S 223 KR 2405/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
223
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 223 KR 2405/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Schwere Schmerzen können eine schwerwiegende Erkrankung darstellen, wenn sie die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen (hier beruflicher und privater Rückzug). 2. Dem Vertragsarzt wird in § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V eine Einschätzungsprärogative eingeräumt. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes erstreckt sich auch auf das Nebenher der Psycho- und Cannabistherapie.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 3. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2019 verurteilt, der Klägerin die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel S. 3 x 10 ml zu genehmigen und sie nach vertragsärztlicher Verordnung damit zu versorgen. Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit Medizinal-Cannabis in Form des Fertigarzneimittels S.

Die bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einem chronischem Spannungskopfschmerz, einer Migräne mit Aura, einer Zervikalneuralgie, schmerzhaften Myogelosen BWS, einem Kreuzschmerz/rechtseitiges LWS Syndrom, einem Morbus Bechterew, einer Depression, einer Fibromyalgie, einem Rheumatischen Formenkreis und einer chronischer Migräne.

Am 15. März 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabis. Seit 2018 nehme sie an einer multimodalen Schmerztherapie teil. Sie habe viele Medikamente ausprobiert, mit Nebenwirkungen zu kämpfen gehabt. Ihre Schmerzen seien schlimmer geworden. Dem Antrag lagen zahlreiche ärztliche Stellungnahmen bei, auf die verwiesen wird. In einem ärztlichen Befundbericht von Dr. K. und Dr. J. vom S. Berlin wird erläutert, dass das chronische Leiden der Klägerin (viszerale Schmerzen, neurophathische Schmerzen der WS sowie der oberen/unteren Extremitäten) seit über 7 Jahren bestünde und mit einem sozialen Rückzug verbunden sei (Befundbericht vom 27. Februar 2019). Es bestünden Dauerschmerzen mit einer Intensität auf der Numerischen Analogskala von 7-8. Es seien alle Behandlungsversuche entsprechend der Leitlinien der AWMF getestet, für Einzelheiten wird auf den Befundbericht verwiesen. Entweder habe keine anhaltende Schmerzlinderung erzielt werden können, oder die Therapie habe wegen Nebenwirkungen abgebrochen werden müssen. Die Versorgung mit T. werde befürwortet.

Der von der Beklagten mit der Begutachtung beauftragte MDK sieht in dem Gutachten vom 26. März 2019 die beantragte Cannabistherapie nicht als indiziert. Eine schwerwiegende Erkrankung läge nicht vor. Die leitliniengerechte schmerztherapeutische sowie psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung mit Optimierung der antidepressiven Therapie sei ausreichend. Aufgrund der dokumentierten Wechselwirkung des chronischen Schmerzsyndroms mit der Depression im Sinne einer Verschlechterung des körperlichen und seelischen Befindens, sei eine psychotherapeutische Behandlung indiziert.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 3. April 2019 unter Verweis auf das MDK-Gutachten ab. Gegen die Ablehnung legte die Klägerin Widerspruch ein. Aufgrund eines Aufenthaltes in einer stationären schmerztherapeutischen Behandlung vom 10. bis 24. Juli 2019 ruhte das Widerspruchsverfahren. Während des Aufenthalts wurde probatorisch S. verabreicht. Im Entlassungsbericht vom 24. Juli 2019 wird aufgeführt, dass unter der S.therapie eine deutliche Schmerzlinderung, Schlafbesserung sowie Abnahme der Morgensteifigkeit habe erreicht werden können. Zur ambulanten Weiterbehandlung wurde die Behandlung mit Sativex empfohlen und die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie.

Nach Vorlage des Entlassungsberichts ergänzte der MDK sein Gutachten dahingehend, dass eine Indikation für eine Cannabistherapie weiter nicht bestünde, da zunächst eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt werden müsse (Gutachten vom 15. August 2019).

Mit Schreiben vom 26. September 2019 bestätigte Dr. J. vom S. Berlin nochmals, dass es unter der Therapie mit S. zu einer deutlichen Reduktion der bestehenden chronischen Schmerzzustände habe kommen können, und befürwortete die Versorgung.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2019 den Widerspruch unter Verweis auf die Gutachten des MDK als unbegründet zurück.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie einen Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von S. hat und verweist auf die vorgelegten Arztberichte.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2019 zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die beantragte Cannabistherapie zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie vertieft ihr Vorbringen im Widerspruchsbescheid. Die Klägerin habe bei der beschriebenen rezidivierenden Depression und den mitbestehenden psychischen Faktoren bei der chronischen Schmerzstörung eine psychotherapeutische Behandlung zu initiieren. Dies sei bislang nicht erfolgt.

Auf Nachfrage hat Dr. J. am 3. August 2020 ein S. Spray zur Anwendung in der Mundhöhle 3x10 ml (früh und abends je 10 Sprühstöße) verordnet.

Die Klägerin hat erklärt, auf der Suche nach einem freien Platz für eine Psychotherapie (Verhaltenstherapie) zu sein.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 3. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit der begehrten Cannabistherapie.

Der Anspruch beruht auf § 31 Abs. 6 SGB V, wonach Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon haben, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Eine schwerwiegende Erkrankung liegt entgegen der Auffassung der Beklagten vor. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (LSG Bayern, 7. November 2019 - L 4 KR 397/19 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, 25. Februar 2019 - L 11 KR 240/18 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, 20. Dezember 2018 - L 5 KR 125/18; LSG Hessen, 4. Oktober 2017 - L 8 KR 255/17 B ER). Der Klägerin wurden zahlreiche Erkrankungen diagnostiziert: chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronischer Spannungskopfschmerz, Migräne mit Aura, Zervikalneuralgie, schmerzhafte Myogelosen BWS, Kreuzschmerz/rechtseitiges LWS Syndrom, Morbus Bechterew, Depression, Fibromyalgie, Rheumatischer Formenkreis und chronische Migräne. Laut dem Befundbericht von Dr. K. und Dr. J. vom Scherzzentrum Berlin vom 27. Februar 2019 bestehen Dauerschmerzen mit einer Intensität auf der Numerischen Analogskala von 7-8, welche mit einem sozialen Rückzug verbunden sind. Auch die Klägerin beschreibt in ihrem Antragsschreiben die Auswirkungen der Schmerzen auf ihren Alltag – beruflich (Abteilungswechsel) wie privat (Rückzug, familiäre Belastung). Für die Kammer bestand kein Zweifel daran, dass dauerhafte schwere Schmerzen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen können (so im Ergebnis auch das Hessische LSG, Beschluss vom 28. September 2017 – L 8 KR 288/17 B ER für chronische schwere Bauchschmerzen), und dies bei der Klägerin auch der Fall ist.

Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung kann bei der Klägerin nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen. Durch das Gesetz wird dem behandelnden Vertragsarzt eine Einschätzungsprärogative eingeräumt, die von der Krankenkasse und im Gerichtsverfahren nur begrenzt auf inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen ist. Ausreichend ist es, wenn der Vertragsarzt seine Einschätzung abgibt und diese begründet. Sofern nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei, ist diese Einschätzung hinzunehmen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019 – L 11 KR 442/18 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2019 – L 9 KR 72/19 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 02. April 2019 – L 1 KR 16/19 B ER). Das LSG Nordrhein-Westfalen führt in seinem Beschluss vom 30. Januar 2019 überzeugend aus: "Der Gesetzgeber verfolgt mit § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V ein anderes Konzept. Die Krankenkasse hat nur zu prüfen, ob es sich um eine "begründete Einschätzung" des behandelnden Vertragsarztes handelt, nicht aber, ob diese nach ihrer Auffassung im Einzelfall zutrifft. Der Wortlaut des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) ist insoweit eindeutig. Die Gesetzmaterialien bestätigen dies." Der Ausschuss für Gesundheit formuliert (BT-Drucks. 18/10902 S. 20): "Die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen soll durch den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nach Satz 1 verbessert werden. Die Genehmigungsanträge bei der Erstverordnung der Leistung sind daher nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin Rechnung getragen." An diesem Maßstab gemessen, liegt eine begründete Einschätzung eines Vertragsarztes vor. Zunächst erläutern Dr. K. und Dr. J. vom S. Berlin in dem Befundbericht vom 27. Februar 2019, dass alle Behandlungsversuche entsprechend der Leitlinien der AWMF getestet worden seien. Dr. K. listet sowohl die medikamentösen wie nicht-medikamentösen Therapieversuche auf. Entweder habe keine anhaltende Schmerzlinderung erzielt werden können, oder die Therapie habe wegen der Nebenwirkungen abgebrochen werden müssen. Die Versorgung mit T wurde befürwortet. Während der stationären schmerztherapeutischen Behandlung in der S.klinik Berlin vom 10. bis 24. Juli 2019 wurde probatorisch S. verabreicht. Der Entlassungsbericht beschreibt, dass dadurch eine deutliche Schmerzlinderung habe erreicht werden können. In der Anamnese wird aufgeführt, dass die Antidepressiva wegen starker Nebenwirkungen (starke Gewichtszunahme) abgesetzt werden mussten, NSAR musste wegen einer gastroskopisch gesicherten hämorrhagischen Antrumgastritis abgesetzt werden. Mit Schreiben vom 26. September 2019 bestätigte Dr. J. nochmals, dass es unter der Therapie mit S. zu einer deutlichen Reduktion der bestehenden chronischen Schmerzzustände habe kommen können, und befürwortete die Versorgung. Da die S.klinik Berlin und das S. Berlin jeweils von Dr. J. geleitet werden, der auch stets als Autor der Berichte mit aufgeführt wird, können die aufgeführten Stellungnahmen und der Entlassungsbericht als eine einheitliche Einschätzung betrachtet werden. Diese ist nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei. Dass der Vertragsarzt noch im Verwaltungsverfahren seine Empfehlung von T. zu S. gewechselt hat, begegnet keinen Bedenken.

Die Kammer ist der Beklagten insofern nicht gefolgt, als dass die Klägerin zunächst an einer Psychotherapie teilzunehmen hat. Es bestehen dabei keine Zweifel, dass bei der Klägerin eine Psychotherapie indiziert, und ihr die Durchführung anzuraten ist. In dem stationären Aufenthalt in der S.klinik wurden bei der Klägerin psychotherapeutisch "Mechanismen der Schmerzchronifizierung aufgedeckt und dysfunktionale Denkmuster umstrukturiert sowie Themen wie Angst-Vermeidungsverhalten bearbeitet" (s. Entlassungsbericht). Die behandelnden Ärzte der Klägerin haben allerdings das Nebenher der Psycho- und Cannabistherapie empfohlen (s. Entlassungsbericht). Die Kammer konnte diese medizinische Einschätzung nachvollziehen, hält sie für schlüssig und sieht keinen Widerspruch. Da die Diagnosen der Klägerin nicht ausschließlich psychosomatisch sind, erscheint auch eine parallele Therapie auf mehreren Ebenen nachvollziehbar.

Die Kammer war überzeugt davon, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Das ergibt sich bereits aus dem Attest des S. Berlin vom 26. September 2019, welches bestätigt, dass es unter der Behandlung mit Cannabis (S.) zu einer deutlichen Reduktion der bestehenden chronischen Schmerzzustände gekommen ist. Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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