L 7 AS 726/20 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 40 AS 1486/20 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 726/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Erstattung vorläufig erbrachter Leistungen nach abschließender Festsetzung
Verjährungsfrist

Nach bestandskräftiger abschließender Festsetzung des Leistungsanspruchs unterliegt der bestandskräftig festgesetzte Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB I in Verbindung mit § 50 Abs. 4 SGB X der vierjährigen Verjährung, sofern nicht innerhalb dieser Verjährungsfrist durch einen zusätzlichen - unanfechtbar gewordenen - Verwaltungsakt zur Durchsetzung des Erstattungsanspruchs nach § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X in Verbindung mit § 52 Abs. 2 SGB die Verjährungsfrist von 30 Jahren herbeigeführt worden ist.
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. August 2020 aufgehoben und der Antragsgegner verpflichtet, die Vollstreckung der Forderung aus dem Bescheid vom 3. Juni 2015 betreffend den Zeitraum von September 2011 bis einschließlich Februar 2012 vorläufig bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens einzustellen.

II. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, die Vollstreckung der bestandskräftigen Forderung aus dem Bescheid vom 03.06.2015 betreffend den Zeitraum von September 2011 bis einschließlich Februar 2012 i.H.v. 1.438,03 EUR vorläufig bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens einzustellen und er beruft sich hierbei auf die Verjährung der Forderung.

Der Antragsteller wurde 1970 in Z ..., Tunesien, geboren und ist tunesischer Staatsbürger. Er bezieht seit Mai 2011 vom Antragsgegner regelmäßig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Auf seinen Weiterbewilligungsantrag vom 01.09.2011 hin bewilligte ihm der Antragsgegner mit Bescheid vom 06.09.2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26.11.2011 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.09.2011 bis 29.02.2012. Die Bewilligung erfolgte im Hinblick auf sein schwankendes Einkommen aus seiner selbständigen Tätigkeit als Autohändler vorläufig.

Mit Bescheid vom 03.06.2015 stellte der Antragsgegner endgültig fest, dass dem Antragsteller für den vorgenannten Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zusteht und er forderte vom Antragsteller insoweit die Erstattung ausgereichter Zahlungen i.H.v. 1.525,38 EUR. Einen Rechtsbehelf gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller nicht ein.

Mit Schreiben vom 12.06.2020 teilte die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Y ..., Inkasso-Service, dem Antragsteller mit, dass sie vom Antragsgegner mit der Wahrnehmung des Forderungseinzugs beauftragt wurde. In dem Schreiben wurde der Antragsteller daran erinnert, Forderungen des Antragsgegners in Höhe von insgesamt 6.232,74 EUR seit der Fälligkeit am 06.07.2015 noch nicht beglichen zu haben und zur Zahlung bis spätestens zum 26.06.2020 aufgefordert. In der in das Schreiben eingebetteten "Forderungsaufstellung" ist u.a. aufgeführt ein "Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 03.06.2015" des Antragsgegners betreffend "Arbeitslosengeld II" sowie "KdU – Unterkunft/Heizung" für den Zeitraum vom 01.09.2011 bis 29.02.2012 mit insgesamt 1.525,38 EUR als Ursprungsbetrag sowie insgesamt 1.438,03 EUR als ausstehendem Restbetrag.

Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 15.07.2020 beantragte der Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Bescheid vom 03.06.2015 unter Hinweis darauf, dass die Forderung gemäß § 50 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) innerhalb von 4 Jahren verjährt sei, da § 50 Abs. 4 SGB X lex specialis zu § 52 SGB X sei.

Da der Antragsgegner diesem Antrag nicht entsprach, reichte der Antragsteller am 17.08.2020 beim Sozialgericht Chemnitz (SG) einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz dahingehend ein, den Antragsgegner zu verpflichten, die Vollstreckung der Forderung aus dem den Zeitraum 01.09.2011 bis 29.02.2012 betreffenden Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 vorläufig, längstens jedoch bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens, einzustellen. Zur Begründung führte der Antragsteller im Wesentlichen aus, dass die geltend gemachte Forderung aus dem Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 betreffend den vorgenannten Zeitraum augenscheinlich verjährt und damit nicht mehr durchsetzbar sei. Nach summarischer Prüfung und Abwägung der Interessen im konkreten Einzelfall überwiege das Interesse des Antragstellers auf Erlass der (vorläufigen) Regelungsanordnung das Interesse des Antragsgegners auf Beitreibung der Forderung. Der Antragsgegner trat dem Antrag entgegen und verwies darauf, den Antrag vom 15.07.2020 auf Einstellung der Vollstreckung an die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Y ..., Inkasso-Service, weitergeleitet zu haben, und beantragte deren Beiladung im Hinblick auf eventuell erfolgte Beitreibungsmaßnahmen ihrerseits. Außerdem trug der Antragsgegner vor dem SG im Wesentlichen vor, dass der Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 ein unanfechtbar gewordener zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassener Verwaltungsakt sei und damit die Verjährungsfrist gemäß § 52 Abs. 2 SGB X 30 Jahre betrage. Außerdem liege kein Hauptsacheverfahren vor.

Das SG hat den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 25.08.2020 zurückgewiesen, da es an einem Anordnungsanspruch fehle. Der Bescheid vom 03.06.2015 erfülle die Anforderungen des § 52 Abs. 1 SGB X mit der Folge, dass die 30-jährige Verjährungsfrist gemäß § 52 Abs. 2 SGB X in Lauf gesetzt worden sei, als der Bescheid vom 03.06.2015 unanfechtbar wurde. Soweit sich der Antragsteller auf die vierjährige Verjährungsfrist gemäß § 50 Abs. 4 SGB X sowie darauf berufe, dass § 50 Abs. 4 SGB X nach h.M. lex specialis zu § 52 Abs. 2 SGB X sei, verkenne er, dass der Bescheid vom 03.06.2015 kein Bescheid gewesen sei, der gemäß § 50 Abs. 3 SGB X die nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstattende Leistung festsetzte. Mit dem Bescheid vom 03.06.2015 sei vielmehr gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II (a.F.) in Verbindung mit § 328 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) die Erstattung von vorläufig zu viel gewährten und ausgezahlten Leistungen (bei endgültiger Festsetzung) verfügt worden. Auf einen mit bestandskräftigem Erstattungsbescheid gemäß § 328 Abs. 3 SGB III (in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a.F.) festgesetzten Erstattungsanspruch finde § 50 Abs. 4 SGB X keine Anwendung. Das Gericht, so das SG weiter, verkenne nicht, dass nach h.M. § 50 Abs. 4 SGB X auf Erstattungsansprüche nach § 328 Abs. 3 SGB III analog anzuwenden sei; ebenso wie für Erstattungsansprüche nach § 42 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) würde der Fristbeginn dabei aber an die Unanfechtbarkeit des Bescheides geknüpft, mit welchem die Leistungen endgültig festgesetzt werden. Damit bleibe es – anders als für Erstattungsbescheide im Sinne von § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X, für welche es eben § 50 Abs. 4 als lex specialis gebe – für Bescheide, die Erstattungsansprüche nach § 328 Abs. 3 SGB III oder § 42 Abs. 2 SGB I feststellen dabei, dass diese (nur) Bescheide im Sinne von § 52 SGB X seien.

Am 31.08.2020 hat der Antragsteller gegen den ihm am 25.08.2020 zugestellten Beschluss des SG vom 25.08.2020 beim SG Beschwerde eingelegt. Ergänzend zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen trägt er im Wesentlichen vor, dass eine analoge Anwendung des § 50 Abs. 4 SGB X auf § 328 Abs. 3 SGB III sachgerecht sei. Andernfalls würde dies zu einem nicht hinnehmbaren Ergebnis führen. Denn Erstattungsforderungen aus der endgültigen Festsetzung zuvor vorläufig bewilligter Leistungen beruhten auf keinem Verschulden. Erstattungsforderungen aus § 50 SGB X beruhten demgegenüber u.a. auf Aufhebungen und Rücknahmen (§§ 45 und 48 SGB X), die zum Teil ein Verschulden des Leistungsempfängers zum Gegenstand hätten. Es sei nicht ersichtlich und begründbar, dass die Verjährung einer Forderung aus dem Bescheiden nach den § 45 und 48 SGB X einer Verjährung von 4 Jahren unterfallen soll, beruhend u.U. auf Verschulden, jedoch Erstattungsforderungen aus § 328 Abs. 3 SGB Ill, die per se auf keinem Verschulden beruhten, nach 30 Jahren verjähren sollen. Dies würde zu einem paradoxen Ergebnis führen.

Der Antragsteller beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 25.08.2020 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, die Vollstreckung der Forderung aus dem Bescheid vom 03.06.2015 betreffend den Zeitraum von September 2011 bis einschließlich Februar 2012 vorläufig bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens einzustellen.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Zur Begründung verweist er im Wesentlichen darauf, dass er vollumfänglich die Auffassung des SG in dem strittigen Beschluss teile. Der Bescheid vom 03.06.2015 sei rechtskräftig und damit vollstreckbar. Die Forderung unterliege einer 30-jährigen Verjährungsfrist, weshalb von weiteren Beitreibungsmaßnahmen nicht abzusehen sei. Zudem sei kein Hauptsacheverfahren anhängig.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Leistungsakte (nebst Ausdruck der E-Akte) des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig und begründet, weshalb ihr antragsgemäß stattzugeben war.

a) Die Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes angesichts der Erstattungsforderung i.H.v. 1.438,03 EUR den Betrag von 750,00 EUR übersteigt. Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgemäß gemäß § 173 SGG eingelegt worden.

b) Die Beschwerde ist begründet, weil der Senat die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung i.S.d. § 86b Abs. 2 SGG, entgegen der Auffassung des SG, als gegeben ansieht.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der geltend gemachte materielle Rechtsanspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb die Anordnung so dringlich ist, dass dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache gesichert oder geregelt werden muss (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen (z.B. durch Urkunden oder eine Versicherung an Eides Statt). Erforderlich ist hiernach, dass die Tatsachen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, 2020, § 86b Rn. 41). Die bloße Darlegung durch den Antragsteller reicht nicht aus (vgl. Wahrendorf in Beck-Online, SGG, Großkommentar, Stand: 01.09.2019, § 86b Rn. 205). Außerdem kann das Gericht dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur im Hauptsacheverfahren erreichen kann (vgl. Sächsisches LSG vom 19.12.2016 – L 7 AS 1001/16 B ER, juris, Rn. 20).

aa) Der vom Antragsteller auf vorläufige, bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens, Einstellung der Vollstreckung der Forderung i.H.v. 1.438,03 EUR aus dem Bescheid vom 03.06.2015 betreffend den Zeitraum von September 2011 bis einschließlich Februar 2012 gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG ist zulässig.

(1) Er ist insbesondere statthaft. Denn der Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG ist immer dann statthaft, wenn kein Fall nach § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, also bei allen Klagearten im Hauptsacheverfahren mit Ausnahme der reinen Anfechtungsklage (vgl. Jüttner/Wehrhahn in Fichte/Jüttner, SGG, Kommentar, 3. Auflage, 2020, § 86b SGG, Rn. 37; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, 2020, § 86b, Rn. 24 und 26). Vorliegend ist in der Hauptsache eine andere Klageart als die Anfechtungsklage gegeben. Denn für den Antragsteller ist eine Feststellungklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG dahingehend möglich, dass die aus dem bestandskräftigen endgültigen Festsetzungs- und Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 geltend gemachten Forderung verjährt ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 09.02.1995 – 7 RAr 78/93, juris, Rn. 26; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.06.2020 – L 8 AL 3185/19, juris, Rn. 28; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.09.2018 – L 1 AL 88/17, juris, Rn. 20; Geiger in info also 2019, S. 201 f.). Diese braucht – was hier der Fall ist – noch nicht anhängig zu sein (§ 86b Abs. 3 SGG). Grundsätzlich ist vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) auch Raum dafür, gegen für unberechtigt gehaltene Forderungsbeitreibungen aus bestandskräftigen Bescheiden vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 38/14 R, juris, Rn. 25; Bayerisches LSG, Beschluss vom 29.04.2014 - L 7 AS 260/14 B ER, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.12.2018, L 34 AS 2224/18 B ER, juris).

(2) Der Antragsteller hat auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für sein Begehren. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht zunächst i.d.R. nur, wenn sich der Antragsteller zuvor an die Verwaltung gewandt, dort einen Antrag auf die Leistung gestellt und die normale Bearbeitungszeit abgewartet hatte (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, 2020, § 86b, Rn. 26b m.w.N.). Dies ist vorliegend gegeben. Denn der Antragsteller hat sich vorgerichtlich bereits vergeblich mit Schreiben vom 15.07.2020 mit knapper aber vorliegend vor dem Hintergrund der Eilbedürftigkeit noch angemessener Bearbeitungsfrist (bis zum 23.07.2020) an die Verwaltung mit seinem Begehren gewandt, dass Zwangsvollstreckungsverfahren betreffend die Forderung aus dem Bescheid vom 03.06.2015 im Hinblick auf die geltend gemachte Verjährung einzustellen, bevor er am 17.08.2020 beim SG seinen Eilantrag stellte.

bb) Der Antrag des Antragstellers auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Denn der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs eine Wechselbeziehung in dem Sinne, dass je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, umso geringer sind die Anforderungen an den Anforderungsgrund und umgekehrt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.07.2019 – L 7 SO 2356/19 ER-B, juris, Rn. 9; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, 2020, § 86b Rn. 27 jew.m.w.N.). Entscheidend ist, ob es bei Interessenabwägung nach den Umständen des Einzelfalls für den Betroffenen zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, 2020, § 86b Rn. 28).

(1) Der Senat sieht es nach summarischer Prüfung – entgegen der Auffassung des SG – als überwiegend wahrscheinlich an, dass das Gericht in einem Hauptsacheverfahren eine Verjährung der Forderung i.H.v. 1.438,03 EUR aus dem Bescheid vom 03.06.2015 betreffend den Zeitraum von September 2011 bis einschließlich Februar 2012 feststellen wird (sog. Anordnungsanspruch).

Auf seinen Weiterbewilligungsantrag vom 01.09.2011 hin bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 06.09.2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26.11.2011 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.09.2011 bis zum 29.02.2012. Die Bewilligung erfolgte im Hinblick auf sein schwankendes Einkommen aus seiner selbständigen Tätigkeit als Autohändler gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II (in der Fassung vom 13.05.2011) i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III (in der Fassung vom 24.04.2006) vorläufig. Mit Bescheid vom 03.06.2015 stellte der Antragsgegner endgültig fest, dass dem Antragsteller für den vorgenannten Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zusteht und er forderte vom Antragsteller insoweit gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II (in der Fassung vom 13.05.2011) i.V.m. § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III die Erstattung ausgereichter Zahlungen i.H.v. 1.525,38 EUR. Einen Rechtsbehelf gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller nicht ein, so dass er für die Beteiligten in der Sache bindend, also bestandskräftig, wurde (§ 77 SGG).

Wird mit der abschließenden Entscheidung eine Leistung nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt, ist sie nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III zu erstatten. Die Vorschrift entspricht der von der Interessenlage her vergleichbaren Erstattungsregelung zum Vorschuss in § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB I und ist gegenüber § 50 SGB X lex specialis (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.09.2016 – L 11 AS 1004/14, juris, Rn. 22; Düe in Brand, SGB III, Kommentar, 8. Auflage, 2018, § 328 Rn. 27; Winkler in LPK-SGB III, 3. Auflage, 2019, § 328 Rn. 30). Der Erstattungsanspruch verjährt sodann in entsprechender Anwendung der Reglung in § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB I i.V.m. § 50 Abs. 4 SGB X in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der endgültige Festsetzungsbescheid unanfechtbar geworden ist (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 06.06.2019 – L 4 AS 272/17, juris, Rn. 49; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.09.2016 – L 11 AS 1004/14, juris, Rn. 22; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.04.2017 – L 2 AS 1921/16, juris, Rn. 51; LSG Thüringen, Urteil vom 22.03.2018 – L 9 AS 323/16, juris, Rn. 44; Schaumberg in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Auflage, Stand: 21.01.2019, § 328 Rn. 129; Kallert in Gagel, SGB III, Kommentar, Stand 09/2020, 79. EL, § 328 Rn. 90; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB, Kommentar, Stand 08/2018, § 328 SGB III, Rn. 310; Düe in Brand, SGB III, Kommentar, 8. Auflage, 2018, § 328 Rn. 27; Winkler in LPK-SGB III, 3. Auflage, 2019, § 328 Rn. 30). Für § 328 SGB III kann hinsichtlich der Verjährung des festgesetzten Erstattungsanspruchs wegen der vergleichbaren Interessenlage auch ohne ausdrückliche Regelung sinnvollerweise nichts anderes gelten als für § 42 SGB I (vgl. Schmidt-De Caluwe in NomosKommentar, SGB III, 6. Auflage, 2017, § 328 Rn. 56; a.A. wohl LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.07.2020 – L 14 AS 553/20 B ER, juris, Rn. 23 und Beschluss vom 02.09.2020 – L 29 AS 998/20 B ER, juris, Rn. 20 sowie Geiger in info also, 2019, S. 202), zumal die vierjährige Verjährungsfrist damit auch der allgemeinen Verjährungsfrist betreffend Ansprüche auf Sozialleistungen nach § 45 Abs. 1 SGB I entspricht (vgl. Schütze in Schütze, SGB X, Kommentar, 9. Auflage, 2020, § 50 Rn. 33 und Engelmann in Schütze, SGB X, a.a.O., § 51 Rn. 5 f.) und das BSG in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass die in § 45 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient (vgl. BSG, Urteil vom 31.05.2016 – B 1 AS 1/16 KL, juris, Rn. 15 m.w.N.).

Der Senat folgt nicht der Auffassung des Antragsgegners, dass die Verjährung der Erstattungsforderung vorliegend gemäß § 52 Abs. 2 SGB X erst nach 30 Jahren eintritt. Zwar heißt es in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X, dass § 52 SGB X unberührt bleibt, und wird in dieser Vorschrift bestimmt, dass die Verjährungsfrist 30 Jahre beträgt, wenn ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, unanfechtbar geworden ist. Einen entsprechenden Verwaltungsakt haben zur Überzeugung des Senats nach summarischer Prüfung jedoch weder der Antragsgegner noch die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Y ..., Inkasso-Service, erlassen. Nur Verwaltungsakte, die entweder zugleich mit der Festsetzung des Erstattungsanspruchs oder aber innerhalb der 4-Jahres-Frist zur Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs ergehen, setzen nach § 52 Abs. 2 SGB X eine Verjährungsfrist von 30 Jahren – gerechnet ab Rechtskraft des Durchsetzungsbescheides – in Gang. Andernfalls bliebe die Regelung in § 50 Abs. 4 SGB X ohne jeden Anwendungsbereich. Dass dies auf einem Redaktionsversehen beruhen könnte, ist zur Überzeugung des Senats auszuschließen. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber den Behörden über die Regelung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X gerade auch für Erstattungsansprüche nach § 50 SGB X die Möglichkeit eingeräumt, sich selbständig zu einer längeren Verjährungsfrist zu verhelfen, indem sie einen die Verjährung hemmenden Verwaltungsakt im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X erlassen (ebenso im Ergebnis etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.12.2018 – L 34 AS 2224/18 B ER, juris, Rn. 17; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.06.2020 – L 8 AL 3185/19, juris, Rn. 32; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.09.2018 – L 1 AL 88/17, juris, Rn. 21; Merten in Hauck/Noftz, SGB, Kommentar, Stand 08/2016, § 50 SGB X, Rn. 95; Schütze in Schütze, SGB X, Kommentar, 9. Auflage, 2020, § 50 Rn. 34; Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Auflage, Stand: 14.04.2020, § 42 Rn. 65).

Diese Möglichkeit wurde vorliegend jedoch – soweit nach summarischer Prüfung ersichtlich – nicht genutzt. Es ist weder zugleich mit dem endgültigen Festsetzungs- und Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 noch innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist ein auf die Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs gerichteter weiterer Verwaltungsakt ergangen. Die Formulierung im Bescheid vom 03.06.2015 auf Seite 3: "Wenn Zahlungsverpflichtungen trotz Mahnung nicht eingehalten werden, lässt sich die Zwangsvollstreckung der gesamten Forderung nicht vermeiden. Damit würden auch ggf. eingeräumte Zahlungserleichterungen als widerrufen gelten. Wenden Sie sich deshalb unter Darlegung der Hinderungsgründe unverzüglich an den Inkasso-Service, wenn eine fällige Zahlung nicht geleistet werden kann. Im Falle eines Wohnortwechsels teilen Sie bitte dem Inkasso-Service neue Anschrift mit.", erachtet der Senat nicht als hinreichend, um von einem gesonderten Verwaltungsakt zu sprechen, der i.S.d. § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X zur Durchsetzung des Erstattungsanspruchs erlassen wurde. Insoweit handelt es sich – ohne eigenen Regelungsgehalt – im Wesentlichen lediglich um einen ergänzenden Hinweis des Antragsgegners an den Erstattungspflichtigen zur empfohlenen Vorgehensweise für den Fall, dass eine fällige Zahlung nicht geleistet werden kann, um einer ggf. folgenden Zwangsvollstreckung der gesamten Forderung zu entgehen. Nicht ausreichend, da ohne Verwaltungsaktqualität in Bezug auf die Hauptforderung, sind auch Mahnungen und Zahlungserinnerungen (vgl. Engelmann in Schütze, SGB X, Kommentar, 9. Auflage, 2020, § 52 Rn. 26; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.06.2020 – L 8 AL 3185/19, juris, Rn. 35 f.).

Demnach ist der Erstattungsanspruch des Antragsgegners aus dem nicht angegriffenen endgültigen Festsetzungs- und Erstattungsbescheid vom 03.06.2015 mit Ablauf des Jahres 2019 verjährt. Die vom Antragsteller mit Schreiben vom 15.07.2020 erhobene Einrede der Verjährung führt nach § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X i.V.m. § 214 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu einem Leistungsverweigerungsrecht des Antragstellers und gemäß § 40 Abs. 8 SGB II i.V.m. § 5 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG) i.V.m. § 258 Abgabenordnung (AO) zur Unbilligkeit der Vollstreckung, welche der Antragsteller – da das Einziehungsverfahren, wie sich aus der Zahlungserinnerung vom 12.06.2020 ergibt, vom Antragsgegner offenbar gemäß § 44b Abs. 4 Satz 1 SGB II auf die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Y ..., Inkasso-Service, übertragen wurde – jedenfalls über den Rechtsgedanken des § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I auch beim Antragsgegner anbringen kann (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 38/14 R, juris, Rn. 21; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.12.2018, L 34 AS 2224/18 B ER, juris, Rn. 15, 20 f.).

Eine Beiladung der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Y ..., Inkasso-Service, gemäß § 75 SGG hielt der Senat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, in dem nur eine summarische Prüfung erfolgt, nicht für geboten, zumal dies vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren nicht angeregt wurde und dieser die Möglichkeit gehabt hätte, infolge eigener Ermittlungen konkret vorzutragen und nachzuweisen, welcher gesonderte Verwaltungsakt zur Durchsetzung des Erstattungsanspruchs i.S.d. § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X und damit zur Herbeiführung der 30-jährigen Verjährungsfrist erlassen worden sein soll.

(2) In Anbetracht der erheblichen rechtlichen Bedenken bzgl. der Fortsetzung der Forderungsbeitreibung gegenüber dem Antragsteller im Hinblick auf die Verjährung der Forderung aus dem Bescheid vom 03.06.2015 ist es diesem nicht zuzumuten, ihn auf ein Hauptsacheverfahren zu verweisen. Der Antragsteller bezieht Leistungen nach dem SGB II, sodass für ihn eine Vollstreckung, auch wenn sie nur in geringem Umgang anfiele, eine Härte bedeuten würde (sog. Anordnungsgrund). Umgekehrt ist auf Seiten des Antragsgegners kein Eilbedürfnis erkennbar. Sollten seine Ansprüche – wozu der Senat nach der bisherigen Sachlage neigt – bereits verjährt sein, kann ihm kein zu billigendes Interesse an einer Vollstreckung derselben zustehen. Sollte hingegen keine Verjährung eingetreten sein, weil tatsächlich eine Verjährungsfrist von 30 Jahre gilt, dann verbleibt dem Antragsgegner ausreichend Zeit zur Vollstreckung (vgl. insoweit auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.12.2018 – L 34 AS 2224/18 B ER, juris, Rn. 18).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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