S 6 R 1164/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 6 R 1164/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für ihre Tätigkeit als Sachbearbeiterin im Bereich Haftpflicht-Schaden bei der Beigeladenen zu 1) ab dem 01.06.2010 zu befreien. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin ein Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zusteht.

Die 1977 geborene Klägerin ist Volljuristin und seit dem 01.11.2005 als zugelassene Rechts-anwältin Pflichtmitglied der Rechtsanwaltskammer Köln und des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen (Beigeladene zu 2). Für ihre Tätigkeit als selbständige Rechtsanwältin erhielt die Klägerin von der Beklagten mit Bescheid vom 10.04.2006 die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ab dem 14.10.2005.

Zum 01.06.2010 nahm die Klägerin ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bei der B AG in Köln (Beigeladene zu 1) auf. Ausweislich des Arbeitsvertrages vom 03.05.2010 erfolgte die Einstellung als Sachbearbeiterin im Bereich Haftpflicht-Schaden. Vorausgegangen ist der Einstellung der Klägerin eine Stellenanzeige. Darin suchte die Beigeladene zu 1) einen Volljuristen als Sachbearbeiter für Arzthaftpflichtschäden.

Am 21.06.2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Befreiung von der Versiche-rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung rückwirkend ab dem 01.06.2010 für ihre Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1). Als Anlage fügte sie eine Stellen- und Funktionsbeschreibung ihres Arbeitgebers vom 07.06.2010 bei. Darin führte die Beigeladenen zu 1) aus, dass die Klägerin selbständig und eigenständig Arzthaftpflicht-Schäden bearbeite. Sie vertrete unter Beachtung der Interessen des Unternehmens die Interessen der Versicherungsnehmer, die anlässlich einer ärztlichen Tätigkeit von einem Patienten auf Schadenersatz in Anspruch genommen würden. Hierzu führe sie eigenständig die gesamte außergerichtliche Korrespondenz sowie die außergerichtlichen Verhandlungen hinsichtlich der Schadenabwicklung.

Von der Beklagten erbetene Unterlagen, wie etwa eine Fotokopie des Arbeitsvertrages reichte die Klägerin nicht ein. Mit Bescheid vom 15.10.2010 lehnte die Beklagte den Befreiungsantrag sodann ab. Eine vollständige Prüfung der Voraussetzungen habe nicht erfolgen können, da die Klägerin keine weiteren Unterlagen übersandt habe.

Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 15.11.2010 Widerspruch und reichte nachfolgend die von der Beklagten erbetenen Unterlagen nach. Die Klägerin sei bei der Beigeladenen zu 1) anwaltlich beschäftigt, da sie entsprechend der Stellenbeschreibung und dem Funktionsprofil einer berufsständischen Beschäftigung als Rechtsanwältin unter kumulativer Wahrnehmung der Aufgabenfelder Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung nachgehe. Sie bearbeite selbständig und eigenverantwortlich ein eigenes Schadensdezernat im Haftpflichtschadenbereich Heilwesen in der Hauptverwaltung des Konzerns. Zu ihren Aufgaben gehöre es, die Deckungs- und Haftungslage zu analysieren, praxistaugliche Lösungswege und –möglichkeiten zu erarbeiten und den Versicherungsnehmer zu beraten. Dies setze zunächst die eigenständige Ermittlung des Sachverhalts und des Fehlervorwurfs voraus. Sodann würden der Deckungsschutz und haftungsrechtliche Gesichtspunkte überprüft. Sofern die Klägerin bei dieser Tätigkeit unklare Klauseln in den Versicherungsverträgen feststelle oder Lücken im Versicherungsschutz, nehme sie Kontakt mit den Betriebsabteilungen auf und schlage Änderungen vor. Im Rahmen der erteilten Vollmacht treffe die Klägerin eigenverantwortliche und verbindliche Regulierungsentscheidungen. Selbst ihre Vollmacht übersteigende Entscheidungen könne die Klägerin mit Zustimmung oder unter dem Vorbehalt der Genehmigung ihres Vorgesetzten treffen. Die Klägerin nehme eine eigenständige Prüfung vor, ob gerichtliche Prozesse aufgenommen oder abgewehrt würden und begleite diese fortwährend. Jegliche prozessrechtliche Maßnahme unterliege ihrer Zustimmung bzw. Genehmigung. Die Klägerin treffe autonom die Entscheidung, ob das Versicherungsunternehmen und der Versicherungsnehmer an Gutachterverfahren vor den Schlichtungsstellen der Ärztekammern teilnehmen und vertrete diese im Falle der Durchführung des Verfahrens. Es obliege ihrer persönlichen Entscheidungskompetenz ob Regresse gegen Dritte durchgeführt würden und führe diese Verfahren selbständig. Bei den Schadenverhandlungen verhandele die Klägerin über Einigungsmöglichkeiten und schließe Vergleiche ab. Dabei müssten häufig umfangreiche Abfindungsverträge entworfen werden. Zu den Aufgaben der Klägerin gehöre es zudem, in Abteilungs- und Betriebsbesprechungen sowie bei Tagungen und Schulungen Neuerungen im Haftungsrecht, im Versicherungsrecht und im Gebührenrecht der Rechtsanwälte sowie die aktuelle Rechtsprechung vor größerem Zuhörerkreis vorzustellen. Die Klägerin führe und überarbeite selbständig und weisungsunabhängig die unternehmensinterne Urteilsdatenbank.

Mit Bescheid vom 25.01.2011 hob die Beklagte zunächst ihren Ablehnungsbescheid vom 15.10.2010 wieder auf. Zur Begründung führte sie aus, dass die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten nunmehr nachgekommen sei.

Mit Bescheid vom 28.01.2011 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Befreiung von der Versicherungspflicht für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1) erneut ab. Dies mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht vorlägen. Die Klägerin sei bei der Beigeladenen zu 1) nicht anwaltlich beschäftigt, weil die Tätigkeit objektiv nicht zwingend die Qualifikation als Volljuristin voraussetze. Die Klägerin sei als Sachbearbeiterin beschäftigt. Es sei anzunehmen, dass im rechtlichen Bereich der ausgeübten Tätigkeit fundierte Kenntnisse insbesondere des Versicherungsrechts gefordert würden. Üblicherweise seien diese Kenntnisse durch eine abgeschlossene Berufsausbildung und eine mehrjährige Berufserfahrung zu erwerben. Auch ein abgeschlossenes Studium könne in die Lage versetzen, diesen Anforderungen zu genügen. Es sei aber nicht ersichtlich, dass die Tätigkeit als Sachbearbeiterin nach objektiven Maßstäben ausschließlich für Juristen mit der Befähigung zum Richteramt zugänglich sei. Wenn aber eine Tätigkeit nicht objektiv zwingend eine Qualifikation als Volljurist voraussetze, könne es sich nicht um eine anwaltliche Tätigkeit handeln, weil diese Ausübung anders als die Tätigkeit eines Rechtsanwalts nach § 3 Bundesrechtsanwaltsordnung nicht die Befähigung zum Richteramt verlange.

Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 21.02.2011 Widerspruch ein. Die Qualifikation als Volljuristin und die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft sei neben der persönlichen Eignung Einstellungsvoraussetzung gewesen. In ihrer Abteilung arbeite die Klägerin wie eine Fachanwältin für Medizin- und Versicherungsrecht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die Ablegung der zweiten juristischen Staatsprüfung habe nach der Stellenausschreibung keine unabdingbare Voraussetzung für die Besetzung der Stelle dargestellt. Aus den vorgelegten Unterlagen sei zudem nicht ersichtlich, inwieweit die Klägerin eine wesentliche Teilhabe an den unternehmensinternen Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen innehabe und welche Entscheidungsbefugnisse ihr durch den Arbeitgeber eingeräumt würden. Des Weiteren sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit auch rechtsgestaltend tätig sei. Bei Tätigkeiten die ausschließlich in der Prüfung von Verträgen und Schadenersatzansprüchen bestünden, sei eine Rechtsgestaltung auszuschließen. Die Klägerin treffe Regulierungsentscheidungen und führe Regresse durch. Dabei stehe nicht die Rechtsgestaltung im Vordergrund, da es im Wesentlichen nicht um die Formulierung von Verträgen aus rechtlicher Sicht gehe, sondern vorrangig um die Aushandlung des Umfangs der Schadenregulierung.

Hiergegen richtet sich die am 26.07.2011 erhobene Klage. Die Klägerin erfülle die vier Tätigkeitsmerkmale anwaltlicher Tätigkeit, d.h. Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung kumulativ.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2011 zu verurteilen, sie ab dem 01.06.2010 für ihre Tätigkeit als Sachbearbeiterin im Bereich Haftpflichtschaden bei der Beigeladenen zu 1) von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach Auffassung der Beklagten ist die Klägerin zwar Pflichtmitglied der Rechtsanwaltskammer und des Versorgungswerks der Rechtsanwälte aufgrund ihrer Zulassung als Rechtsanwältin. Jedoch ergebe sich aus dem Gesamtbild der Tätigkeit, dass die Klägerin keine anwaltliche Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1) ausübe. Die Merkmale der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung seien nicht hinreichend nachgewiesen. Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber bevorzugt Rechtsanwälte einstelle, könne nicht zur Bejahung einer berufsspezifischen Tätigkeit führen. Anderenfalls verlöre das Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, wonach Beschäftigte oder selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit befreit werden, wegen der sie Pflichtmitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind seine Funktion. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ergebe die Auswertung der vorgelegten Unterlagen für die Tätigkeit der Klägerin bei der Beigeladenen zu 1) das Bild einer besonders qualifizierten sachbearbeitenden Tätigkeit ohne eigene Entscheidungskompetenzen und Handlungsspielräume auf der Basis einer arbeitgeberseitig erteilten entsprechenden Vollmacht.

Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

Nach Auffassung der Beigeladenen zu 1) sind bei der Klägerin alle vier maßgeblichen Kriterien einer anwaltlichen Tätigkeit im Rahmen der von ihr übernommenen Tätigkeit als Groß- und Komplexschadensachbearbeiter und damit die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht erfüllt. In der Abteilung, in der die Klägerin tätig sei, würden komplexe Haftungsfälle aus dem Bereich des Heilwesens, insbesondere Arzthaftungsfälle bearbeitet.

Auch die Beigeladene zu 2) hat sich der Auffassung der Klägerin angeschlossen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen O. Auf den Inhalt der protokollierten Zeugenaussage und die protokollierten Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streit- und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die darin befindlichen gewechselten Schriftsätze, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Denn die Klägerin hat Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1) als Sachbearbeiterin im Bereich Haftpflicht-Schaden ab dem 01.06.2010.

Nach § 6 Abs.1 S.1 Nr. 1 SGB VI werden unter den in Buchstaben a bis c der Vorschrift genannten Voraussetzungen Angestellte und selbständig Tätige auf Antrag für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, von der Versicherungspflicht befreit. Die Befreiung gilt jedoch nicht personenbezogen sondern tätigkeitsbezogen. Die Befreiung erfolgt nur wegen der jeweiligen Beschäftigung, aufgrund derer eine Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung besteht (BSG, Urteil vom 22.10.1998, B 5/4 RA 80/97 R). Übt ein Versicherter mehrere Tätigkeiten aus, so sind die Voraussetzungen der Befreiung von der Versicherungspflicht getrennt nach den einzelnen sie begründenden Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeiten zu ermitteln, sofern es sich um zeitlich, inhaltlich und funktional abgrenzbare Tätigkeiten handelt, die voneinander unabhängig ausgeübt werden (BSG, Urteil vom 10.09.1975, 3/12 RK 6/74 = BSGE 40,208). Die Befreiung setzt zudem einen inneren Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Berufsangehörigen, für die Versicherungsbefreiung in Anspruch genommen wird und dem Versicherungsschutz durch die jeweilige berufsständische Versorgungseinrichtung voraus. Der Versicherte kann insofern nur für eine berufsspezifische an-waltliche Tätigkeit von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu Gunsten eines Versorgungswerks der Rechtsanwälte befreit werden.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach Auffassung der Kammer übt die Klägerin als Sachbearbeiterin im Bereich Haftpflicht-Schaden bei der Beigeladenen zu 1) eine berufsspezifische anwaltliche Tätigkeit aus. Dies folgt im Wesentlichen aus den nachvollziehbaren und überzeugenden Angaben der Klägerin zu Art und Umfang ihrer konkreten Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1), die von dem Zeugen Nolte als Abteilungsdirektor des Bereichs Haftpflicht-Schaden weitestgehend bestätigt worden sind. Die Kammer hat keine Zweifel daran, dass die Angaben der Klägerin und des Zeugen O zutreffend sind.

Eine berufsspezifische Tätigkeit eines Syndikusanwalts bei einem nicht anwaltlichen Arbeitgeber umfasst vier Kriterien, die rechtsberatende, rechtsentscheidende, rechtsgestaltende und rechtsvermittelnde Tätigkeit, wobei alle Kriterien für einen Anspruch auf Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VI kumulativ vorliegen müssen. Die Rechtsberatung umfasst die unabhängige Analyse von betriebsrelevanten, konkreten Rechtsfragen, die selbständige Herausarbeitung und Darstellung von Lösungswegen und Lösungsmöglichkeiten vor dem spezifischen betrieblichen Hintergrund und das unabhängige Bewerten der Lösungsmöglichkeiten. Der Bereich der Rechtsentscheidung beinhaltet das nach außen wirk-same Auftreten als Entscheidungsträger mit eigenständiger Entscheidungskompetenz. Rechtgestaltung bedeutet primär das eigenständige Führen von Vertrags- und Einigungsverhandlungen und die Rechtsvermittlung umfasst die mündliche Darstellung abstrakter Regelungskomplexe vor einem größeren Zuschauerkreis, bzw. deren schriftliche Aufarbeitung und Bekanntgabe sowie Erläuterung von Entscheidungen im Einzelfall (h.M. vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.10.2009, Az.: L 8 KR 189/08; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 23.01.2013, Az.: L 2 R 2671/12; SG Aachen, Urteil vom 26.11.2010, Az.: S 6 R 173/09; SG Köln, Urteil vom 30.06.2011, Az.: S 2 R 1180/10).

Diese berufsspezifischen Tätigkeitsmerkmale eines Rechtsanwalts deckt die Klägerin im Rahmen ihrer Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1) kumulativ ab. Vorweggenommen ist die Klägerin hier zwar im Wesentlichen als Sachbearbeiterin im Bereich Schadenhaftpflicht für Ärzte und Kliniken bei einem Versicherungsunternehmen tätig. Allerdings handelt es sich hierbei nach Auffassung der Kammer um eine sowohl juristisch als auch tatsächlich in hohem Maße anspruchsvolle Tätigkeit, die den Aufgaben eines Rechtsanwalts der die Gegenseite, d.h. die geschädigten Patienten vertritt, in keinster Weise nachsteht. Dies wird bereits dadurch deutlich, dass die Beigeladene zu 1) nach Angaben des Zeugen O für den vollständigen Tätigkeitsbereich der Klägerin ausschließlich Volljuristen mit einschlägiger Berufserfahrung und sozialer Kompetenz beschäftigt. Versicherungskaufleute oder etwa Betriebswirte erfüllen die hohen Erwartungen der Beigeladenen zu 1) an die juristischen Kenntnisse der Mitarbeiter in diesem Bereich nicht. Erwartet wird von den Sachbearbeitern nach einer gewissen Zeit der Einarbeitung und Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1) der Standard eines Fachanwalts für Medizinrecht.

Die Klägerin ist bei der Beigeladenen zu 1) rechtsberatend tätig. Sie analysiert im Rahmen der Schadensabwicklung der Arzthaftungsfälle unabhängig den für einen eventuellen Eintritt der Haftpflicht relevanten Sachverhalt, prüft die rechtlichen Voraussetzungen und bewertet sowie erarbeitet die Lösungswege eigenständig. Dabei holt sie bei medizinisch schwierigeren Sachverhalten auch selbständig und eigenverantwortlich medizinische Fachgutachten ein, wobei er wiederum die Fragestellungen entsprechend den juristischen Anforderungen im Einzelfall formuliert. Dieses selbständige Bearbeiten von Versicherungsfällen aus dem Bereich des Arzthaftungsrechts bedingt eine Analyse der für die Beigeladene zu 1) als Versicherer relevanten Rechtsfragen der Deckung und Haftung und erfordert das Herausarbeiten und Darstellen von Lösungswegen vor dem spezifischen betrieblichen Hintergrund eines Versicherungsunternehmens. Darüber hinaus korrespondiert die Klägerin mit den versicherten Ärzten, wobei sie auch Ihnen als den eigentlich haftenden Personen die Sach- und Rechtslage unabhängig von der Eintrittspflicht ihres Arbeitgebers zu vermitteln und gegebenenfalls Ratschläge zum optimalen Vorgehen zu erteilen hat.

Sofern sich ein Haftungsfall ergibt, und die Klägerin namens ihres Arbeitgebers nicht lediglich die Haftung ablehnt, nimmt die Klägerin mit den geschädigten Patienten bzw. in der Regel deren Rechtsanwälten Kontakt auf und versucht die Haftungssache einer außergerichtlichen Regelung zuzuführen. Dabei führt sie aktuell zumindest bis zu einer Schadenssumme von bis zu 25.000,00 Euro die Vertrags- und Einigungsverhandlungen völlig eigenständig und hat die Befugnis zur freien Entscheidung, was auch nach außen deutlich wird, da sie sich bei diesem Beträgen nicht bei ihrem Vorgesetzten absichern muss. Bei höheren Schadenssummen hat die Klägerin wesentliche Teilhabe an den innerbetrieblichem Entscheidungsprozess bei der Beigeladenen zu 1), denn sie legt ihrem vorgesetzten Abteilungsdirektor, dem Zeugen Nolte den aufbereiteten Vorgang nebst begründetem Regulierungsvorschlag vor, der regelmäßig akzeptiert wird. Hier ist die Entscheidungskompetenz der Klägerin zwar eingeschränkt, jedoch ist es bei größeren Unternehmen üblich, dass es gestaffelt nach der Bedeutung der Sache eine Entscheiderhierarchie gibt. Nach Auffassung der Kammer ist es für das Merkmal Rechtsentscheidung ausreichend, dass eine eigenständige nach außen wahrnehmbare Entscheidungskompetenz des Mitarbeiters für Fälle von nicht völlig untergeordneter Bedeutung zuzüglich einer wesentlichen Teilhabe am Entscheidungsprozess bei den sonstigen zu bearbeitenden Fällen besteht. Das ist bei der Klägerin mit einem selbständigen Entscheidungsspielraum bis zu 25.000,00 Euro der Fall, denn Beträge in diesem Rahmen haben auch bei einem Versicherungskonzern keine völlig untergeordnete Bedeutung. Die wesentliche Teilhabe am innerbetrieblichen Entscheidungsprozess ergibt sich daraus, dass der Zeuge O nach seinen überzeugenden Ausführungen überhaupt nicht in der Lage wäre, bei 16.000 Schäden im Jahr die die Regulierungsvollmacht der Klägerin übersteigenden Fälle selbst zu entscheiden. Er ist darauf angewiesen, dass seine Mitarbeiter die Haftungsfälle eigenständig bearbeiten und ihre eigenen Entscheidungen zum Lösungsweg treffen, so dass sich seine Tätigkeit auf eine kurze Plausibilitätsprüfung beschränkt. Damit ist die Klägerin rechtsentscheidend, aber auch rechtsgestaltend tätig. Denn entgegen der Auffassung der Beklagten stellt auch der abgeschlossene außergerichtliche Vergleich, der gerade im Rahmen komplizierter Haftungsfälle mit hohen Haftungssummen und eventuell zu erwartenden Folgeschäden regelmäßig sehr umfangreich und detailliert ausfallen wird, einen Vertrag im Rechtssinne dar.

Das Tätigkeitsmerkmal der Rechtsvermittlung erfüllt die Klägerin durch das Halten von Rechtsvorträgen im Rahmen von Tagungen bei der Beigeladenen zu 1), an denen auch Rechtsanwälte und Konsiliarärzte teilnehmen sowie gegenüber ihren Kollegen. Nach Auffassung der Kammer ist dies ausreichend, da auch der durchschnittliche bei einem Rechtsanwalt beschäftigte Anwalt in der Praxis eher selten abstrakte Regelungskomplexe vor einem größeren Zuhörerkreis darzustellen hat.

In der Gesamtschau stellt sich die Tätigkeit der Klägerin bei der Beigeladenen zu 1) somit als anwaltsspezifisch dar. Die von der Beklagten favorisierte strenge Auslegung der vier Tätigkeitsmerkmale berufsspezifischer anwaltlicher Tätigkeit, insbesondere in Bezug auf das Merkmal der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung vermag die Kammer nicht zu überzeugen. In großen Unternehmen eine leitende Funktion mit ausgeprägter Entscheidungskompetenz zur Voraussetzungen anwaltsspezifischer Tätigkeit erheben zu wollen, kann kein zuverlässiges Abgrenzungskriterium darstellen. Denn auch ein solch leitender Angestellter wird stets der Geschäftsführung bzw. der Führungsspitze des Unternehmens unterstehen. Relevant ist vielmehr die eigenständige Entscheidungskompetenz und damit Weisungsfreiheit in einem juristischen Tätigkeitsbereich mit nicht völlig untergeordneter Bedeutung für das jeweilige Unternehmen.

Nach alledem ist die Klägerin von der Beklagten gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ab dem 01.06.2010 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien. Gemäß § 6 Abs. 4 Alt. 2 SGB VI wirkt die Befreiung vom Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an, wenn sie innerhalb von drei Monaten beantragt wird, sonst vom Eingang des Antrags an. Hier hat das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bei der Beigeladenen am 01.06.2010 begonnen und am 21.06.2010 wurde der Befreiungsantrag gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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