art. 48 Abs. 2 und Art. 51 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft). Der ausnahmslose Anwendungsvorrang des Unionsrecht könnte zur Folge haben, dass Arbeitnehmer davon absehen, von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch zu machen. Daher gelten – entsprechend dem vom EuGH entwickelten Günstigkeitsprinzip (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1975 – C-24/75 "Petroni" –, juris) – gemäß Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II der VO (EG) 883/2004 aufgeführt sein.
d. Die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 sind weitgehend gegeben. Das Abkommen Schweiz-Deutschland wurde 1982 und somit vor dem Zeitpunkt (1. April 2012) geschlossen, seit dem die VO (EG) 883/2004 nach dem o.G. auf die Schweiz und Mitgliedsstaaten der EU betreffende grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbar ist. Die Regelung in Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland ist für die Klägerin auch günstiger als Art. 61 VO (EG) Nr. 883/2004, weil sie es der Klägerin ermöglicht, allein mithilfe der Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III zu erfüllen.
Dass sich Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland in Anhang II der VO (EG) Nr. 883/2004 nicht findet, erklärt sich aus dem Umstand, dass dieser Anhang grundsätzlich nur Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten erfasst, nicht aber Abkommen zwischen Mitglieds- und Drittstaaten. Allerdings wird die Schweiz nach Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des Abkommens EG-Schweiz für die in Abschnitt A dieses Anhangs in Bezug genommenen Rechtsakte (u.a. die VO (EWG) Nr. 1408/71 und – seit dem 1. April 2012 aufgrund Art. 1 i.V.m. dem Anhang des o.g. Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses – die VO (EG) Nr. 883/2004) den "Mitgliedsstaaten" gleichgesetzt.
Dass der durch Art. 1 i.V.m. dem Anhang des o.g. Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses mit Wirkung zum April 2012 angepasste Anhang II des Abkommens EG-Schweiz in seinem Abschnitt A Nr. 1 lit. i) Deutschland-Schweiz lit. b) i) Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland nicht (mehr) aufführt und die in Art. 8 Abs. 1 Satz 3 VO (EG) 883/2004 genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist im Fall der Klägerin unschädlich. Denn auf sie ist das Abkommen EG-Schweiz (noch) i.V.m. seinem Anhang II in der bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung anwendbar (hierzu ab aa.). In dieser Fassung von Anhang II wird (noch) die VO (EWG) Nr. 1408/71 in Bezug genommen, somit auch dessen Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EG) 1408/71, der – vergleichbar Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 – ausnahmsweise die Fortgeltung von (in Anhang III [Teil A] genannten) zwischenstaatlichen Bestimmungen der Abkommen zur sozialen Sicherheit vorsah, jedoch ohne die in den Nebensätzen von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 883/2004 enthaltenen zusätzlichen Anforderungen. Anhang III (Teil A) der VO (EG) 1408/71 (in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, ABl. L 187 vom 10. Juli 2001, S. 1) wurde durch Art. 8 i.V.m. Anhang II Abschnitt A Nr. 1 lit. i) Deutschland-Schweiz lit. b) i) des Ab-kommens EG-Schweiz um Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland ergänzt.
aa. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist die als Ausnahme einzustufende Fortgeltung zwischenstaatlicher Bestimmungen "allein darauf gerichtet, ein wohlerworbenes Recht auf dem Gebiet des Sozialrechts, das in dem Zeitpunkt, in dem es dem betreffenden Angehörigen eines Mitgliedstaats zugute kommen könnte, nach dem Gemeinschaftsrecht nicht vorgesehen ist, fortbestehen zu lassen" (EuGH, Urteile vom 05. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" – und vom 24. September 2002 – C 471/99 "Domínguez" –, Rn. 30; jeweils juris). Dem liegt "die Überlegung zugrunde, dass der Betroffene ein schützenswertes Vertrauen entwickeln durfte, er werde von den Bestimmungen des bilateralen Abkommens profitieren können" (EuGH, a.a.O.; Urteil vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen"–, juris). Die Anwendung der Fortgeltungsregelungen steht somit stets unter folgender Prämisse: "Fällt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats in Bezug auf eine Vergünstigung der sozialen Sicherheit unter ein Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten und ist dieses Abkommen für ihn günstiger als eine Gemeinschaftsverordnung, die später auf ihn anwendbar geworden ist, so hat er das sich aus diesem Abkommen ergebende Recht endgültig erworben. Wurden infolgedessen die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen, zumindest teilweise zu einer Zeit zurückgelegt, zu der nur ein bilaterales Abkommen anwendbar war, so ist die Situation des Betroffenen in Bezug auf eine bestimmte Leistung insgesamt nach den Bestimmungen dieses Abkommens zu beurteilen, sofern dies für ihn günstiger ist" (EuGH, Urteil vom 24. September 2002 – C-471/99 –, juris, m.w.N.). Dogmatisch gesehen bedeutet dies einen Anwendungs-usschluss bzw. eine teleologische Reduktion von Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 in den Fällen eines Vertrauenstatbestands (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" –, juris, Rn. 33, zur erstmaligen Anwendbarkeit der VO (EWG) Nr. 1408/71).
Die Frage, ob ein Berechtigter durch Inkrafttreten der Verordnung soziale Vergünstigungen aufgrund bilateralen Vertragsrechts verliert, ist nicht abstrakt, sondern in jedem Einzelfall zu bestimmen. Ausschlaggebend ist, ob der Arbeitnehmer von der Freizügigkeit noch vor Inkrafttreten der Verordnung in seinem Heimatmitgliedstaat Gebrauch gemacht hat oder erst danach. Hingegen bestehen Ansprüche aufgrund des Abkommensrechts nicht fort, wenn diese ausschließlich auf Versicherungszeiten beruhen, die erst nach Inkrafttreten der Verordnung zurückgelegt worden sind (Hauschild, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3.A., Art. 8 VO (EG) 883/2004 (Stand: 15.03.2018), Rn. 27, m.w.N.)
bb. Ein Vertrauenstatbestand im o.g. Sinn hat sich im Falle der Klägerin vor dem 1. April 2012, d.h. vor der Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 auf den hiesigen Sachverhalt, verwirklicht. Denn die Klägerin durfte, als sie am 1. Januar 2004 ihre Beschäftigung in der Schweiz aufnahm, im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz–Deutschland davon ausgehen, dass sie allein aufgrund ihrer Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland erwerben würde, und sie durfte nach zwölf Monaten in einem Schweizer Versicherungspflicht- bzw. Beschäftigungsverhältnis darauf vertrauen, dass sie diese Anwartschaft auch tatsächlich erworben hatte.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, nach dem o.G. habe aufgrund des Anwendungsbefehls in Art. 8 i.V.m. Anh. II Abschn. A Nr. 1 Abkommen EG-Schweiz bereits ab dem 1. Juni 2002 die VO (EWG) Nr. 1408/71 gegolten und diese habe mit Art. 67 Abs. 3 bereits eine Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 entsprechende Einschränkung bezüglich der Zusammenrechnung von Versicherungs-, Beschäftigungs- und Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit enthalten, sodass kein Vertrauen der Klägerin habe entstehen können. Denn zugleich ordnete Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EG) 1408/71 die Fortgeltung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland an. Aufgrund dessen durfte sich die Klägerin, als sie am 1. Januar 2004 ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU und der Schweiz wahrnahm, darauf verlassen, dass abweichend vom Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Bestimmungen in Art. 67 Abs. 3 VO (EG) 1408/71 sie durch die Fortgeltung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland allein durch Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland erfüllen würde.
cc. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es somit nicht darauf an, ob die für die Klägerin maßgebliche Rahmenfrist – hier: vom 1. Mai 2012 bis 30. April 2014 – auch einen Zeitraum umfasst, der vor dem 1. April 2012 lag, d.h. bevor durch den o.g. Beschluss 1/2012 des Gemischten Ausschusses die VO (EG) 883/2004 in das Abkommen EG-Schweiz inkorporiert wurde. Denn nach dem auch von der Beklagten herangezogenen o.g. Urteilen des EuGH vom 9. November 2000 (C-75/99 "Thelen") und vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske") ist unerheblich, ob in der jeweils maßgeblichen Rahmenfrist versicherungspflichtige Schweizer Beschäftigungszeiten zurückgelegt wurden, die vor dem 1. April 2012 lagen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Verdrängung des fortgeltenden Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland durch die VO (EG) 883/2004 mit Wirkung zum 1. April 2012 nicht bewirken darf, dass der Klägerin die Rechte und Vergünstigungen genommen werden, die ihr nach dem Abkommen zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen" –, juris, Rn. 18, dem ein dem hiesigen Rechtsstreit weitgehend identischer Sachverhalt zugrunde lag – wie eine Zusammenschau dieser Entscheidung mit dem Vorlagebeschluss des BSG vom 21. Januar 1999 – B 11 AL 53/98 –, NZS 1999, 514 belegt –, weil in beiden Fällen die für das deutsche Recht geltende Anwartschaftszeit schon vollständig im Beschäftigungsstaat zurückgelegt war, bevor das bilaterale Abkommensrecht von Unionsrecht verdrängt werden sollte).
Die Beklagte stützt ihre entgegengesetzte Auffassung offenkundig auf eine Passage in den Urteilen des EuGH vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske", Rn. 32) und vom 24. September 2002 (C-471/99 "Dominguez", Rn. 31), wonach, wenn "die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen, zumindest teilweise zu einer Zeit zurückgelegt [wurden], zu der nur ein bilaterales Abkommen anwendbar war, [ ] die Situation des Betroffenen in Bezug auf eine bestimmte Leistung insgesamt nach den Bestimmungen dieses Abkommens zu beurteilen [sei], sofern dies für ihn günstiger ist". Der Senat verkennt einerseits nicht, dass eine Gleichsetzung der Anwartschaftszeit mit den o.g. "Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen", für die Rechtsauffassung der Beklagten spräche. Andererseits liegt das Spannungsverhältnis auf der Hand, das zwischen diesem Verständnis der o.g. Urteilspassagen und dem Grundsatz, nach bilateralem Abkommensrecht wohlerworbene Rechte dürften nicht durch verdrängendes Unionsrecht wieder genommen werden, besteht. Auf diesen Grundsatz stützt sich der EuGH nicht nur in seinen Urteilen vom 18. Dezember 2007 (C-396/05 "Habelt, Möser, Wachter", juris, Rn. 120), vom 9. November 2000 (C-75/99 "Thelen", juris, Rn. 18) und – sinngemäß auch schon – vom 7. Februar 1991 (C-227/89 "Rönfeldt", juris, Rn. 28), sondern erwähnt ihn auch in seinen Urteilen vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske", Rn. 26 f.) und vom 24. September 2002 (C-471/99 "Dominguez", Rn. 29 ff.). Die Rechtsauffassung der Beklagten hätte eine weitreichende Entwertung dieses Grundsatzes zur Folge, weil der Verlust eines aus bilateralem Abkommensrecht "wohlerworbenen" Rechts durch die im Laufe der Zeit zunehmenden Möglichkeiten zu Rechtsänderungen umso mehr drohen würde, je länger ein Arbeitnehmer von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. Gegen die Rechtsauffassung der Beklagten spricht daher auch, dass sie mit einer ungerechtfertigten Beeinträchtigung der Grundfreiheit auf Arbeitnehmerfreizügigkeit einherginge.
Somit durfte die Klägerin, weil sie schon vor dem 1. April 2012 die Anwartschaftszeit nach deutschem Recht erfüllt hatte, darauf vertrauen, dass ihre auf dem Abkommen beruhende Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland fortbestand (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 22). Die (mittelbare, weil über Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EWG) Nr. 1408/71 vermittelte) Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland wirkte demnach im Falle der Klägerin bis zur ihrer Rückkehr nach Deutschland zum 1. Mai 2014 fort; aufgrund der insoweit angeordneten Gleichstellung der Schweizer mit deutschen Beschäftigungszeiten hat sie die Anwartschaftszeit nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III erfüllt.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. bis 14. Mai 2014. Umstritten ist nur die Berücksichtigung in der Schweiz zurückgelegter Beschäftigungszeiten.
Die 1953 geborene Klägerin war vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2014 im Bereich der Altenpflege in der Schweiz beschäftigt und erzielte in den letzten 12 Monaten dieser Beschäftigung ein monatliches (Brutto-)Arbeitsentgelt von durchschnittlich 6.565,85 CHF. Mit Schreiben vom 8. Januar 2014 löste ihre Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis "unter Einhaltung der Kündigungsfrist per 31. April 2014 auf". Nach deren weiteren Angaben in der Arbeitsbescheinigung war die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch das Verhalten der Klägerin veranlasst worden. Als versicherte "Zeiten, die für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind" bescheinigte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich unter Verwendung des Vordrucks PD U1 den o.g. Zeitraum. Die Klägerin meldete sich bei der Beklagten am 9. Januar 2014 arbeitssuchend und am 15. April 2014 zum 1. Mai 2014 arbeitslos. Am 15. Mai 2014 nahm sie in Deutschland eine neue Beschäftigung auf.
Den Antrag der Klägerin auf Arbeitslosengeld lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juni 2014, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 2014 ab, weil die von der Klägerin in der Schweiz zurückgelegten Beschäftigungszeiten nicht berücksichtigt werden könnten. Sie sei keine Grenzgängerin gewesen. Art. 7 Abs. 1 des bilateralen Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland sei in ihrem Fall nicht anwendbar, weil sie innerhalb der für sie maßgeblichen Rahmenfrist (1. Mai 2012 bis 30. April 2014) keine schweizerischen versicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten vor dem 1. April 2012 zurückgelegt habe. Mit gleichlautender Begründung hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Januar 2017).
Gegen dieses ihr am 27. Februar 2017 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 27. März 2017, zu deren Begründung sie vorträgt: Das Urteil habe nicht beachtet, dass die Regelungen des deutsch-schweizerischen Abkommens ersetzt worden seien durch EU-Vorschriften, die auch für in der Schweiz Beschäftigte einschlägig seien. Nach Art. 61 Abs. 1 der EU-Verordnung 883/2004 sei auch eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Schweiz zur Erfüllung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld heranzuziehen. Auf den Status als Grenzgängerin habe sie sich nie berufen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2017 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 2014 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Mai bis 14. Mai 2014 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren subjektiven Rechten. Denn ihr steht für die Zeit ab dem 1. Mai 2014 Arbeitslosengeld zu. A. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstands die Wertgrenze von 750.- EUR gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Ausgangspunkt für den nach § 149, § 150 Abs. 1, § 151 Abs. 1 Satz 1, § 153 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) zu berechnenden streitgegenständlichen Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld ist ihr im letzten Jahr ihrer Schweizer Beschäftigung durchschnittlich im Monat erzieltes Arbeitsentgelt i.H.v. 6.565,85 CHF, welches auf der Grundlage des damaligen Wechselkurses (ca. 1,2, vgl. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:C2012/136/03&from=IT) gerundet 5.471,54 EUR, mithin einem täglichen (gerundeten) Bruttoentgelt (Bemessungsentgelt) von 179,89 EUR entspricht. Berücksichtigt man die Lohnsteuerklasse der Klägerin (IV) und einen Leistungssatz von 60 % – weil nach Aktenlage kein Nachweis für ein Kind i.S.v. § 149 Nr. 1 SGB III erbracht ist –, ergibt sich auf der Basis des von der Beklagten auf ihrer Website zur Verfügung gestellten "Selbstberechnungsprogramm zur Ermittlung der Höhe des Arbeitslosengeldes" (https://www.pub.arbeitsagentur.de/start.html) ein kalendertägliches Arbeitslosengeld von 58,43 EUR. Im Hinblick auf eine Bezugsdauer von 14 Tagen beträgt der Wert des Beschwerdegegenstands somit 818,02 EUR.
B. Die Berufung ist auch begründet
I. Nach § 137 Abs. 1 SGB III – diese wie alle weiteren Vorschriften des SGB III in der seit dem 1. April 2012 geltenden, hier maßgeblichen Fassung – setzt ein solcher Anspruch voraus, dass ein Arbeitnehmer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos meldet und die Anwartschaft erfüllt hat.
Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitslos i.S.v. § 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGB III, weil sie nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stand, sich bemühte, diese Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen der Beklagten zur Verfügung stand. Letzteres ist im Hinblick auf § 138 Abs. 5 Nr. 1 bis 4 SGB III zu bejahen, weil die Klägerin eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben konnte und durfte (Nr. 1), Vorschlägen der Beklagten zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten konnte (Nr. 2), bereit war, nach Nr. 3 jede Beschäftigung im Sinne der Nr. 1 anzunehmen und auszuüben und schließlich i.S.v. Nr. 4 an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen. Sie hatte sich ferner entsprechend § 141 SGB III am 15. April 2014 mit Wirkung zum 1. Mai 2014 arbeitslos gemeldet und die Anwartschaft erfüllt.
Die Anwartschaft hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist (§ 143 SGB III) mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 143 Abs. 1 SGB III). Die im Falle der Klägerin geltende Rahmenfrist – ausgehend von einer Arbeitslosmeldung zum 1. Mai 2014 – hat die Beklagte zutreffend als den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2014 bestimmt. Innerhalb dieses Zeitraums hat die Klägerin nicht in einem inländischen Versicherungspflichtverhältnis (§§ 24 ff. SGB III i.V.m. § 3, § 1 Abs. 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IV) gestanden. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist aber die o.g. Beschäftigung der Klägerin in der Schweiz zu berücksichtigen. 1. Die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – VO (EG) Nr. 883/2004 – erlauben die Berücksichtigung der von der Klägerin zurückgelegten Schweizer Beschäftigungszeiten allerdings nicht.
a. Diese Verordnung ist anwendbar, obwohl die Schweiz nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) ist.
Nach Art. 8 i.V.m. Anh. II Abschn. A Nr. 1 des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (Abkommen EG-Schweiz) war im Verhältnis zur Schweiz zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ab 1. Juni 2002 die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO (EWG) Nr. 1408/71) anzuwenden. Dieses Abkommen ist durch das Gesetz vom 2. September 2001 (BGBl II 2001, 810) ratifiziert worden und insoweit am 1. Juni 2002 in Kraft getreten (BGBl II 2002, 1692). Mit dem am 31. März 2012 erlassenen und am 1. April 2012 in Kraft getretenen Beschluss Nr. 1/2012 des im Rahmen des Abkommens EG-Schweiz eingesetzten Gemischten Ausschusses zur Ersetzung des Anh. II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. (EU) L 103/51) wurde Abschn. A des Anh. II des Abkommens aktualisiert und nimmt nunmehr Bezug auf die VO (EG) Nr. 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 987/2009) vom 30. Oktober 2009 (ABl. (EU) L 284/1).
b. Gemäß Art. 61 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 muss die Beklagte als zuständiger Träger des Mitgliedstaats (hier: Deutschland), nach dessen Rechtsvorschriften u.a. der Erwerb des Leistungsanspruchs (hier: auf Arbeitslosengeld) von der Zurücklegung von Versicherungs-, Beschäftigungs- und Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig ist, diese Zeiten grundsätzlich auch berücksichtigen, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates zurückgelegt wurden. Das Gebot der Zusammenrechnung relevanter Zeiten gehört zu den elementaren Prinzipien des Koordinierungsrechts und ist deshalb primärrechtlich in Art. 48 lit. a) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt.
Das Gebot der Zusammenrechnung gilt allerdings gemäß Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 – mit näheren Maßgaben und abgesehen von den Fällen des Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 – nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit zurückgelegt hat. Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 schränkt das Prinzip der Zusammenrechnung relevanter Zeiten ein (vgl. Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7.A., VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 61, Rn. 3) und hat nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Ziel, die Arbeitssuche in dem Mitgliedstaat zu fördern, in dem der Betreffende unmittelbar zuvor Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, und diesen Staat die Leistungen bei Arbeitslosigkeit tragen zu lassen (EuGH, Urteil vom 8. April 1992 – C-62/91 –, juris). Personen, die ihren Lebensmittelpunkt an den Arbeitsort beziehungsweise in den Beschäftigungsstaat verlagert hatten, müssen deshalb bei Rückumzug in den früheren Staat vor Anerkennung der im Beschäftigungsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten zunächst eine Versicherungszeit im früheren Staat erfüllen (vgl. Geiger, info also, 2013, S. 147).
Vorliegend fehlt es an der nach Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 erforderlichen Vorbeschäftigungszeit in Deutschland. Die Klägerin stand bis einschließlich 30. April 2014 in einem Beschäftigungsverhältnis in der Schweiz und hat sich direkt im Anschluss daran – zum 1. Mai 2014 – bei der Beklagten arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt.
Die Klägerin ist auch nicht im Hinblick auf Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 vom Anwendungsbereich des Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 ausgenommen. Nach Art. 65 Abs. 5 lit. a) VO (EG) 883/2004 erhalten die in Art. 65 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VO (EG) 883/2004 genannten Arbeitslosen – die sog. unechten Grenzgänger, d.h. Personen, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnen oder in ihn zurückkehren – von dem Träger des Wohnorts Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für sie während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Da die Klägerin die Eigenschaft als echte (vgl. Art. 1 lit. f) VO (EG) 883/2004) oder unechte Grenzgängerin ausdrücklich nicht geltend gemacht hat und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte hierfür ersichtlich sind, bleibt es bei der aus Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 resultierenden Unbeachtlichkeit der Schweizer Beschäftigungszeiten.
2. Diese Zeiten sind jedoch nach dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Arbeitslosenversicherung vom 20. Oktober 1982 (Abkommen Schweiz-Deutschland, BGBl II 1983, 578) i.V.m. Art. 7 Abs. 2 lit c) VO (EWG) Nr. 1408/71 zu berücksichtigen.
a. Nach Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland werden Zeiten einer bei-tragspflichtigen unselbständigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind, für die Anwartschaftszeit und die Anspruchsdauer berücksichtigt, sofern der Antragsteller die Staatsangehörigkeit des Vertragsstaates besitzt, in dem der Anspruch geltend gemacht wird, und im Gebiet dieses Vertragsstaates wohnt. Diese Zeiten werden so berücksichtigt, als wären sie nach den Rechtsvorschriften dieses Vertragsstaates zurückgelegt worden. Bei Anwendung dieser Regelungen würde die Klägerin, da sie als deutsche Staatsangehörige seit dem 1. Mai 2014 (wieder) in Deutschland lebt, die Anwartschaft nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III durch ihre o.g. Beschäftigung in der Schweiz erfüllen. Allerdings sind diese Regelungen im vorliegenden Fall nicht unmittelbar (hierzu b), sondern nur mittelbar (hierzu ab c) anwendbar.
b. Denn die VO (EG) 883/2004 tritt nach ihrem Art. 8 Abs. 1 (Satz 1) im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit. Indem diese das Rangverhältnis zwischen europäischem und zwischenstaatlichem Sozialrecht betreffende Vorschrift einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts (Hauschild, in: Schlegel/Voelzke, juris Praxiskommentar SGB I [jurisPK-SGB I], 3.A., Art. 8 VO (EG) 883/2004 (Stand: 15.03.2018), Rn. 15) anordnet, stellt sie sicher, dass durch die bestehenden Abkommen den Angehörigen dieser Staaten der Vorteil, der ihnen durch die VO (EG) Nr.&8201;883/2004 zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit eingeräumt ist, nicht vorenthalten wird. Gleichzeitig wird verhindert, dass neue Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten über die soziale Sicherheit die Verordnung aushebeln (Steinmeyer, in: Fuchs, a.a.O., Art. 8, Rn. 4).
c. Zugleich lässt es aber die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 48 ff. AEUV) nicht zu, dass Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, (nur) weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des In-Kraft-Tretens der Verordnung unanwendbar geworden sind (EuGH, Urteile vom 07. Februar 1991 – C-227/89 "Rönfeldt" –, vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen" – und vom 5. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" –, juris, zu Art. 48 Abs. 2 und Art. 51 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft). Der ausnahmslose Anwendungsvorrang des Unionsrecht könnte zur Folge haben, dass Arbeitnehmer davon absehen, von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch zu machen. Daher gelten – entsprechend dem vom EuGH entwickelten Günstigkeitsprinzip (vgl. Urteil vom 21. Oktober 1975 – C-24/75 "Petroni" –, juris) – gemäß Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II der VO (EG) 883/2004 aufgeführt sein.
d. Die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 sind weitgehend gegeben. Das Abkommen Schweiz-Deutschland wurde 1982 und somit vor dem Zeitpunkt (1. April 2012) geschlossen, seit dem die VO (EG) 883/2004 nach dem o.G. auf die Schweiz und Mitgliedsstaaten der EU betreffende grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbar ist. Die Regelung in Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland ist für die Klägerin auch günstiger als Art. 61 VO (EG) Nr. 883/2004, weil sie es der Klägerin ermöglicht, allein mithilfe der Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III zu erfüllen.
Dass sich Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland in Anhang II der VO (EG) Nr. 883/2004 nicht findet, erklärt sich aus dem Umstand, dass dieser Anhang grundsätzlich nur Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten erfasst, nicht aber Abkommen zwischen Mitglieds- und Drittstaaten. Allerdings wird die Schweiz nach Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des Abkommens EG-Schweiz für die in Abschnitt A dieses Anhangs in Bezug genommenen Rechtsakte (u.a. die VO (EWG) Nr. 1408/71 und – seit dem 1. April 2012 aufgrund Art. 1 i.V.m. dem Anhang des o.g. Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses – die VO (EG) Nr. 883/2004) den "Mitgliedsstaaten" gleichgesetzt.
Dass der durch Art. 1 i.V.m. dem Anhang des o.g. Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses mit Wirkung zum April 2012 angepasste Anhang II des Abkommens EG-Schweiz in seinem Abschnitt A Nr. 1 lit. i) Deutschland-Schweiz lit. b) i) Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland nicht (mehr) aufführt und die in Art. 8 Abs. 1 Satz 3 VO (EG) 883/2004 genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist im Fall der Klägerin unschädlich. Denn auf sie ist das Abkommen EG-Schweiz (noch) i.V.m. seinem Anhang II in der bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung anwendbar (hierzu ab aa.). In dieser Fassung von Anhang II wird (noch) die VO (EWG) Nr. 1408/71 in Bezug genommen, somit auch dessen Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EG) 1408/71, der – vergleichbar Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 – ausnahmsweise die Fortgeltung von (in Anhang III [Teil A] genannten) zwischenstaatlichen Bestimmungen der Abkommen zur sozialen Sicherheit vorsah, jedoch ohne die in den Nebensätzen von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 883/2004 enthaltenen zusätzlichen Anforderungen. Anhang III (Teil A) der VO (EG) 1408/71 (in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, ABl. L 187 vom 10. Juli 2001, S. 1) wurde durch Art. 8 i.V.m. Anhang II Abschnitt A Nr. 1 lit. i) Deutschland-Schweiz lit. b) i) des Ab-kommens EG-Schweiz um Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland ergänzt.
aa. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist die als Ausnahme einzustufende Fortgeltung zwischenstaatlicher Bestimmungen "allein darauf gerichtet, ein wohlerworbenes Recht auf dem Gebiet des Sozialrechts, das in dem Zeitpunkt, in dem es dem betreffenden Angehörigen eines Mitgliedstaats zugute kommen könnte, nach dem Gemeinschaftsrecht nicht vorgesehen ist, fortbestehen zu lassen" (EuGH, Urteile vom 05. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" – und vom 24. September 2002 – C 471/99 "Domínguez" –, Rn. 30; jeweils juris). Dem liegt "die Überlegung zugrunde, dass der Betroffene ein schützenswertes Vertrauen entwickeln durfte, er werde von den Bestimmungen des bilateralen Abkommens profitieren können" (EuGH, a.a.O.; Urteil vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen"–, juris). Die Anwendung der Fortgeltungsregelungen steht somit stets unter folgender Prämisse: "Fällt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats in Bezug auf eine Vergünstigung der sozialen Sicherheit unter ein Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten und ist dieses Abkommen für ihn günstiger als eine Gemeinschaftsverordnung, die später auf ihn anwendbar geworden ist, so hat er das sich aus diesem Abkommen ergebende Recht endgültig erworben. Wurden infolgedessen die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen, zumindest teilweise zu einer Zeit zurückgelegt, zu der nur ein bilaterales Abkommen anwendbar war, so ist die Situation des Betroffenen in Bezug auf eine bestimmte Leistung insgesamt nach den Bestimmungen dieses Abkommens zu beurteilen, sofern dies für ihn günstiger ist" (EuGH, Urteil vom 24. September 2002 – C-471/99 –, juris, m.w.N.). Dogmatisch gesehen bedeutet dies einen Anwendungs-usschluss bzw. eine teleologische Reduktion von Art. 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 VO (EG) 883/2004 in den Fällen eines Vertrauenstatbestands (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Februar 2002 – C-277/99 "Kaske" –, juris, Rn. 33, zur erstmaligen Anwendbarkeit der VO (EWG) Nr. 1408/71).
Die Frage, ob ein Berechtigter durch Inkrafttreten der Verordnung soziale Vergünstigungen aufgrund bilateralen Vertragsrechts verliert, ist nicht abstrakt, sondern in jedem Einzelfall zu bestimmen. Ausschlaggebend ist, ob der Arbeitnehmer von der Freizügigkeit noch vor Inkrafttreten der Verordnung in seinem Heimatmitgliedstaat Gebrauch gemacht hat oder erst danach. Hingegen bestehen Ansprüche aufgrund des Abkommensrechts nicht fort, wenn diese ausschließlich auf Versicherungszeiten beruhen, die erst nach Inkrafttreten der Verordnung zurückgelegt worden sind (Hauschild, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3.A., Art. 8 VO (EG) 883/2004 (Stand: 15.03.2018), Rn. 27, m.w.N.)
bb. Ein Vertrauenstatbestand im o.g. Sinn hat sich im Falle der Klägerin vor dem 1. April 2012, d.h. vor der Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 auf den hiesigen Sachverhalt, verwirklicht. Denn die Klägerin durfte, als sie am 1. Januar 2004 ihre Beschäftigung in der Schweiz aufnahm, im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz–Deutschland davon ausgehen, dass sie allein aufgrund ihrer Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland erwerben würde, und sie durfte nach zwölf Monaten in einem Schweizer Versicherungspflicht- bzw. Beschäftigungsverhältnis darauf vertrauen, dass sie diese Anwartschaft auch tatsächlich erworben hatte.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, nach dem o.G. habe aufgrund des Anwendungsbefehls in Art. 8 i.V.m. Anh. II Abschn. A Nr. 1 Abkommen EG-Schweiz bereits ab dem 1. Juni 2002 die VO (EWG) Nr. 1408/71 gegolten und diese habe mit Art. 67 Abs. 3 bereits eine Art. 61 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 entsprechende Einschränkung bezüglich der Zusammenrechnung von Versicherungs-, Beschäftigungs- und Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit enthalten, sodass kein Vertrauen der Klägerin habe entstehen können. Denn zugleich ordnete Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EG) 1408/71 die Fortgeltung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland an. Aufgrund dessen durfte sich die Klägerin, als sie am 1. Januar 2004 ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU und der Schweiz wahrnahm, darauf verlassen, dass abweichend vom Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Bestimmungen in Art. 67 Abs. 3 VO (EG) 1408/71 sie durch die Fortgeltung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland allein durch Schweizer Beschäftigungszeiten die Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland erfüllen würde.
cc. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es somit nicht darauf an, ob die für die Klägerin maßgebliche Rahmenfrist – hier: vom 1. Mai 2012 bis 30. April 2014 – auch einen Zeitraum umfasst, der vor dem 1. April 2012 lag, d.h. bevor durch den o.g. Beschluss 1/2012 des Gemischten Ausschusses die VO (EG) 883/2004 in das Abkommen EG-Schweiz inkorporiert wurde. Denn nach dem auch von der Beklagten herangezogenen o.g. Urteilen des EuGH vom 9. November 2000 (C-75/99 "Thelen") und vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske") ist unerheblich, ob in der jeweils maßgeblichen Rahmenfrist versicherungspflichtige Schweizer Beschäftigungszeiten zurückgelegt wurden, die vor dem 1. April 2012 lagen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Verdrängung des fortgeltenden Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland durch die VO (EG) 883/2004 mit Wirkung zum 1. April 2012 nicht bewirken darf, dass der Klägerin die Rechte und Vergünstigungen genommen werden, die ihr nach dem Abkommen zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 09. November 2000 – C-75/99 "Thelen" –, juris, Rn. 18, dem ein dem hiesigen Rechtsstreit weitgehend identischer Sachverhalt zugrunde lag – wie eine Zusammenschau dieser Entscheidung mit dem Vorlagebeschluss des BSG vom 21. Januar 1999 – B 11 AL 53/98 –, NZS 1999, 514 belegt –, weil in beiden Fällen die für das deutsche Recht geltende Anwartschaftszeit schon vollständig im Beschäftigungsstaat zurückgelegt war, bevor das bilaterale Abkommensrecht von Unionsrecht verdrängt werden sollte).
Die Beklagte stützt ihre entgegengesetzte Auffassung offenkundig auf eine Passage in den Urteilen des EuGH vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske", Rn. 32) und vom 24. September 2002 (C-471/99 "Dominguez", Rn. 31), wonach, wenn "die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen, zumindest teilweise zu einer Zeit zurückgelegt [wurden], zu der nur ein bilaterales Abkommen anwendbar war, [ ] die Situation des Betroffenen in Bezug auf eine bestimmte Leistung insgesamt nach den Bestimmungen dieses Abkommens zu beurteilen [sei], sofern dies für ihn günstiger ist". Der Senat verkennt einerseits nicht, dass eine Gleichsetzung der Anwartschaftszeit mit den o.g. "Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, die die Grundlage für die Ansprüche des Betroffenen darstellen", für die Rechtsauffassung der Beklagten spräche. Andererseits liegt das Spannungsverhältnis auf der Hand, das zwischen diesem Verständnis der o.g. Urteilspassagen und dem Grundsatz, nach bilateralem Abkommensrecht wohlerworbene Rechte dürften nicht durch verdrängendes Unionsrecht wieder genommen werden, besteht. Auf diesen Grundsatz stützt sich der EuGH nicht nur in seinen Urteilen vom 18. Dezember 2007 (C-396/05 "Habelt, Möser, Wachter", juris, Rn. 120), vom 9. November 2000 (C-75/99 "Thelen", juris, Rn. 18) und – sinngemäß auch schon – vom 7. Februar 1991 (C-227/89 "Rönfeldt", juris, Rn. 28), sondern erwähnt ihn auch in seinen Urteilen vom 5. Februar 2002 (C-277/99 "Kaske", Rn. 26 f.) und vom 24. September 2002 (C-471/99 "Dominguez", Rn. 29 ff.). Die Rechtsauffassung der Beklagten hätte eine weitreichende Entwertung dieses Grundsatzes zur Folge, weil der Verlust eines aus bilateralem Abkommensrecht "wohlerworbenen" Rechts durch die im Laufe der Zeit zunehmenden Möglichkeiten zu Rechtsänderungen umso mehr drohen würde, je länger ein Arbeitnehmer von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. Gegen die Rechtsauffassung der Beklagten spricht daher auch, dass sie mit einer ungerechtfertigten Beeinträchtigung der Grundfreiheit auf Arbeitnehmerfreizügigkeit einherginge.
Somit durfte die Klägerin, weil sie schon vor dem 1. April 2012 die Anwartschaftszeit nach deutschem Recht erfüllt hatte, darauf vertrauen, dass ihre auf dem Abkommen beruhende Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Deutschland fortbestand (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 22). Die (mittelbare, weil über Art. 7 Abs. 2 lit. c) VO (EWG) Nr. 1408/71 vermittelte) Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Abkommen Schweiz-Deutschland wirkte demnach im Falle der Klägerin bis zur ihrer Rückkehr nach Deutschland zum 1. Mai 2014 fort; aufgrund der insoweit angeordneten Gleichstellung der Schweizer mit deutschen Beschäftigungszeiten hat sie die Anwartschaftszeit nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III erfüllt.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.
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