L 6 AS 554/20 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 700/20 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 554/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Auslegung von § 6 UnbilligkeitsV
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 2. November 2020 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren Kosten nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um die Aufforderung der Antragsgegnerin, der Antragsteller möge eine vorgezogene Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragen.

Der 1957 geborene, alleinstehende Antragsteller erhält seit mehreren Jahren von der Antragsgegnerin laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Zuletzt vor der Einleitung des hiesigen Verfahrens bewilligte sie ihm durch Bescheid vom 17. September 2019 Leistungen für die Zeit von Oktober 2019 bis September 2020, die nach Erhöhung des Regelbedarfs ab dem 1. Januar 2020 monatlich 945,34 Euro betragen.

Der Antragsteller legte am 31. Juli 2020 (unvollständig) und 7. August 2020 (weitere Seiten) auf Aufforderung der Antragsgegnerin eine Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 13. August 2018 vor. Danach würde ihm Regelaltersrente ab dem 1. Oktober 2023 gezahlt werden und diese monatlich 568,46 Euro brutto betragen. Die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente für langjährig Versicherte zum 1. November 2020 würde zu einer Rentenminderung von 10,5 Prozent führen, wobei unter Berücksichtigung der bis zum 31. Dezember 2017 gespeicherten und der Rentenauskunft zu Grunde liegenden Zeiten zur Erfüllung der 35-jährigen Wartezeit für diese Rente noch 29 Monate fehlten. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 63 f. und Bl. 69 ff. des von der Antragsgegnerin elektronisch übermittelten und den Zeitraum ab Sommer 2019 betreffenden Teils der zum Antragsteller geführten Leistungsakte – im Folgenden: LA – Bezug genommen.

Daraufhin forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 7. August 2020 (LA Bl. 78 f.) auf, für die Zeit ab 1. November 2020 Altersrente zu beantragen. Der Antragsteller legte mit Schreiben vom 18. August 2020 Widerspruch ein, den er mit den mit einer vorzeitigen Renteninanspruchnahme verbundenen Rentenabzügen und der geringen danach zu erwartenden Rente begründete; das würde dazu führen, dass er auch nach Renteneintritt weiterhin hilfebedürftig bleiben werde, und stelle daher eine unbillige Härte dar. Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 26. August 2020 stellte die Antragsgegnerin ausführliche Ermessenserwägungen an. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 15 ff. der Gerichtsakte – im Folgenden: GA – Bezug genommen.

Der Antragsteller hat mit Eingang am 25. September 2020 Klage zum Sozialgericht Darmstadt erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Dazu hat er ausführlich dargelegt, warum die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme nach seiner Auffassung eine unbillige Härte darstelle und die damit verbundenen Rentenabschläge zu einem verfassungswidrigen Eingriff in die über Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützten Rentenanwartschaften führten. Ein Vollziehungsinteresse an dem daher mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrigen Verwaltungsakt bestehe nicht. Insbesondere seien vom Antragsgegner keine für die sofortige Vollziehbarkeit sprechenden Gründe geltend gemacht worden. Auf GA Bl. 1 ff., Bl. 29 f. sowie Bl. 34 f. wird Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat den Antrag durch den angegriffenen Beschluss vom 2. November 2020 abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die regelmäßig gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eintretende aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage entfalle nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG und § 39 Nr. 2 SGB II bei Verwaltungsakten, mit denen zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert werde. Das Gericht könne in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt sei; demgegenüber werde die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, wenn die Klage aussichtslos sei. Seien die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, sei eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden könnten. Es gelte der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten seien, umso geringer seien die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers; bei der Interessenabwägung sei in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGG zu berücksichtigen, dass aus der vom Gesetzgeber grundsätzlich angeordneten sofortigen Vollziehung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des Vollziehungsinteresses gegenüber dem Aufschubinteresse des Antragstellers abzuleiten sei (Verweis auf Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Die aufschiebende Wirkung könne daher in diesen Fällen nur angeordnet werden, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar sei.

Die genannten Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung seien vorliegend nicht erfüllt. Die Aufforderung an den Antragsteller, zum 1. November 2020 eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, sei rechtmäßig. Nach § 12a Satz 1 SGB II seien Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich sei, wobei nach § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres keine Verpflichtung bestehe, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen.

Der nach § 7 Abs. 1 SGB II leistungsberechtigte Antragsteller könne mit Vollendung seines 63. Lebensjahres am 30. Oktober 2020 ab dem 1. November 2020 eine vorzeitige Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 236 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) in Anspruch nehmen und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit vermindern. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gehöre grundsätzlich zu den vorrangigen Leistungen – trotz der mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (Verweis auf BSG, Urteil vom 9. August 2018 – B 14 AS 1/18 R –, juris Rn. 14).

Der Antragsteller sei auch nicht nach § 1 der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung UnbilligkeitsVO – vom 14. April 2008, BGBl. I S. 734, in der Fassung der Änderungsverordnung vom 4. Oktober 2016, BGBl. I S. 2210) von seiner Verpflichtung zur Rentenantragstellung befreit, weil die Inanspruchnahme unbillig wäre. Die auf die Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 2 SGB II gestützte Unbilligkeitsverordnung regele abschließend die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen Leistungsberechtigte zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet seien (Hinweis auf BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R , juris Rn. 23 f.; BSG, Urteil vom 9. August 2018 – B 14 AS 1/18 R –, juris Rn. 17). Die Tatbestände der § 2 bis § 6 UnbilligkeitsVO seien nicht erfüllt.

Insbesondere sei die Inanspruchnahme nicht deshalb unbillig, weil der Antragsteller in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen könnte (§ 3 UnbilligkeitsVO), da er die Altersrente für langjährig Versicherte gemäß der Rentenauskunft vom 13. August 2018 erst ab dem 1. Oktober 2023 und eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen – sofern die Voraussetzungen hierfür vorlägen – frühestens ab dem 1. Oktober 2021 abschlagsfrei erhalten könnte.

Auch eine Unbilligkeit nach § 6 UnbilligkeitsVO liege nicht vor, obwohl die Voraussetzungen des Regelbeispiels aus dessen Satz 2 hier offensichtlich erfüllt seien, da der Antragsteller laut der genannten Rentenauskunft lediglich eine Regelaltersrente in Höhe von 568,46 Euro zu erwarten habe und 70 Prozent hiervon seinen aktuellen Bedarf von 945,34 Euro nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch nicht einmal zur Hälfte abdecken würden. Jedoch fehle es an der weiteren Voraussetzung für eine Unbilligkeit aus Satz 1 der Vorschrift, wonach die Inanspruchnahme nur dann unbillig sei, wenn hierdurch Hilfebedürftigkeit im Alter verursacht werde. Dies sei hier nicht der Fall, da der Antragsteller prognostisch, das heiße: unter Berücksichtigung des erwartbaren Geschehensablaufs, auch mit seiner (abschlagsfreien) Regelaltersrente noch bedürftig und auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) angewiesen sein werde. Dass die Rentenabschläge bei einer "erzwungenen" vorzeitigen Beantragung von Altersrente für die Entstehung der Bedürftigkeit ursächlich sein müssten, folge zum einen aus dem Wortlaut der Vorschrift ("dadurch"), der ein Kausalitätserfordernis zum Ausdruck bringe. Zweitens ergebe sich dies aus dem Willen des Verordnungsgebers, wonach Ziel der Vorschrift sein solle, Hilfebedürftigkeit im Alter zu vermeiden, die "allein durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente und die damit verbundenen Abschläge in der Höhe der Altersrente resultiert" (Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung, Bearbeitungsstand: 19. September 2016, S. 6). Dieses Ziel könne aber nur dann überhaupt erreicht werden, wenn Hilfebedürftigkeit im Alter bei abschlagsfreier Rente voraussichtlich gerade nicht eintrete. Zwar würden in anderen Teilen der Verordnungsbegründung durchaus auch Argumente referiert, die generell gegen die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlägen bei fortbestehender ergänzender Hilfebedürftigkeit sprächen. So heiße es dort auf Seite 3: "Unnötige Bürokratie ergibt sich aber auch dann, wenn die Altersrente bereits ohne Abschläge nicht zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit ausreicht. In diesem Fall erfolgt durch die Inanspruchnahme lediglich ein (früherer) Wechsel der Leistungsträger, ohne dass die Hilfebedürftigkeit überwunden wird. Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende müssen zur Antragstellung auffordern, die tatsächliche Antragstellung überwachen und ggf. selbst einen Antrag stellen." Jedoch hätten diese Erwägungen in der konkreten Formulierung von § 6 UnbilligkeitsVO letztlich keinen Niederschlag gefunden. Dort sei gerade nicht davon die Rede, dass schon eine Vergrößerung der Bedürftigkeit im Alter durch die Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrente zu einer Unbilligkeit führen solle. Zudem spreche die Begründung zur konkreten Vorschrift des § 6 Satz 1 Unbilligkeitsverordnung dezidiert von alleiniger Ursächlichkeit des vorzeitig erzwungenen Renteneintritts für die Hilfebedürftigkeit.

Auch im Übrigen sei die Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht zu beanstanden. Insbesondere habe die Antragsgegnerin bei der Entscheidung ihr Entschließungsermessen (Verweis auf BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R , BSGE 119, 271) erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Dass dies erst im Widerspruchsbescheid erfolgt sei, sei unschädlich, da die Ermessensausübung bis dahin nachgeholt werden könne. Das Sozialgericht könne zudem bereits nicht erkennen, weshalb hier ein atypischer Fall im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung angenommen werden sollte, der erst das Erfordernis zur umfangreichen Ermessensabwägung auslöse. Trotzdem habe die Antragsgegnerin die relevanten Belange im Widerspruchsbescheid umfassend und unter Berücksichtigung des Ermessenszwecks abgewogen.

Das Sozialgericht könne in der an den Antragsteller gerichteten Aufforderung, eine abschlagsbehaftete Altersrente zu beantragen, auch keinen Verfassungsverstoß erkennen. Insofern werde zunächst vollumfänglich auf die umfassenden Ausführungen in der zuletzt genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts Bezug genommen. Zum Vorbringen der Antragstellerseite sei auszuführen, dass der bemängelte Verstoß gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG schon deshalb nicht vorliegen könne, weil dieses nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf Einschränkungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG im Rahmen von Inhalts- und Schrankenbestimmungen keine Anwendung finde (Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1967 – 1 BvR 168/64 –, BVerfGE 21, 92). Die genannte Entscheidung des Bundessozialgerichts enthalte im Übrigen auch Ausführungen zur Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit des aufgeforderten Leistungsempfängers, die sich nach Auffassung des Sozialgerichts auf die Rechtfertigung des Eingriffs in die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG übertragen ließen.

Der Antragsteller hat nach Zustellung des Beschlusses bei seinen Bevollmächtigten am 2. November 2020 mit Eingang am 30. November 2020 Beschwerde erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen und macht insbesondere geltend, dem Sozialgericht könne nicht darin gefolgt werden, dass die Erwägungen des Verordnungsgebers zur Vermeidung unnötiger Bürokratie in der Verordnungsbegründung in der konkreten Formulierung der Vorschrift des § 6 UnbilligkeitsVO keinen Niederschlag gefunden hätten. Das Gericht habe verkannt, dass die zwangsweise Inanspruchnahme der Altersrente, die zu Abschlägen führe, einen Grundrechtseingriff darstelle, so dass sich konkret aus dem Gesetz ergeben müsse, dass ein vorzeitiger Rentenbezug geboten sei. Dies sei aber bei dem Verständnis des Sozialgerichts nicht der Fall. Es mute bereits merkwürdig an, dass die Erwägungen des Verordnungsgebers in Bezug auf das Ziel der Vorschrift, Hilfebedürftigkeit im Alter zu vermeiden, zur Begründung des abschlägigen Beschlusses angeführt würden, obwohl dieses "in der konkreten Formulierung der Vorschrift des § 6 UnbilligkeitsVO letztlich keinen Niederschlag gefunden" habe, andererseits aber Erwägungen, die zu Gunsten des Antragstellers wirkten, mit derselben Argumentation ignoriert würden. Nicht am Bürger sei es, Grundrechtseingriffe darzulegen, sondern an der Verwaltung beziehungsweise den Gerichten, solche auszuschließen. § 2 Satz 2 Halbs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) gebe vor, dass bei der Auslegung der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs sicherzustellen sei, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht würden. Weiterhin dürften gemäß § 31 SGB I Rechte und Pflichten nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz dieses vorschreibe oder zulasse. Die vorbenannten Normen stünden einer einschränkenden Auslegung der die Eingriffsbefugnis begrenzenden Unbilligkeitsverordnung entgegen. Hinzu komme, dass die vom Erstgericht angesprochene Kausalität einzig auf die konkrete Inanspruchnahme der abschlagsbehafteten Altersrente abstelle ("Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn [ ...] dadurch"). Der Verordnungsgeber habe folglich bewusst darauf verzichtet zu regeln, dass gleichsam Hilfebedürftigkeit bei Inanspruchnahme der späteren, regulären Altersrente vermieden werden müsse. Demgemäß stelle Satz 2 des § 6 UnbilligkeitsVO auch nur auf die aktuelle Situation ab, wie sich aus dem Abstellen auf den zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebenden Bedarf ergebe. Verkannt werde auch, dass ein Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch nicht zwingend sei, selbst wenn die reguläre Altersrente nicht den gesamten Bedarf decke, da Hilfebedürftigkeit beispielsweise durch Inanspruchnahme von Wohngeld vermieden werden könnte.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Darmstadt vom 2. November 2020 die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2020 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angegriffenen Beschluss und ihren Bescheid.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des elektronisch übermittelten Teils der zum Antragsteller geführten Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2020 zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen des insoweit maßgeblichen § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG liegen nicht vor. Allerdings geht der Senat von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache insbesondere mit Blick auf die Auslegung von § 6 UnbilligkeitsVO aus.

Der Senat nimmt – abgesehen von den Ausführungen zu § 6 UnbilligkeitsVO – zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst Bezug auf die ausführlichen und nach eigener Prüfung des Senats zutreffenden Erwägungen des Sozialgerichts (vgl. § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Weder die Beschwerdebegründung noch sonstige Umstände geben zu einer abweichenden Beurteilung Anlass. Ergänzend ist nur Folgendes auszuführen:

1. Das Beschwerdegericht hat über das erkennbare Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers zu entscheiden, ohne an den Wortlaut der von ihm gestellten Anträge gebunden zu sein (vgl. den Rechtsgedanken aus § 123 SGG). Es ist daher unschädlich, dass der Beschwerdeführer bei dem im Beschwerdeschriftsatz formulierten Antrag den Widerspruchsbescheid – wohl versehentlich – nicht erwähnt hat.

2. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere nach § 172 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 143, § 144 Abs. 1 ohne Weiteres statthaft, da das Verfahren keine Geld , Dienst oder Sachleistung betrifft. Auch im Übrigen ist die Beschwerde zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (vgl. § 173 SGG).

3. Bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung handelt es sich um einen (eingreifenden) Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), da der Antragsgegner auf diese Weise die allgemein bestehende Pflicht der Bezieher von Grundsicherungsleistungen zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistung im Rahmen des ihm insoweit zustehenden Ermessens konkretisiert (vgl. für viele BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, BSGE 119, 271, Rn. 12; Schwabe, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 12a SGB II – Stand: September 2020 – Rn. 13a). Dies wird nur zusätzlich bestätigt durch die Regelung in § 39 Nr. 2 SGB II, der zudem – in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG – kraft gesetzlicher Anordnung zum Wegfall der regelhaft in § 86a Abs. 1 SGG vorgesehenen aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage führt. Jedenfalls durch den Widerspruchsbescheid vom 26. August 2020, der für die gerichtliche Prüfung maßgeblich ist (§ 95 SGG), hat der Antragsgegner der im konkreten Fall streitigen Aufforderung auch der äußeren Form nach eine entsprechende Gestalt gegeben.

Das damit als Bescheid anzusehende Schreiben vom 7. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2020 hat sich zudem, obwohl die dem Antragsteller gesetzte Frist, um Altersrente zu beantragen, zwischenzeitlich abgelaufen ist, nicht erledigt. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung und der Ablauf der hierfür gesetzten Frist ist vielmehr Anknüpfungspunkt und tatbestandliche Voraussetzung für das in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II vorgesehene Selbsteintrittsrecht des Grundsicherungsträgers und daher weiterhin von Relevanz für das Rechtsverhältnis der Beteiligten.

Das Sozialgericht ist dementsprechend zu Recht davon ausgegangen, dass vorliegend ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG) statthaft ist; der Antragsteller hat sein Rechtsschutzbegehren entsprechend formuliert.

4. Das Sozialgericht ist aber ebenso zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine entsprechende Anordnung im konkreten Fall nicht vorliegen. Hinsichtlich des insoweit anzuwendenden Maßstabs nimmt der Senat zunächst auf die ausführlichen Ausführungen des Sozialgerichts Bezug.

a) Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind offen.
Als Konkretisierung des grundsätzlichen Nachrangs der Grundsicherungsleistungen, wie er für das Verhältnis zu anderen Möglichkeiten zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit allgemein insbesondere in § 3 Abs. 3 Halbs. 1 SGB II formuliert ist, sieht § 12a Satz 1 SGB II die Verpflichtung der Leistungsberechtigten vor, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Dies gilt auch und gerade für die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrenten, wie für Leistungsberechtigte, die – wie der Antragsteller – das 63. Lebensjahr vollendet haben, aus einem Umkehrschluss zu § 12 a Satz 2 Nr. 1 SGB II folgt. Dass es auch für Bezieher von Grundsicherungsleistungen, die diese Altersgrenze überschritten haben, unter Billigkeitsgesichtspunkten Ausnahmen von der Inanspruchnahmepflicht gibt, ergibt sich (nur) aus der Verordnungsermächtigung in § 13 Abs. 2 SGB II.

Die auf dieser Grundlage erlassene Unbilligkeitsverordnung regelt abschließend Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, auf Grund der damit einhergehenden Unbilligkeit unzumutbar wäre (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 12/20 R –, juris, Rn. 20). Der im Kern der hiesigen Auseinandersetzung stehende § 6 der Unbilligkeitsverordnung, der durch die Änderungsverordnung vom 4. Oktober 2016 (BGBl I S. 2210) mit Wirkung zum 1. Januar 2017 eingeführt wurde, sieht vor, dass die Inanspruchnahme unbillig ist, wenn der Leistungsberechtigte durch die vorgezogene Rentenantragstellung hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würde (§ 6 Satz 1 UnbilligkeitsVO); nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsVO ist eine entsprechende Unbilligkeit insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a SGB II) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (§ 6 Satz 2 UnbilligkeitsVO).

Der Senat geht mit dem Sozialgericht davon aus, dass der Wortlaut von § 6 Satz 1 UnbilligkeitsVO durch die Verwendung des Wortes "dadurch" deutlich dafür spricht, dass von einer Unbilligkeit nur auszugehen ist, wenn durch den Verzicht auf die vorzeitige Inanspruchnahme Hilfebedürftigkeit im Sinne des Vierten Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vermieden werden kann. Das erfordert die prognostische Beantwortung der Frage, ob der Betroffene gerade bei vorzeitiger Inanspruchnahme auf entsprechende Leistungen angewiesen sein wird, während dies durch den Verzicht auf eine Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme und die damit bewirkte Möglichkeit, die Rente abschlagfrei in Anspruch zu nehmen, verhindert werden könnte.

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es auch gewichtige Auslegungsgesichtspunkte gibt, die in eine andere Richtung weisen. So bringt namentlich die konkretisierende Regelung aus § 6 Satz 2 UnbilligkeitsVO das Kausalitätserfordernis jedenfalls nicht selbst zum Ausdruck und führt vor allem eine Berechnung ein, die in allen Fällen, in denen auch die abschlagsfreie Rente den Existenzbedarf nicht deckt, dennoch zur Annahme einer Unbilligkeit führen würde. Auch ist, wie bereits das Sozialgericht, aber vor allem der Antragsteller in der Beschwerdebegründung ausgeführt hat, die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung veröffentlichte Begründung zum Referentenentwurf der Änderungsverordnung vom 4. Oktober 2016 (vgl. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/unbilligkeitsaenderungsverordnung-begruendung.pdf;jsessionid=9C85C8177CE20D4FABF21588874D03B5.delivery1-replication? blob=publicationFile&v=1; abgerufen am 8. Dezember 2020) wenig eindeutig. Zu dieser hat allerdings das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 9. August 2018 – B 14 AS 1/18 R –, SozR 4-4200 § 12a Nr. 2, Rn. 22) überzeugend darauf hingewiesen, dass Ausführungen im Begründungsteil eines Referentenentwurfs, der keine amtliche Begründung der Unbilligkeitsverordnung darstellt, für die Auslegung der Verordnung keine maßgebliche Wirkung zukommen kann. Bei einem derartigen Referentenentwurf mit Begründung handelt es sich nicht um Gesetzesmaterialien im herkömmlichen Sinne, die den in den amtlichen Drucksachen der gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat veröffentlichten Dokumenten entsprechen, wobei selbst deren Status für die Gesetzesauslegung methodisch umstritten ist (im Sinne einer – im Vergleich zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – eher gesteigerten Bedeutung dieser Materialien für die Rechtsanwendung durch die Gerichte vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 u.a. –, BVerfGE 149, 126, Rn. 74 f.). Der Referentenentwurf gibt lediglich einen Zwischenstand der Vorbereitung des Verordnungserlasses im Ministerium wieder; seine Begründung wird dementsprechend nicht Gegenstand von in Drucksachen nachzuvollziehenden Beratungen der gesetzgebenden Körperschaften und vermag für die Rechtsanwendung damit nicht in gleicher Weise wie die amtlichen Gesetzesmaterialien Bedeutung zu erlangen.

Vor diesem Hintergrund kommt nach Auffassung der Senats der folgenden, an Sinn und Zweck des Regelungsgefüges aus § 12a, § 13 Abs. 2 SGB II und § 6 UnbilligkeitsVO orientierten Überlegung Gewicht zu: Danach spricht wenig dafür, von einer Unbilligkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente auszugehen, wenn der Antragsteller – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit – ohnehin auf die existenzsichernde Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen sein wird. Mit § 6 UnbilligkeitsVO erkennt der Gesetzgeber zwar ein Interesse der Betroffenen an, im Alter ihren Lebensunterhalt statt mit bedürftigkeitsabhängigen Leistungen durch Versicherungsleistungen zu bestreiten. Das ist insbesondere dann plausibel, wenn die Versicherungsleistungen (ohne die Kürzung auf Grund der vorzeitigen Inanspruchnahme) höher sind als die existenzsichernden Leistungen oder dem Betroffenen nach Renteneintritt sonstiges Einkommen – etwa aus einer Betriebsrente – oder Vermögen zur Verfügung stehen wird, das auf die Grundsicherungsleistungen, nicht aber auf die Versicherungsleistungen angerechnet wird. Ausreichen kann aber auch der mit der immer wieder zu wiederholenden Antragstellung wegen der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch verbundene Aufwand und die Notwendigkeit, umfassend Rechenschaft über Einkommen und Vermögen abzulegen, so dass eine Unbilligkeit auch dann nachvollziehbar ist, wenn die Rente (gegebenenfalls mit weiterem Einkommen und Vermögen) dem Existenzsicherungsbedarf (nur) mehr oder weniger entspricht. Muss der Betroffene aber aller Voraussicht nach ohnehin auch nach Renteneintritt bedürftigkeitsabhängige Leistungen in Anspruch nehmen, ist nicht ersichtlich, was unter Billigkeitsgesichtspunkten gegen eine vorzeitige Inanspruchnahme der Rente sprechen könnte, weil eine damit verbundene substantielle Verschlechterung der Lebenssituation dann gar nicht ersichtlich ist. Für den Gesetzgeber mögen weitere Gesichtspunkte wie etwa die Verteilung des Finanzierungsaufwandes zwischen den verschiedenen Leistungsträgern oder der mit einer vorzeitigen Inanspruchnahme verbundene Verwaltungsaufwand eine Rolle spielen; unter Billigkeitsgesichtspunkten – und nur auf solche stellt die Verordnungsermächtigung aus § 13 Abs. 2 SGB II ab – ist aber nicht zu sehen, dass die vorzeitige Inanspruchnahme eine gewichtige Rolle spielen könnte, wenn der Betroffene ohnehin auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch angewiesen sein wird.

Im Ergebnis sprechen daher gewichtige Gründe dafür, dass § 6 UnbilligkeitsVO in dem Sinne auszulegen ist, in dem ihn auch das Sozialgericht verstanden hat. Die Regelung aus § 2 Abs. 2 Halbs. 2 SGB I, auf die sich der Antragsteller beruft, kann nicht zu einer anderen Beurteilung führen: Aus dieser allgemeinen Einweisungsvorschrift ergibt sich keine Grundlage dafür, gesetzliche Beschränkungen eines Leistungsanspruchs, die sich aus den konkreten Regelung der einzelnen Sozialleistungsbereiche ergeben, zu überwinden. Umso mehr gilt dies für den in § 31 SGB I statuierten Gesetzesvorbehalt, da er die den Leistungsberechtigten zustehenden Rechte und Pflichten sowohl zu ihren Gunsten wie zu ihren Lasten einem Gesetzesvorbehalt unterwirft.

b) Im konkreten Fall ist vor diesem Hintergrund eine Unbilligkeit nicht zu erkennen: Der Antragsteller hat durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 8. Dezember 2020 auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass bei Renteneintritt kein weiteres Einkommen oder Vermögen zu erwarten sei. Angesichts der erheblichen Differenz zwischen der zu erwartenden Rente – auch ohne die mit der vorzeitigen Inanspruchnahme verbundenen Abschläge – und dem zur Existenzsicherung notwendigen Bedarf wird er aller Voraussicht nach in jedem Fall auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch angewiesen sein. Soweit er im Rahmen der Beschwerdebegründung eine davon unabhängige Möglichkeit der Existenzsicherung in den Raum gestellt und dabei konkret allein auf das Wohngeld verwiesen hat, ist dies angesichts des deutlichen Fehlbetrags, der sich zwischen der zu erwartenden Rente und dem Existenzsicherungsbedarf ergibt, bei weitem nicht ausreichend, um zu einer anderen Bewertung zu gelangen.

Auch sonst sind keine Gesichtspunkte erkennbar, die es überwiegend wahrscheinlich machten, dass der Aufforderungsbescheid rechtswidrig sein könnte, namentlich sind weder sonstige Unbilligkeitstatbestände erfüllt noch sonstige Fehler des Aufforderungsbescheides ersichtlich. Insoweit verweist der Senat wiederum auf die Ausführungen des Sozialgerichts.

c) Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken sieht der Senat nicht. Vielmehr geht er mit dem Bundessozialgericht (vgl. hierzu und zum Folgenden: BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, BSGE 119, 271, Rn. 45 ff.) davon aus, dass sowohl der Nachranggrundsatz als solcher als auch die den Grundsicherungsträgern eingeräumte Möglichkeit, die Leistungsbezieher trotz der damit verbundenen Abschläge zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente zu veranlassen, mit Verfassungsrecht im Einklang steht; das gilt sowohl im Allgemeinen als auch im konkreten Fall des Antragstellers.

Die Verfassungsmäßigkeit des Nachranggrundsatzes als Strukturprinzip des Existenzsicherungsrechts hat das Bundesverfassungsgericht jüngst in seiner Entscheidung zu Zulässigkeit und Grenzen von Leistungsminderungen nach §§ 31 ff. SGB II (erneut) ausdrücklich bejaht (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68, Rn. 123 ff.). Vor diesem Hintergrund sieht der Senat – jedenfalls für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – keinen Anlass zu weiteren Ausführungen zur prinzipiellen Rechtfertigung der Regelungen aus § 5 und § 12a SGB II.

Die Aufforderung des Leistungsberechtigten zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente (im Übrigen ebenso wie die anschließende Antragstellung durch den Leistungsträger anstelle des Leistungsberechtigten nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II) steht auch im Übrigen mit Verfassungsrecht in Einklang. Insbesondere folgt entgegen der Auffassung des Antragstellers aus den mit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente verbundenen dauerhaften Rentenabschlägen keine Verletzung von Art 14 Abs. 1 GG. Vielmehr ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie des Bundessozialgerichts geklärt, dass Rentenabschläge bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente mit Art 14 Abs. 1 GG vereinbar sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008 – 1 BvL 3/05 u.a. –, BVerfGE 122, 151; BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. Februar 2009 – 1 BvR 1631/04 –, BVerfGK 15, 59; BSG, Urteil vom 19. November 2009 – B 13 R 5/09 R –, SozR 4-2600 § 236 Nr. 1). Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung des Senats auch das Ergebnis aus der Kombination des – verfassungsrechtlich unbedenklichen – Nachranggrundsatzes mit den – verfassungsrechtlich ebenfalls unbedenklichen – Abschlägen bei der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente seinerseits ebenso verfassungsrechtlich unbedenklich, jedenfalls sofern der Gesetz- beziehungsweise Verordnungsgeber – wie durch § 13 Abs. 2 SGB II und die darauf beruhende Unbilligkeitsverordnung geschehen – Ausnahmen im Falle unbilliger Härten ermöglicht. Im Grundsatz aber begegnet die Obliegenheit zur Selbsthilfe auch dann keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der "vorgezogene" Einsatz anderer Mittel mit wirtschaftlichen Verlusten im Verhältnis zu einem "störungsfreien" Verlauf verbunden ist, wie das etwa bei dem Rückkauf einer Lebensversicherung oder der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente der Fall ist.

Soweit in der Rentenantragstellung durch den Leistungsträger anstelle des Leistungsberechtigten – die allerdings im hiesigen Verfahren (noch) gar nicht unmittelbar streitig ist, allerdings durch die Aufforderung vorbereitet wird – ein eigenständiger Eingriff in dessen Dispositionsfreiheit als Ausdruck seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG liegt, weil sich der Leistungsberechtigte gerade gegen die Inanspruchnahme der Rente entschieden hat, ist dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn die diese Ermächtigung des Leistungsträgers regelnden Vorschriften des Sozialgesetzbuches Zweites Buch dienen mit der Sicherung des Nachrangs existenzsichernder Leistungen einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck und sind geeignet, diesen Zweck zu erreichen, ohne dass ein gleich geeignetes, aber den Betroffenen weniger belastendes Mittel zur Sicherung des Nachrangs bei fehlender Mitwirkung des Leistungsberechtigten zur Verfügung steht. Der Senat folgt dem Bundessozialgericht auch darin, dass diese Heranziehung des Leistungsberechtigten zur Selbsthilfe gegen seinen Willen auch die Grenzen der Angemessenheit wahrt: Denn im Rahmen der hier vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Abwägung steht dem Existenzsicherungsanspruch des Einzelnen unter Wahrung seiner Dispositionsfreiheit zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente das Interesse der Allgemeinheit gegenüber, durch steuerfinanzierte Mittel nur dem Hilfebedürftigen zu helfen, der sich mangels zumutbarer Selbsthilfemöglichkeiten nicht zu helfen vermag und deshalb der Hilfe des Existenzsicherungsrechts bedarf (vgl. dazu neben BSG, Urteil vom 19. August 2015 B 14 AS 1/15 R –, BSGE 119, 271, Rn. 45 ff nochmals BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68, Rn. 123 ff.). Den Interessen des Leistungsberechtigten wird auch unter diesem Gesichtspunkt durch die Regelungen der Unbilligkeitsverordnung hinreichend Rechnung getragen. An der Vereinbarkeit der auf diese Weise faktisch erzwungenen Selbsthilfe mit Art. 2 Abs. 1 GG ändert sich schließlich nichts dadurch, dass der Bezieher einer vorzeitigen Altersrente durch sein Ausscheiden aus dem Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende von den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ausgeschlossen ist und die Betroffenen unter Umständen – und auch der Antragsteller im konkreten Fall – im Falle einer nicht bedarfsdeckenden Altersrente existenzsichernde Leistungen (nur) unter den Voraussetzungen des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch beanspruchen können: Die mit den § 12&8201;a, § 13 Abs. 2 SGB II und der Unbilligkeitsverordnung durch den Gesetz- und Verordnungsgeber geschaffene generalisierende Regelung, wonach die erwerbsbiographische Lebensphase bei einem auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch angewiesenen und daher typischerweise gar nicht mehr oder nur in geringem Umfang beschäftigten Arbeitnehmer nach Vollendung des 63. Lebensjahres insoweit abgeschlossen ist, dass er – abgesehen von den Fällen der Unbilligkeit (vgl. gerade für diesen Fall § 4 UnbilligkeitsVO) und sonstigen im Rahmen des Ermessens berücksichtigungsfähigen Ausnahmesituationen – auf eine (vorgezogene) Altersrente verwiesen werden kann, überschreitet nicht die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums.

Auch sonst sind durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken nicht ersichtlich.

d) Nach allem ist die Aufforderung zur Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig.

Gewichtige Argumente, die bei der danach gebotenen Interessenabwägung Anlass dafür geben könnten, dennoch die aufschiebende Wirkung anzuordnen, hat der Antragsteller für seinen konkreten Fall weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Bei seinen Ausführungen hierzu im Rahmen der Antragsbegründung, die letztlich nur auf die mit der Vollziehung des Aufforderungsbescheides und einer daran anknüpfenden Rentenantragstellung durch den Antragsgegner regelmäßig verbundenen Folgen abstellen, verkennt er das durch § 39 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG bewirkte Regel-Ausnahme-Verhältnis, auf das bereits das Sozialgericht hingewiesen hat: Bei offenen Aussichten in der Hauptsache müssten überwiegende sonstige Interessen für eine Aussetzung sprechen, um das vom Gesetzgeber für den Regelfall höher gewichtete Vollziehungsinteresse zurücktreten zu lassen. Das ist nicht erkennbar: Allein der Verweis des Antragstellers darauf, dass mit der Vollziehung in sein rentenrechtliches Dispositionsrecht und sein verfassungsrechtlich geschütztes Eigentumsrecht eingegriffen wird und er anschließend im Rentenantragsverfahren mitwirken müsse, reicht insoweit nicht aus, weil dies gerade der mit einem Aufforderungsbescheid wie dem hier streitigen verbundene Regelfall ist. Ausgehend von dem vom Sozialgericht zutreffend entwickelten Maßstab für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung kann die Beschwerde daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
Saved