S 15 KR 52/20 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 15 KR 52/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 181/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig bis zur bestands-kräftigen Entscheidung über den Antrag vom 08.03.19, längstens bis zum 30.07.2020 mit einer wöchentlichen extrakorporalen Lipid-Apherese-Therapie zu versorgen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Kostenübernahme für eine extrakorporale Lip-id-Apherese-Therapie im Rahmen einer einstweiligen Anordnung.

Die am 00.00.1972 geborene und bei der Antragsgegnerin versicherte Antragstellerin lei-det unter anderem an einer Hyperlipidämie, Hypercholesterinämie, koronaren Dreige-fäßerkrankung mit Zustand nach prähospitaler Reanimation nach Kammerflimmern am 27.05.18 sowie Zustand nach vierfacher Stentimplantation mit verbleibender 30%-iger Stenose des RCA. Es besteht außerdem eine positive Familienanamnese für Arthero-sklerose.

Am 08.03.19 beantragte der die Antragstellerin behandelnde Facharzt für Innere Medizin, Dr. med. S., bei der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) die Geneh-migung einer wöchentlichen Lipidapherese auf dem Boden einer Lp(a)-Erhöhung bei fehlendem Risikofaktor LDL-Cholesterin. Hierbei nahm er Bezug auf ein lipidologisches sowie ein kardiologisches Gutachten. Mit Schreiben vom 04.07.19, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 09.07.19, teilte die KWVL mit, dass die Sachverständigen-Kommission Apherese am 27.06.19 die Indikationsstellung zur Apherese für den Patien-ten mit dem Zeichen MEKU F 892 beraten hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die LDL-Apherese/ Lp(a)-Apherese nicht befürwortet wird. Am 16.07.19 erhielt die An-tragsgegnerin Kenntnis davon, dass es sich bei der betroffenen Patientin um die Antrag-stellerin handelte. Unter dem 30.07.19 teilte die Antragsgegnerin daraufhin sowohl Herrn Dr. S. als auch der Antragstellerin mit, dass die Kosten für die LDL-Apherese nicht über-nommen werden können. Mit Schreiben vom 02.08.19 legte die Antragstellerin Wider-spruch gegen den Bescheid vom 30.07.19 ein und legte ein lipidologisches Gutachten zur Notwendigkeit einer regelmäßigen extrakorporalen Lipidapherese der Charité vom 31.07.19 vor. Unter dem 29.09.19 übersandte die Antragsgegnerin dieses Gutachten un-ter Hinweis auf den eingelegten Widerspruch an die KVWL mit der Bitte um Vorlage bei der Sachverständigenkommission zur Überprüfung der Entscheidung. Mit Schreiben vom 28.10.19, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 16.12.19, teilte die KVWL mit, dass die Apherese in Ermangelung des Nachweises eines Progresses nicht befürwortet werden kann. Eine Entscheidung der Antragsgegnerin über den Widerspruch lag im Zeitpunkt der Beschlussfassung – soweit ersichtlich – noch nicht vor.

Am 20.01.20 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anord-nung beim Sozialgericht Münster gestellt. Sie trägt vor, dass die Voraussetzungen für die Versorgung mit der Lipid-Apherese vorliegen, da sie an einem rasch progredienten Krankheitsverlauf leide und ihr Lp(a)-Wert derzeit bei 105 mg/dl und damit weit erhöht über den Vorgaben der Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersu-chungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Method-RL) lie-ge. Die Hyperlipoproteinämie könne nicht medikamentös behandelt werden. Die beson-dere Dringlichkeit der Behandlung ergebe sich daraus, dass sie sich ohne die begehrte Therapie in einem lebensbedrohlichen Zustand befinde. Insofern verweist sie auf ein Gutachten der Praxis für Nieren- und Hochdruckkrankheiten vom 13.12.19 sowie das lip-idologische Gutachten der Charité vom 31.07.19.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie mit einer regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Therapie zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich, den Antrag abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen der Method-RL nicht vorliegen. Des Weiteren könne den vorgelegten Unterlagen nicht entnommen werden, dass keine Al-ternativbehandlung zur Verfügung stünde. Die Regelung des § 13 Abs. 3 a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sei darüber hinaus nicht anwendbar.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Ab-wendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs voraus, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interes-sen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und An-ordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfah-ren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung einzustellen, da sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen haben (vgl. BVerG, Beschlüsse vom 29.11.2007 - 1 BvR 2496/07 und 12.05.2005 - 1 BvR 569/05).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Antrag im tenorierten Umfang begründet, denn die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Zwar hat die Antragstellerin das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nicht hinreichend glaub-haft gemacht. Insbesondere besteht kein Anspruch aus § 13 Abs. 3a SGB V, da die An-tragsgegnerin erst am 16.07.19 Kenntnis von der Antragstellung erhalten und über diese binnen drei Wochen entschieden hat.

Die Folgenabwägung fällt jedoch zu Gunsten der Antragstellerin aus; Erfolgsaussichten einer Hauptsache sind der Antragstellerin nach derzeitiger Sachlage nicht abzuspre-chen.

Die Antragstellerin hat nach § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB V Anspruch auf die begehrte ärztliche Behandlung als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode nur im Rahmen der Empfehlung des gemeinsamen Bundesausschusses nach § 135 Abs. 1 SGB V i.V.m. der Method-RL, in deren Anlage I die Voraussetzungen zur Durchführung und Abrechnung von Apheresen im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung geregelt sind.

Nach § 3 Abs. 2 Anlage I zur Method-RL können LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a)-Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildge-bende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkran-kungen).

Diese Voraussetzungen sind bisher nicht hinreichend glaubhaft gemacht; ihr Vorliegen kann indes auch nicht mit der dazu erforderlichen Sicherheit verneint werden.

Insbesondere die Frage nach dem Vorliegen einer durch klinisch und bildgebende Ver-fahren dokumentierten progredienten kardiovaskulären Erkrankung ist nach derzeitiger Sachlage nicht sicher zu beantworten. Zwar ergibt sich aus dem Herzkatheterbericht vom 09.11.18, dass keine Progression der koronaren 3-Gefäßerkrankung vorliegt. Die Ärzte der Charité gehen jedoch im Gutachten vom 31.07.19 von der Progredienz der Asterio-sklerose aus.

Darüber hinaus ist auch nicht auszuschließen, dass sich ein Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V ergibt, denn ausweislich des Gutachtens von Herrn Dr. S. vom 13.12.19 sowie des lipidologischen Gutachtens vom 14.12.18 kann mithilfe der Apherese-Therapie die vorliegende Fettstoffwechselstörung effektiv therapiert und ein erneutes lebensbedrohli-ches Ereignis vermieden werden, ohne dass eine alternative Therapie zur Verfügung steht.

Die damit grundsätzlich erforderlichen weiteren medizinischen Ermittlungen sind im Eil-verfahren nicht geboten. Die Kammer hat nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob im konkreten Eilverfahren der Eilbedürftigkeit oder der Amtsermittlung Vorrang einzuräumen ist. Da einem Hauptsacheverfahren nicht jegliche Erfolgsaussich-ten abgesprochen werden können, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dazu sind vor allem die Folgen zu berücksichtigen, die die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für die Antragstellerin hätte. Je schwerer die Belastungen hieraus wie-gen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger kann das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Angesichts der überragenden hohen Bedeutung, die dem Leben als Rechtsgut in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 -), sind in Verfahren wie dem vor-liegenden an die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hohe Anforderungen zu stel-len (hierzu LSG NRW, Beschlüsse vom 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER -, 19.11.2012 - L 11 KR 473/12 B - und 08.06.2015 - L 11 KR 202/15 B ER -). Besteht die Gefahr, dass die Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Verwal-tungs- bzw. Hauptsacheverfahrens stirbt oder sie schwere oder irreversible gesundheitli-che Beeinträchtigung erleidet, ist ihr die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht aufgrund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert oder der Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behand-lung auf andere Weise zu verwirklichen (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 24.01.2008 - L 5 B 1074/07 KR ER).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht der Antragstellerin bei einer Folgenab-wägung der Anspruch auf sofortige Bewilligung der von ihr begehrten Lipid-Apherese-Behandlungen zu. Danach kann ihr nicht zugemutet werden, bis zu einer Entscheidung im Verwaltungs- bzw. ggf. Hauptsacheverfahren auf die Behandlungen zu verzichten. Ohne diese Behandlungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu ei-nem schweren, möglicherweise sogar tödlichen kardiovaskulären Ereignis kommt. Dem-entsprechend erachten sowohl Herr Dr. S., als auch Herrn Dr. C. von der Charité und Frau Dr. H.-K. die Behandlung für medizinisch geboten, um eine Gefahr für Leib und Le-ben der Antragstellerin abzuwehren. Das gegenläufige finanzielle Risiko für die An-tragsgegnerin erachtet die Kammer derzeit als hinnehmbar (vgl. hierzu LSG NRW, Be-schlüsse vom 28.06.2013, 19.11.2012 und 08.06.2015, alle a.a.O; LSG NRW, Beschluss vom 30. Mai 2016 – L 11 KR 152/16 B ER –, Rn. 8 - 9, juris). Unter Berücksichtigung der Regelung des § 8 Abs. 1 Method-RL, wonach die Genehmi-gung zur Durchführung der LDL-Apherese nach § 3 Abs. 2 im Einzelfall auf ein Jahr zu befristen ist, sowie des beim Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht auszuübenden Ermessens (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO) erscheint die Befristung bis längstens zum 30.07.20 angemessen. Bei Fortbestehen der Behand-lungsindikation kann sodann zugleich mit einer erneuten, ergänzenden ärztlichen Beur-teilung eine erneute Beratung bei der Kommission der KVWL eingeleitet werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 193, 183 SGG und trägt dem Unterliegen der Antragsgegnerin Rechnung.
Rechtskraft
Aus
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