L 21 R 322/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 23 R 714/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 R 322/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 1.4.2020 aufgehoben und festgestellt, dass der Rechtsstreit S 23 R 93/19 nicht durch Klagerücknahme beendet ist. Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Fortsetzung des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Münster unter dem Aktenzeichen S 23 R 714/19 (ursprünglich: S 23 R 93/19).

Der Kläger wandte sich mit seiner ursprünglichen Klage (SG Münster, S 23 R 93/19) gegen eine Ablehnung der Gewährung der von ihm am 23.11.2017 beantragten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Gegen die Ablehnung seines Antrags mit Bescheid vom 8.2.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.1.2019 erhob der Kläger am 6.2.2019 bei dem Sozialgericht Münster durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage. Mit gerichtlicher Verfügung vom 7.2.2019 forderte das Gericht den Kläger zur Klagebegründung und zur Übersendung des ausgefüllten Fragebogens zur Person sowie der Schweigepflichtsentbindungserklärung auf. Am 19.2.2019 gingen bei dem Gericht die Verwaltungsakten der Beklagten ein. In der Verwaltungsakte befindet sich eine testpsychologische Untersuchung, in welcher Hinweise auf Defizite bei der Teilung der Aufmerksamkeit und auf eine Reaktionsverlangsamung gegeben werden. Die selektive Aufmerksamkeit sei beeinträchtigt. Die Ergebnisse würden auf eine Lern- und Konsolidierungssstörung hindeuten. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses des Klägers sei verringert. Der psychiatrische Gutachter im Verwaltungsverfahren beschrieb eine Anpassungsstörung mit allenfalls leichtgradiger ängstlich-depressiver Ausgestaltung. In der Anamnese heißt es, der Kläger sei viel im Internet unterwegs, das Internet sei sein Fenster zur Welt. Kontakt bestehe eigentlich nur zu den Geschwistern, zwei würden - nach Einschätzung des Klägers - "ganz weit weg wohnen", nämlich über 10 km. Er sei den ganzen Tag überwiegend zu Hause.

Das Sozialgericht erinnerte am 16.4.2019 und 14.5.2019 an seine o.g. Aufforderung. Mit Schreiben vom 22.5.2019 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, dass der Kläger auch nach mehrmaliger Erinnerung an die Rücksendung der Unterlagen keine Reaktion gezeigt habe. Auch diverse Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, seien gescheitert. Eine Klagebegründung solle daher ohne Rücksprache mit dem Kläger erfolgen.

Die angekündigte Klagebegründung ging am 31.5.2019 bei dem Sozialgericht ein. Dort heißt es im Rahmen des Vortrags zum medizinischen Sachverhalt durch den Bevollmächtigten: "Der Kläger ist für mich nicht erreichbar, trotz mehrfacher Versuche, welches ich dem Gericht bereits schilderte. Er scheint sich in seiner Wohnung ‚einzuigeln‘ und den Kontakt zur Außenwelt nur über das Internet zu wahren." Nach Hinweis auf die rechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung führte der Bevollmächtigte aus: "Der Kläger ist in diesem Sinne vielschichtig beeinträchtigt. Dies ergibt sich aus den oben zitierten Diagnosen in der Verwaltungsakte. Die orthopädischen Erkrankungen wirken hier zusammen mit den Erkrankungen auf dem Gebiet der inneren Medizin und den psychiatrischen Erkrankungen. Dabei kommen die Herzerkrankung und die psychiatrischen Erkrankungen bei der Beurteilung der Beklagten zu kurz. Es reicht nicht, sich darauf zu beziehen, dass der Kläger nicht in fachärztlicher Behandlung ist. Diese scheint er bewusst zu meiden. Sowohl die Art des Kontakts als auch der Inhalt der Schreiben des Klägers im Verfahren lassen auf eine psychische Erkrankung schließen. Bestätigt wird dies durch seine Kontaktmeidung auch mir gegenüber. Genauso unterstellt die Beklagte hier Wegefähigkeit, ohne dies einmal getestet zu haben. Aufgrund der Herzerkrankung, der Gelenkbeschwerden, der anhaltenden Schmerzen und der Adipositas per magna bezweifle ich diese."

Am 4.6.2019 verfügte die Vorsitzende eine Aufforderung, das Verfahren innerhalb von drei Monaten nach Zustellung durch Übersendung des Fragebogens zur Person und der Schweigepflichtsentbindungserklärung zu betreiben. Da das Gericht mehrfach erfolglos dazu aufgefordert habe, den Fragebogen und die Schweigepflichtsentbindungserklärung zu übersenden, werde davon ausgegangen, dass kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits bestehe. Weiter heißt es: "Die Übersendung des ausgefüllten Fragebogens und der unterzeichneten Schweigepflichtsentbindungserklärung ist unerlässliche Voraussetzung für die Ermittlungen im Rahmen dieses Verfahrens. Ausweislich Ihres Schriftsatzes vom 31.5.2019 sei der Kläger für Sie nicht erreichbar ( ). Angesichts dessen erscheint kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits zu bestehen." Darüber hinaus enthält dieses von der Vorsitzenden mit vollen Namen unterschriebene Schreiben den Hinweis, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gilt, falls dieser Aufforderung nicht fristgerecht binnen drei Monaten ab Zustellung nachgekommen werde. Zugang war am 27.6.2019. An diesem Tag teilte der Bevollmächtigte per Fax mit, er könne sich nicht vorstellen, dass der Kläger kein Interesse an einem Verfahren habe. Dieser sei offensichtlich krank. Ende Juli / Anfang August 2019 regte der Bevollmächtigte bei dem zuständigen Amtsgericht eine Betreuung an und erhielt von dort die Auskunft, dass noch auf die Rückmeldung der zuständigen Betreuungsbehörde gewartet werde. Dies übersandte er dem Sozialgericht.

Am 2.10.2019 hat das Sozialgericht die Klage ausgetragen und den Beteiligten mitgeteilt, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte.

Am 11.10.2019 hat der Klägerbevollmächtigte bei dem Sozialgericht Münster die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Er führte zur Begründung aus, die Rücknahmefiktion des § 102 SGG diene der Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens. Eine Mitwirkung dürfe jedoch nur verlangt werden, soweit ein Kläger zu dieser Mitwirkung fähig sei. Diese Fähigkeit besitze der Kläger nicht. Das Sozialgericht hat daraufhin die vormalige Klage S 23 R 93/19 neu eingetragen und das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 23 R 714/19 geführt.

Am 3.12.2019 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, dass es dem Kläger besser gehen würde und dieser sich mit ihm telefonisch in Verbindung gesetzt hätte. Er übersende ein Attest des Allgemeinmediziners Dr. M vom 3.12.2019, ausweislich dessen der Kläger derzeit an einer schwerwiegenden Depression mit Denk- und Konzentrationsstörungen leide. Es folgte die Übersendung weiterer medizinischer Unterlagen, u.a. eines weiteren Attestes des Allgemeinmediziners Dr. M. Danach leidet der Kläger an chronischen hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen mit Gedächtnisstörung, Konzentrationsstörung, Denkstörung, vorzeitiger Ermüdbarkeit, Antriebs- und Motivationsmangel; am 5.12.2019 übersandte der Klägerbevollmächtigte den Fragebogen und die Schweigepflichtsentbindungserklärung.

Das Sozialgericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 13.12.2019 zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Mit Gerichtsbescheid vom 1.4.2020 hat das Sozialgericht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Die Voraussetzung einer fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG lägen vor. Der Kläger habe trotz mehrfacher Aufforderung des Gerichtes, eine Schweigepflichtentbindungserklärung vorzulegen und den Fragebogen auszufüllen, diese Unterlagen nicht übersandt. Dies wäre aber notwendig gewesen, damit das Gericht die erforderlichen (medizinischen) Ermittlungen hätte vornehmen können, um in dem Verfahren zu einer - so wörtlich - "sachgerechten" Entscheidung zu gelangen. Insofern sei im maßgeblichen Zeitpunkt der Betreibensaufforderung vom Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers auszugehen. Durch die Erklärung des Prozessbevollmächtigten sei ein Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses dem Gericht gegenüber nicht hinreichend dokumentiert. Die von ihm selbst aufgezeigten erfolglosen Erinnerungen an den Kläger betreffend die Rücksendung der Unterlagen sowie die von ihm selbst erwähnten vergeblichen Versuche der Kontaktaufnahme würden vielmehr für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses sprechen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts reiche es nicht aus, wenn ein Kläger seiner Ankündigung, sich weiter äußern zu wollen, keine Taten folgen lasse. Im vorliegenden Fall - so das Sozialgericht - sei insoweit bereits zu berücksichtigen, dass der Kläger sich noch nicht einmal geäußert habe.

Gegen den dem Bevollmächtigten des Klägers am 16.4.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat er am selben Tag bei dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Berufung eingelegt.

Er weist darauf hin, dass bei dem Kläger in dem von ihm übersandten Attest vom 9.4.2019 eine hirnorganische Erkrankung bescheinigt worden sei, welche unter anderem auch zu Antriebsmangel führe. Das Sozialgericht hätte daher in Rechnung stellen müssen, dass die Nichtrücksendung der Auskunft auf die Krankheit zurückgehe. Dem Kläger gehe es seit Ende des Jahres 2019 etwas besser und die Mitwirkungspflichten seien nachgeholt worden. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG sei keine Sanktion für prozessuales Fehlverhalten. Bereits bei Erlass der Betreibensaufforderung hätten keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass dem Kläger nicht mehr an einer Sachentscheidung gelegen war. Er selbst sei ununterbrochen bevollmächtigt gewesen und habe das Verfahren fortgeführt. Ein Nichtbetreiben im Sinne des § 102 Abs. 2 SGG habe daher nicht vorgelegen.

Die Beklagte verweist auf die Ausführungen in dem angefochtenen Gerichtsbescheid.

Mit Schriftsätzen vom 15.8.2020 bzw. 28.8.2020 haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.

1) Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 15.8.2020 bzw. 28.8.2020 ihr Einverständnis dazu gegeben haben.

2) Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§§ 144, 151 SGG).

Gegen die Feststellung des SG, dass die Klage zurückgenommen ist, ist das Rechtsmittel statthaft, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre. Der Berufungsstreitwert des § 144 Abs. 1 SGG, der auch bei Verfahren über die Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme maßgeblich ist (BSG, 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - Rn. 12) ist erreicht. Denn hier sind Leistungen für mehr als ein Jahr streitig (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG); darüber hinaus übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR.

3) Die Berufung ist auch begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass das Klageverfahren S 23 R 93/19 am 2.10.2019 aufgrund fiktiver Rücknahmeerklärung des Klägers beendet worden ist. Denn die Voraussetzungen für den Eintritt einer Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG liegen nicht vor.

Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, wobei nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGG die Regelung des § 102 Abs. 1 SGG entsprechend gilt. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Die Vorschrift des § 102 SGG ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Fiktion der Klagerücknahme führt zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Beteiligter ein von ihm eingeleitetes Verfahren auch durchführen will (BSG, 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R -, Rn. 42 m.w.N.).

Diese rechtlichen Maßgaben hat das Sozialgericht nicht beachtet.

Es ist schon sehr zweifelhaft, ob die Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG erfüllt sind (dazu a). In keinem Fall durfte das Sozialgericht aber aufgrund der Umstände annehmen, dass der Kläger das Interesse an der Fortführung des Rechtsstreites verloren hätte (dazu b).

a) Die Klagerücknahmefiktion kann einen Rechtsstreit nur beenden, wenn zuvor dem Kläger vom Gericht eine wirksame Betreibensaufforderung zugegangen ist (BSG, 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R -, Rn. 24). Die Betreibensaufforderung muss formgerecht ergehen (dazu aa) und zulässig sein (dazu bb).

aa) Eine Betreibensaufforderung muss nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R -, Rn. 49) vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden sein; ein den Namen abkürzendes Handzeichen (Paraphe) genügt als Unterschrift nicht (BSG, 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R -, Rn. 24 m.w.N.). Der Adressat der Aufforderung ist in dieser auf die Rechtsfolgen, die gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG und gegebenenfalls gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO eintreten können, hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG). Schließlich ist die Betreibensaufforderung dem Kläger (oder ggf. seinem Bevollmächtigten) zuzustellen. Die insoweit gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift muss den Umstand, dass die Betreibensaufforderung vom zuständigen Richter verfügt und unterschrieben wurde, erkennen lassen, d.h. durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters ausweisen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

bb) Es bestehen allerdings schon erhebliche Zweifel, ob eine Betreibensaufforderung überhaupt zulässig war. Zum Zeitpunkt einer Betreibensaufforderung müssen sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Es müssen "konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass den Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist" (BVerfG, 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 -, Rn. 19). Dabei können sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses im Einzelfall auch gegeben sein, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungsobliegenheiten, die auch erst durch eine gerichtliche Anfrage entstehen können (BSG, 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R -, m.w.N.), verletzt. Für die Zulässigkeit einer Betreibensaufforderung genügt aber nicht jegliche Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten, vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die z.B. für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG, 1.7.2010 - B 13 R 74/09 R -, Rn. 52 m.w.N.). Das Bundessozialgericht schränkt dies aber ein. Es weist in der genannten Entscheidung darauf hin, dass eine Betreibensaufforderung nur ergehen darf, wenn diese erforderlich ist, um in der Sache zu entscheiden und weniger einschneidende prozessuale Mittel nicht zur Verfügung stehen (a.a.O., Rn. 53).

Der Klägerbevollmächtigte hat auf die Aufforderung, die Schweigepflichtsentbindungserklärung zu übersenden, reagiert und ausgeführt, warum dies nicht möglich bzw. schwierig ist. Es ist nicht im Ansatz erkennbar, dass das Sozialgericht andere Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung auch nur erwogen hat; stattdessen hat es trotz des Hinweises des Bevollmächtigten seine erfolglos gebliebene Aufforderung wiederholt und auf § 102 Abs. 2 SGG hingewiesen. Dem Senat erschließt sich überdies nicht, warum der Rechtsstreit ohne Angabe der behandelnden Ärzte und ohne deren Auskunft aus Sicht des Sozialgerichts offenbar nicht entscheidungsreif war. Der Kläger ist hinsichtlich der Voraussetzungen der Erwerbsminderungsrente, insbesondere eines eingeschränkten oder aufgehobenen Leistungsvermögens, materiell beweisbelastet; er trägt das Risiko, dass ohne Auskunft der behandelnden Ärzte der Nachweis seines aufgehobenen Leistungsvermögens nicht gelingt.

Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass bereits der Erlass der Betreibensaufforderung unzulässig war.

b) Selbst wenn man die Zulässigkeit der Betreibensaufforderung annähme, fehlt es in jedem Fall an den übrigen Voraussetzungen, damit die Rücknahmefiktion eintritt. Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG tritt nur ein, wenn - bei Erfüllung der formellen und materiellen Voraussetzungen der Betreibensaufforderung - der Kläger bzw. Klägerbevollmächtigte bis zum Fristablauf das Verfahren nicht weiter betreibt und das Rechtsschutzinteresse entfallen ist.

Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Kläger oder Antragsteller das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will; die Rücknahmefiktion darf weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eingesetzt werden (BVerfG, 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 -, Rn. 28 zur Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 VwGO), noch stellt die Vorschrift ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar (LSG Nordrhein-Westfalen, 22.1.2016 - L 19 AS 1863/15 B -, Rn. 15 mit zahlr. Nachw.). Sie soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (BVerfG a.a.O.).

Ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses darf erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden; bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des Klägers zu berücksichtigen (BSG, 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R -, Rn. 28).

Nach diesem Maßstab durfte das Sozialgericht aufgrund der Umstände, unter Würdigung des Verhaltens des Klägers - und insbesondere seines Bevollmächtigten - nicht von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auf Seiten des Klägers ausgehen. Eine solche Annahme war vor dem aufgezeigten verfassungsrechtlichen Rahmen vielmehr abwegig. Weder zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung noch danach bestand nach dem prozessualen Verhalten des Klägerbevollmächtigten irgendein Hinweis, von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen.

Der Bevollmächtigte des Klägers meldete sich bereits am Tag des Zugangs der Betreibensaufforderung und wies erneut auf die Schwierigkeiten bei der Beschaffung der vom Gericht erforderten Erklärungen / Auskünfte und die Erkrankung des Klägers hin. Dabei beließ er es aber nicht; er bemühte sich nachweislich um eine Betreuung für den Kläger und hat das Gericht darüber im Folgenden informiert. Insofern beschränkte sich der Inhalt seines Vortrags nicht auf die bloße Behauptung, ein Rechtsschutzinteresse bestehe weiterhin, wobei darauf hinzuweisen ist, dass schon die Erklärung, man wolle an der Klage festhalten, nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ausreichend sein kann (BVerfG, 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 -, Rn. 37).

Bei Betrachtung der Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch des Verhaltens des Klägerbevollmächtigten, der im Namen des Klägers handelt, gibt es keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass das Rechtsschutzbedürfnis entfallen sein könnte. Weder ist das Verfahren nicht betrieben worden noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass kein Interesse an der Fortführung des Verfahrens mehr bestand.

4) Eine Zurückverweisung an das Sozialgericht (§ 159 Abs. 1 SGG) steht nicht im Ermessen des Senats. Mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in erster Instanz deshalb nicht gemäß § 102 Abs. 2 SGG beendet worden und vor dem Sozialgericht fortzusetzen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, 19.5.2017 - L 17 U 315/16; 10.3.2016 - L 6 AS 1546/14; Sächsisches LSG, 28.2.2013 - L 7 AS 523/09; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt -Hrsg.-, SGG, 2020, § 159 Rn. 3b m.w.N.). Mit der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 1.4.2020 und der Feststellung, dass der Rechtsstreit S 23 R 93/19 nicht durch Klagerücknahme beendet worden ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Eine Zurückverweisung an das Sozialgericht (§ 159 Abs. 1 SGG) kommt nicht in Betracht und steht deshalb auch nicht im Ermessen des Senats. Die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 23 R 93/19 war nämlich zu keinem Zeitpunkt entfallen, weil eine Erledigung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war.

5) Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen,19.5.2017 - L 17 U 315/16; LSG Berlin-Brandenburg, 15.3.2017 - L 18 AS 2584/16; Sächsisches LSG, 28.2.2013 - L 7 AS 523/09). Insoweit folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.

6) Gründe, im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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