Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 14 AS 1089/20 ER
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 862/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts nebst Zubehör zur Teilnahme am pandemiebedingten Hausschulunterricht stellt einen anzuerkennenden Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in dessen verfassungskonformer Auslegung (vgl. BSG, Urteil vom 8. Mai 2019 - B 14 AS 13/18 R -) dar.
2. Da das SGB II keinen Anspruch auf bestmögliche Versorgung vermittelt, sondern nur die Befriedigung einfacher und grundlegender Bedürfnisse garantiert, ist es dem Leistungsempfänger grundsätzlich zumutbar, Gebrauchtgeräte zu verwenden.
3. Der Antragsgegner kann seine Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung auch dadurch erfüllen, dass er die Kosten in Höhe von maximal 500,- EUR für die Anschaffung der Objekte durch die Antragstellerin selbst übernimmt.
2. Da das SGB II keinen Anspruch auf bestmögliche Versorgung vermittelt, sondern nur die Befriedigung einfacher und grundlegender Bedürfnisse garantiert, ist es dem Leistungsempfänger grundsätzlich zumutbar, Gebrauchtgeräte zu verwenden.
3. Der Antragsgegner kann seine Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung auch dadurch erfüllen, dass er die Kosten in Höhe von maximal 500,- EUR für die Anschaffung der Objekte durch die Antragstellerin selbst übernimmt.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 08. September 2020 abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ein internetfähiges Endgerät nebst Zubehör (Bildschirm, Tastatur, Maus, Drucker und drei Druckerpatronen) zur Verfügung zu stellen. Er kann diese Verpflichtung auch dadurch erfüllen, dass er Kosten in Höhe von maximal 500,- EUR für die Anschaffung der genannten Objekte durch die Antragstellerin selbst übernimmt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die 2007 geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner laufende Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie besucht derzeit die achte Klasse der Staatlichen Grund- und Regelschule F in N. Ihre Mutter beantragte mit Schreiben vom 05. Juni 2020 (Bl. 86 f. d. VwA.) beim Beklagten die Übernahme der Kosten für einen Computer mit Bildschirm, Tastatur und Maus sowie einen Drucker mit Patronen für den Schulunterricht, da dieser derzeit nur noch online stattfinde und die Teilnahme der Antragstellerin ohne die begehrten Geräte nicht möglich sei. Die Kosten bezifferte sie unter Vorlage von Angeboten des "O" mit EUR 720,07, wobei der Preis für Patronen offensichtlich nicht einberechnet war. Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. Juni 2020 ab (Bl. 94 f. d. VwA.). Die Antragstellerin erhob gegen den Bescheid am 23. Juni 2020 Widerspruch (Bl. 96 f. d. VwA.). Im Laufe des Widerspruchsverfahrens legte sie ein Schreiben der Schule vom 08. September 2020 (Bl. 112 d. VwA.) vor, in dem aufgrund der coronabedingten Schulschließungen die Notwendigkeit der Anschaffung bestätigt wurde. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 17. September 2020 (Bl. 123 ff. d. VwA.) zurückgewiesen. Dagegen hat die Antragstellerin am 29. September 2020 Klage erhoben.
Am 20. August 2020 beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen für die Anschaffung eines internetfähigen Computers nebst Zubehör zu gewähren.
Der Antrag wurde durch Beschluss vom 08. September 2020 abgelehnt. Ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht. Gegenwärtig bestehe trotz der Pandemielage Präsenzpflicht im Unterricht. Der Umstand, dass der Vater der Antragstellerin an einer Lungenerkrankung leide, sei vom Gericht nicht zu bewerten, solange die Antragstellerin den Unterricht noch besuche und über ihren Antrag auf Befreiung von der Präsenzpflicht noch nicht entschieden worden sei. Gegen den am 09. September 2020 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, die am 30. September 2020 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der die Antragstellerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 8. September 2020 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Anschaffung eines internetfähigen Computers, eines Computer-Bildschirms, einer Computer-Maus, einer Computer-Tastatur, eines Druckers und Drucker-Patronen zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die Beschwerde für unzulässig, weil der Beschwerdewert nur 708,07 EUR betrage. Der Betrag für die begehrten Geräte sei weit überzogen. Im Übrigen stehe die Versorgung von Schülern aus bedürftigen Elternhäusern durch Maßnahmen von Landkreis bzw. Stadt unmittelbar bevor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der geheimen Beratung.
II.
Die Beschwerde hat im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Gegen Entscheidungen des Sozialgerichts ist grundsätzlich die Beschwerde statthaft, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist die Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Dies ist hier nicht der Fall. Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung bei einer Klage, deren Beschwerdewertgegenstand, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung betrifft, EUR 750,00 nicht übersteigt. Die Antragstellerin hat den geltend gemachten Anspruch im Verwaltungsverfahren unter Vorlage von Angeboten des "O" zwar lediglich mit EUR 720,07 beziffert. Allerdings sind die Kosten für die Druckerpatronen offensichtlich nicht miteinberechnet. Der Senat geht im Hinblick auf die Dauer des Bewilligungsabschnitts (bis Ende Februar 2021) im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips für die Frage, ob der Beschwerdewert erreicht ist, zu Gunsten der Antragstellerin davon aus, dass sie Leistungen in Höhe von mehr als EUR 750,00 begehrt und der Beschwerderechtszug damit eröffnet ist.
Die Beschwerde ist im Umfang des Beschlusstenors auch begründet.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, das durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
Die so verstandenen Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin ist leistungsberechtigt nach dem SGB II. Sie lebt mit ihren i. S. v. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigten Eltern in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II), sodass sie gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt ist. Ausschlussgründe liegen bei ihr nicht vor. Die Antragstellerin hat damit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II Anspruch auf Sozialgeld. Diese Leistungen umfassen neben den hier nicht streitigen (kopfteiligen) Unterkunftskosten den Regelbedarf und die Mehrbedarfe, wobei diese nach § 21 Abs. 1 SGB II die Bedarfe umfassen, die nicht durch den Regelbedarf gedeckt sind. Das ist hier der Fall; § 28 Abs. 3 SGB II ist im vorliegenden Zusammenhang schon im Hinblick auf die Höhe der hier erforderlichen Aufwendungen nicht einschlägig.
Nach § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind vorliegend erfüllt.
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Bedarf (Anschaffung eines internetfähigen Computers nebst Zubehör zur Teilnahme am pandemiebedingten Hausschulunterricht) stellt grundsätzlich einen anzuerkennenden Mehrbedarf dar, der § 21 Abs. 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung unterfällt.
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Bedarf für die Anschaffung eines internetfähigen Computers zur Teilnahme am pandemiebedingten Hausschulunterricht ist i. S. d. § 21 Abs. 1 SGB II nicht im Regelbedarf berücksichtigt. Mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 2016, S. 3159) hat der Gesetzgeber eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorgenommen und nach Fortschreibung die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsangaben festgesetzt. Ein Bedarf für die Anschaffung von Schulcomputern wurde hierbei nicht berücksichtigt. Damit ist der Regelbedarf jedenfalls unter den gegenwärtigen Umständen der Pandemie nicht mehr in strukturell realitätsgerechter Weise zutreffend erfasst. Der Senat folgt den Ausführungen des LSG Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 22. Mai 2020 (L 7 AS 719/20 B ER, nach juris).
Dieser grundsicherungsrechtlich anzuerkennende Bedarf ist zwar streng genommen dem Bereich "Leistungen für Bildung und Teilhabe" zuzurechnen. Eine Anspruchsgrundlage ist in der dafür einschlägigen Vorschrift des § 28 SGB II jedoch nicht enthalten. Eine erweiternde Auslegung dieser Regelung hält der Senat angesichts der gesetzlich eindeutig eingegrenzten Bedarfssituationen nicht für zulässig. § 24 SGB II sieht lediglich eine Darlehensgewährung vor und erscheint daher im vorliegenden Fall vor dem Hintergrund der Gefahr dauerhafter Bedarfsunterdeckung nicht ausreichend - abgesehen davon, dass eine Darlehensgewährung gegen den Willen des Leistungsempfängers nicht in Betracht kommt.
Vor diesem Hintergrund hält sich der Senat entsprechend den Erwägungen des BSG im Urteil vom 8. Mai 2019 (B 14 AS 13/18 R) für befugt, die Härtefallvorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II verfassungskonform auszulegen und den Antragsgegner zu der im Tenor beschriebenen Leistung zu verpflichten.
Die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts ist mit der ab 16. Dezember 2020 erfolgten Schließung des Präsenzunterrichts zur Verwirklichung des Rechts des Kindes auf Bildung und der Chancengleichheit erforderlich geworden. Während der pandemiebedingten Schließung des Präsenzunterrichtes hat die Antragstellerin damit die Möglichkeit, auf die Thüringer "Schulcloud" zuzugreifen und sich mit Lernmaterialien und Aufgaben zu versorgen. Die Schule der Antragstellerin wirkt am Pilotprojekt mit, wie sich aus dem mit der Beschwerdeschrift vorgelegten Schriftstück ergibt. Soweit die Antragstellerin die Möglichkeit hätte, die Schulaufgaben in ausgedruckter Form im Sekretariat der Schule abzuholen, hält der Senat das nicht für einen den Modalitäten der Computernutzung entsprechenden Ersatz (z. B. im Fall von Onlineunterricht).
Der Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung steht aus Sicht des Senats nicht entgegen, dass es vorliegend streng genommen nicht um einen laufenden, sondern um einen einmaligen Bedarf geht, wenn allein auf die Anschaffung der Geräte abgestellt wird.
Auch die Beschaffung eines Gegenstandes zur laufenden Benutzung kann einen laufenden Bedarf i. S. d. § 21 Abs. 6 SGB II darstellen (vgl. Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 10. September 2013, Az.: B 4 AS 12/13 R, zu den Gebühren für die Miete eines Cellos). Für die grundsicherungsrechtliche Bewertung ist es unerheblich, ob der Bedarf durch eine einmalige Anschaffung im Rahmen eines Kaufvertrages oder durch ein Dauerschuldverhältnis (Miete, Leasing u. a. m.) gedeckt wird. Maßgeblich ist allein das Vorliegen einer atypischen Bedarfssituation, die auf Dauer zu spürbaren Einschränkungen des Existenzminimums führt, weil ein von einem durchschnittlichen Bedarf abweichendes Bedürfnis zur Sicherung des Existenzminimums entsteht. Das ist - wie gesehen - hier der Fall.
Der Bedarf ist auch unabweisbar. Nach den vom Antragsgegner unwidersprochenen Angaben der Antragstellerin ist im Haushalt der Familie lediglich ein internetfähiges Smartphone vorhanden. Dieses erscheint für die Erledigung von Aufgaben und Beschaffung von Lernmaterial aufgrund des kleinen Formats ungeeignet, zudem benötigt die Antragstellerin einen Drucker als Zubehör. Auch ist nach bisherigem Stand nicht davon auszugehen, dass ein Gerät von Dritten, also z. B. der Schule oder einem Schulförderverein, zur Verfügung gestellt wird. Anhaltspunkte dafür, dass die Schule der Antragstellerin ein mobiles Endgerät zur Verfügung stellen kann (z. B. über Spenden oder einen Schulförderverein), bestehen nicht. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin kurzfristig vom Landkreis oder der Stadt N entsprechend ausgestattet wird. Selbst wenn derartige Geräte beschafft worden sein sollten, steht nicht mit hinreichender Sicherheit fest, dass die Antragstellerin so zeitnah damit versorgt wird, dass ihr die Begleitung des Unterrichts unverzüglich möglich ist.
Allerdings hat die Antragstellerin keinen Anspruch auf die von ihr ausgewählten Geräte, deren Preis sie im Verwaltungsverfahren mit 720,- EUR (ohne Patronen) angegeben hat. Das Leistungssystem des SGB II vermittelt keinen Anspruch auf bestmögliche Versorgung, sondern garantiert die Befriedigung einfacher und grundlegender Bedürfnisse. Der Senat hält es der Antragstellerin daher für grundsätzlich zumutbar, Gebrauchtgeräte zu verwenden, wenn sie den erforderlichen Zweck erfüllen. Der Kauf von Second-Hand-Geräten ist in weiten Bevölkerungskreisen allgemein üblich. Die Antragstellerin muss sich daher auf ein kostengünstiges und ggf. gebrauchtes zweckentsprechendes Gerät verweisen lassen.
Liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor, so steht es im Ermessen des Gerichts, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks des einstweiligen Anordnungsverfahrens getroffen werden.
Nach § 938 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), der nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG entsprechend gilt, bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind. Die einstweilige Verfügung kann nach Abs. 2 der Vorschrift unter anderem darin bestehen, dass dem Gegner eine Handlung geboten wird. Von dieser Möglichkeit macht der Senat in der im Tenor beschriebenen Weise Gebrauch.
Danach kann der Antragsgegner die Verpflichtung aus dieser einstweiligen Anordnung erfüllen, indem er der Antragstellerin ein internetfähiges Endgerät nebst Zubehör (Bildschirm, Tastatur, Maus, Drucker und drei Druckerpatronen) zur Verfügung stellt. Er kann diese Verpflichtung aber nach seiner Wahl auch dadurch erfüllen, dass er Kosten für die Anschaffung der genannten Objekte durch die Antragstellerin übernimmt. Auf der Grundlage von § 202 SGG i. V. m. § 287 Abs. 2 ZPO schätzt der Senat einen Höchstbetrag von 500,- EUR. Die damit ggf. verbundene Vorwegnahme der Hauptsache hält der Senat im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) für hinnehmbar.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war abzulehnen, weil die anwaltlich vertretene Antragstellerin nicht das für die Prüfung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse notwendige Formular vorgelegt hat, wie es § 73a SGG i. V. m. § 117 Abs. 4 ZPO vorsehen. Die eingereichte Erklärung betrifft allein ihre Mutter.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
I.
Die 2007 geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner laufende Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie besucht derzeit die achte Klasse der Staatlichen Grund- und Regelschule F in N. Ihre Mutter beantragte mit Schreiben vom 05. Juni 2020 (Bl. 86 f. d. VwA.) beim Beklagten die Übernahme der Kosten für einen Computer mit Bildschirm, Tastatur und Maus sowie einen Drucker mit Patronen für den Schulunterricht, da dieser derzeit nur noch online stattfinde und die Teilnahme der Antragstellerin ohne die begehrten Geräte nicht möglich sei. Die Kosten bezifferte sie unter Vorlage von Angeboten des "O" mit EUR 720,07, wobei der Preis für Patronen offensichtlich nicht einberechnet war. Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. Juni 2020 ab (Bl. 94 f. d. VwA.). Die Antragstellerin erhob gegen den Bescheid am 23. Juni 2020 Widerspruch (Bl. 96 f. d. VwA.). Im Laufe des Widerspruchsverfahrens legte sie ein Schreiben der Schule vom 08. September 2020 (Bl. 112 d. VwA.) vor, in dem aufgrund der coronabedingten Schulschließungen die Notwendigkeit der Anschaffung bestätigt wurde. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 17. September 2020 (Bl. 123 ff. d. VwA.) zurückgewiesen. Dagegen hat die Antragstellerin am 29. September 2020 Klage erhoben.
Am 20. August 2020 beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen für die Anschaffung eines internetfähigen Computers nebst Zubehör zu gewähren.
Der Antrag wurde durch Beschluss vom 08. September 2020 abgelehnt. Ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht. Gegenwärtig bestehe trotz der Pandemielage Präsenzpflicht im Unterricht. Der Umstand, dass der Vater der Antragstellerin an einer Lungenerkrankung leide, sei vom Gericht nicht zu bewerten, solange die Antragstellerin den Unterricht noch besuche und über ihren Antrag auf Befreiung von der Präsenzpflicht noch nicht entschieden worden sei. Gegen den am 09. September 2020 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, die am 30. September 2020 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der die Antragstellerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 8. September 2020 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Anschaffung eines internetfähigen Computers, eines Computer-Bildschirms, einer Computer-Maus, einer Computer-Tastatur, eines Druckers und Drucker-Patronen zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die Beschwerde für unzulässig, weil der Beschwerdewert nur 708,07 EUR betrage. Der Betrag für die begehrten Geräte sei weit überzogen. Im Übrigen stehe die Versorgung von Schülern aus bedürftigen Elternhäusern durch Maßnahmen von Landkreis bzw. Stadt unmittelbar bevor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der geheimen Beratung.
II.
Die Beschwerde hat im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Gegen Entscheidungen des Sozialgerichts ist grundsätzlich die Beschwerde statthaft, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist die Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Dies ist hier nicht der Fall. Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung bei einer Klage, deren Beschwerdewertgegenstand, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung betrifft, EUR 750,00 nicht übersteigt. Die Antragstellerin hat den geltend gemachten Anspruch im Verwaltungsverfahren unter Vorlage von Angeboten des "O" zwar lediglich mit EUR 720,07 beziffert. Allerdings sind die Kosten für die Druckerpatronen offensichtlich nicht miteinberechnet. Der Senat geht im Hinblick auf die Dauer des Bewilligungsabschnitts (bis Ende Februar 2021) im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips für die Frage, ob der Beschwerdewert erreicht ist, zu Gunsten der Antragstellerin davon aus, dass sie Leistungen in Höhe von mehr als EUR 750,00 begehrt und der Beschwerderechtszug damit eröffnet ist.
Die Beschwerde ist im Umfang des Beschlusstenors auch begründet.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, das durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
Die so verstandenen Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin ist leistungsberechtigt nach dem SGB II. Sie lebt mit ihren i. S. v. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigten Eltern in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II), sodass sie gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt ist. Ausschlussgründe liegen bei ihr nicht vor. Die Antragstellerin hat damit nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II Anspruch auf Sozialgeld. Diese Leistungen umfassen neben den hier nicht streitigen (kopfteiligen) Unterkunftskosten den Regelbedarf und die Mehrbedarfe, wobei diese nach § 21 Abs. 1 SGB II die Bedarfe umfassen, die nicht durch den Regelbedarf gedeckt sind. Das ist hier der Fall; § 28 Abs. 3 SGB II ist im vorliegenden Zusammenhang schon im Hinblick auf die Höhe der hier erforderlichen Aufwendungen nicht einschlägig.
Nach § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind vorliegend erfüllt.
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Bedarf (Anschaffung eines internetfähigen Computers nebst Zubehör zur Teilnahme am pandemiebedingten Hausschulunterricht) stellt grundsätzlich einen anzuerkennenden Mehrbedarf dar, der § 21 Abs. 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung unterfällt.
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Bedarf für die Anschaffung eines internetfähigen Computers zur Teilnahme am pandemiebedingten Hausschulunterricht ist i. S. d. § 21 Abs. 1 SGB II nicht im Regelbedarf berücksichtigt. Mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 2016, S. 3159) hat der Gesetzgeber eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorgenommen und nach Fortschreibung die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsangaben festgesetzt. Ein Bedarf für die Anschaffung von Schulcomputern wurde hierbei nicht berücksichtigt. Damit ist der Regelbedarf jedenfalls unter den gegenwärtigen Umständen der Pandemie nicht mehr in strukturell realitätsgerechter Weise zutreffend erfasst. Der Senat folgt den Ausführungen des LSG Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 22. Mai 2020 (L 7 AS 719/20 B ER, nach juris).
Dieser grundsicherungsrechtlich anzuerkennende Bedarf ist zwar streng genommen dem Bereich "Leistungen für Bildung und Teilhabe" zuzurechnen. Eine Anspruchsgrundlage ist in der dafür einschlägigen Vorschrift des § 28 SGB II jedoch nicht enthalten. Eine erweiternde Auslegung dieser Regelung hält der Senat angesichts der gesetzlich eindeutig eingegrenzten Bedarfssituationen nicht für zulässig. § 24 SGB II sieht lediglich eine Darlehensgewährung vor und erscheint daher im vorliegenden Fall vor dem Hintergrund der Gefahr dauerhafter Bedarfsunterdeckung nicht ausreichend - abgesehen davon, dass eine Darlehensgewährung gegen den Willen des Leistungsempfängers nicht in Betracht kommt.
Vor diesem Hintergrund hält sich der Senat entsprechend den Erwägungen des BSG im Urteil vom 8. Mai 2019 (B 14 AS 13/18 R) für befugt, die Härtefallvorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II verfassungskonform auszulegen und den Antragsgegner zu der im Tenor beschriebenen Leistung zu verpflichten.
Die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts ist mit der ab 16. Dezember 2020 erfolgten Schließung des Präsenzunterrichts zur Verwirklichung des Rechts des Kindes auf Bildung und der Chancengleichheit erforderlich geworden. Während der pandemiebedingten Schließung des Präsenzunterrichtes hat die Antragstellerin damit die Möglichkeit, auf die Thüringer "Schulcloud" zuzugreifen und sich mit Lernmaterialien und Aufgaben zu versorgen. Die Schule der Antragstellerin wirkt am Pilotprojekt mit, wie sich aus dem mit der Beschwerdeschrift vorgelegten Schriftstück ergibt. Soweit die Antragstellerin die Möglichkeit hätte, die Schulaufgaben in ausgedruckter Form im Sekretariat der Schule abzuholen, hält der Senat das nicht für einen den Modalitäten der Computernutzung entsprechenden Ersatz (z. B. im Fall von Onlineunterricht).
Der Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II in verfassungskonformer Auslegung steht aus Sicht des Senats nicht entgegen, dass es vorliegend streng genommen nicht um einen laufenden, sondern um einen einmaligen Bedarf geht, wenn allein auf die Anschaffung der Geräte abgestellt wird.
Auch die Beschaffung eines Gegenstandes zur laufenden Benutzung kann einen laufenden Bedarf i. S. d. § 21 Abs. 6 SGB II darstellen (vgl. Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 10. September 2013, Az.: B 4 AS 12/13 R, zu den Gebühren für die Miete eines Cellos). Für die grundsicherungsrechtliche Bewertung ist es unerheblich, ob der Bedarf durch eine einmalige Anschaffung im Rahmen eines Kaufvertrages oder durch ein Dauerschuldverhältnis (Miete, Leasing u. a. m.) gedeckt wird. Maßgeblich ist allein das Vorliegen einer atypischen Bedarfssituation, die auf Dauer zu spürbaren Einschränkungen des Existenzminimums führt, weil ein von einem durchschnittlichen Bedarf abweichendes Bedürfnis zur Sicherung des Existenzminimums entsteht. Das ist - wie gesehen - hier der Fall.
Der Bedarf ist auch unabweisbar. Nach den vom Antragsgegner unwidersprochenen Angaben der Antragstellerin ist im Haushalt der Familie lediglich ein internetfähiges Smartphone vorhanden. Dieses erscheint für die Erledigung von Aufgaben und Beschaffung von Lernmaterial aufgrund des kleinen Formats ungeeignet, zudem benötigt die Antragstellerin einen Drucker als Zubehör. Auch ist nach bisherigem Stand nicht davon auszugehen, dass ein Gerät von Dritten, also z. B. der Schule oder einem Schulförderverein, zur Verfügung gestellt wird. Anhaltspunkte dafür, dass die Schule der Antragstellerin ein mobiles Endgerät zur Verfügung stellen kann (z. B. über Spenden oder einen Schulförderverein), bestehen nicht. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin kurzfristig vom Landkreis oder der Stadt N entsprechend ausgestattet wird. Selbst wenn derartige Geräte beschafft worden sein sollten, steht nicht mit hinreichender Sicherheit fest, dass die Antragstellerin so zeitnah damit versorgt wird, dass ihr die Begleitung des Unterrichts unverzüglich möglich ist.
Allerdings hat die Antragstellerin keinen Anspruch auf die von ihr ausgewählten Geräte, deren Preis sie im Verwaltungsverfahren mit 720,- EUR (ohne Patronen) angegeben hat. Das Leistungssystem des SGB II vermittelt keinen Anspruch auf bestmögliche Versorgung, sondern garantiert die Befriedigung einfacher und grundlegender Bedürfnisse. Der Senat hält es der Antragstellerin daher für grundsätzlich zumutbar, Gebrauchtgeräte zu verwenden, wenn sie den erforderlichen Zweck erfüllen. Der Kauf von Second-Hand-Geräten ist in weiten Bevölkerungskreisen allgemein üblich. Die Antragstellerin muss sich daher auf ein kostengünstiges und ggf. gebrauchtes zweckentsprechendes Gerät verweisen lassen.
Liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor, so steht es im Ermessen des Gerichts, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks des einstweiligen Anordnungsverfahrens getroffen werden.
Nach § 938 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), der nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG entsprechend gilt, bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind. Die einstweilige Verfügung kann nach Abs. 2 der Vorschrift unter anderem darin bestehen, dass dem Gegner eine Handlung geboten wird. Von dieser Möglichkeit macht der Senat in der im Tenor beschriebenen Weise Gebrauch.
Danach kann der Antragsgegner die Verpflichtung aus dieser einstweiligen Anordnung erfüllen, indem er der Antragstellerin ein internetfähiges Endgerät nebst Zubehör (Bildschirm, Tastatur, Maus, Drucker und drei Druckerpatronen) zur Verfügung stellt. Er kann diese Verpflichtung aber nach seiner Wahl auch dadurch erfüllen, dass er Kosten für die Anschaffung der genannten Objekte durch die Antragstellerin übernimmt. Auf der Grundlage von § 202 SGG i. V. m. § 287 Abs. 2 ZPO schätzt der Senat einen Höchstbetrag von 500,- EUR. Die damit ggf. verbundene Vorwegnahme der Hauptsache hält der Senat im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) für hinnehmbar.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war abzulehnen, weil die anwaltlich vertretene Antragstellerin nicht das für die Prüfung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse notwendige Formular vorgelegt hat, wie es § 73a SGG i. V. m. § 117 Abs. 4 ZPO vorsehen. Die eingereichte Erklärung betrifft allein ihre Mutter.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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