L 4 SO 157/20

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 17 SO 85/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 157/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Richtet sich eine Berufung gegen einen Gerichtsbescheid, so kann bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 158 SGG im Übrigen durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, wenn dem Klagebegehren in der Hauptsache im erstinstanzlichen Verfahren vollständig entsprochen worden ist. Die Schutzrichtung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK erfasst nur klägerische Rechtsschutzinteressen, die die Entscheidung von Streitigkeiten in Bezug auf Ansprüche im Sinne der Vorschrift betreffen.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. Juli 2020 wird als unzulässig verworfen. Kosten werden nicht erstattet. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten war streitig, ob dem Kläger zu Recht Leistungen nach dem Dritten Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) bewilligt worden sind. Der 1966 geborene Kläger beantragte am 24. November 2015 die Weitergewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bei dem Beklagten. Mit Bescheid vom 30. November 2015 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 2015 bis 30. November 2016 Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Am 9. Dezember 2015 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 30. November 2015 über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII Widerspruch ein. Die Fehler seien alle Jahre wieder die gleichen. Er verweise auf die bereits im Jahr 2014 wiederholt eingereichten Widersprüche zum gleichen Thema. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Bewilligung von Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel SGB XII zugunsten des Widerspruchsführers sei nicht zu beanstanden. Der auf Leistungen nach dem SGB II gerichtete Antrag steht dem nicht entgegen. Da die Voraussetzungen für Leistungen nach dem SGB XII gegeben gewesen seien waren und die Ablehnung von Leistungen nach SGB II bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. Juli 2014 erfolgt sei, sei nach dem Meistbegünstigungsprinzip von einem Weitergewährungsantrag auf Leistungen nach dem SGB XII auszugehen. Zum Bestreiten des Lebensunterhalts durch Einsatz der Arbeitskraft sei der Widerspruchsführer vorliegend auf nicht absehbare Zeit nicht in der Lage, mithin sei er nicht erwerbsfähig. Zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 44a SGB II habe das Gesundheitsamt des Leistungsträgers in seiner gutachterlichen Äußerung vom 8. Juli 2014 mitgeteilt, dass der Widerspruchsführer nicht in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt durch zumutbare Arbeit von mindestens 3 Std. täglich selbst zu bestreiten. Aufgrund einer gravierenden und lang andauernden Störung sei eine Integration in Arbeit aktuell nicht möglich. In der weiteren Stellungnahme vom 15. Januar2015 habe das Gesundheitsamt ausgeführt, dass der Widerspruchsführer zweimal zur Begutachtung eingeladen wurde, diese Termine jedoch nicht wahrgenommen habe. Der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 wurde dem Kläger am 11. März 2016 an seinem damaligen Aufenthaltsort, der JVA B-Stadt, zugestellt. Mit Klageschrift vom 6. April 2016, beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangen am 14. April 2016, hat der Kläger Klage erhoben. Mit Beschluss vom 9. Mai 2016 hat das Sozialgericht Wiesbaden die Klage an das Sozialgericht Darmstadt verwiesen. Der Kläger hat vorgetragen, dass er Leistungen nach dem (so ausdrücklich) Vierten Kapitel des SGB XII niemals beantragt habe und einen Leistungsbezug nach dem SGB XII grundsätzlich ablehne. Einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII weigere er sich, trotz ausdrücklicher Aufforderung, zu stellen, weil er die Leistungsvoraussetzungen nicht für gegeben halte und Leistungen nach dem SGB XII grundsätzlich ablehne. Mit Leistungen nach dem SGB XII würde er sich selber schaden und seinen Leistungsbezug zementieren. Die Bescheide seien "ersatzlos" aufzuheben. Der Widerspruchsbescheid über die Ablehnung von SGB II-Leistungen vom 26. Mai 2015 sei dem Kläger unbekannt. Der Beklagte hat vorgetragen, dass der Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2015, mit dem Leistungen nach dem SGB II aufgehoben worden seien, dem Kläger zugestellt worden sei und bestandskräftig sei. Ausweislich des von der JVA an das Sozialgericht übersandten Ausschnitts aus dem Zustellungsbuch wurde dem Kläger am 11. März 2016 eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts in dem Verfahren L 6 AS 640/13, L 6 AS 242/13, L 6 AS 495/13, L 6 AS 637/13 ausgehändigt. Angaben dazu, wann der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 dem Kläger in der JVA übergeben wurde, wurden nicht gemacht.

Das Sozialgericht hat nach Anhörung mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2020 den Bescheid vom 30. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 aufgehoben. Die Klage sei nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zulässig. Nach dem vorgelegten Auszug aus dem Zustellungsbuch der JVA B-Stadt sei dem Kläger am 11. März 2016 eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts ausgehändigt. Dass keine weiteren Eintragungen im Zustellungsbuch vorgelegt wurden, spreche dafür, dass es dort keine weiteren Eintragungen gebe, mithin nicht festgestellt werden könne, dass dem Kläger tatsächlich am 11. März 2016 der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 ausgehändigt worden sei. Die Klage sei auch begründet. Der Kläger sei inzwischen durch den Bescheid vom 30. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 beschwert. Jedenfalls mit der Klageschrift sei der streitige Bescheid rechtswidrig geworden. Der Kläger habe im Rahmen der Klageschrift auf diese Leistungen nach dem SGB XII verzichtet (§ 46 SGB I). Nach § 46 Abs. 1 SGB I könne auf Ansprüche auf Sozialleistungen durch schriftlich Erklärung gegenüber dem Leistungsträger verzichtet werden. Der Verzicht bewirkt das Erlöschen des Sozialleistungsanspruchs, so dass die Bewilligung von Leistungen aufzuheben sei. Die Kostenentscheidung beruhe auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtige, dass erst mit der Verzichtserklärung im Rahmen der Klageschrift die Rechtswidrigkeit des streitigen Bescheides eingetreten sei, der Beklagte mithin keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 14. Juli 2020 zugestellt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers ist am 14. August 2020 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen. Der Kläger wendet sich gegen die Zuständigkeit des Sozialgerichts Darmstadt, da ein Gefängnisaufenthalt weder einen Wohnsitz noch Aufenthaltsort begründe, und kleidet die weitere Berufungsbegründung in Äußerungen herabsetzenden Inhalts über die Kammervorsitzende.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 10. Juli 2020 aufzuheben und den Rechtsstreit an das zuständige Sozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, es bestünden Zweifel an der Zulässigkeit, da die Klage erfolgreich gewesen sei und der Kläger nicht beschwert sei. Im Übrigen sei die Berufung unbegründet. Der Verweisungsbeschluss sei für das Sozialgericht Darmstadt bindend gewesen.

Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Verfügung vom 6. Oktober 2020 nach § 158 SGG belehrt und zur Entscheidung durch Beschluss angehört. Auf seinen Antrag vom 14. August 2020 auf Übersendung einer Kopie der Verfahrens-akte ist dem Kläger mit Verfügung vom 7. Dezember 2020, dem Kläger zugestellt am 11. Dezember 2020, Akteneinsicht gewährt und eine Frist zur abschließenden Stellungnahme bis 11. Januar 2021 gesetzt worden.

Entscheidungsgründe:

Die Berufsrichterin und die Berufsrichter des Senats konnten nach Anhörung über die unzulässige Berufung des Klägers durch Beschluss nach § 158 SGG entscheiden, obwohl das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Der Kläger ist durch den Ausspruch in der Hauptsache nämlich nicht beschwert. Der Anspruch auf eine öffentliche mündliche Verhandlung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) steht einer Entscheidung nach § 158 SGG ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn der Gerichtsbescheid nur wegen der Kosten angegriffen wird (BSG, Beschluss vom 8. April 2014 - B 8 SO 22/14 B - juris) oder in der Hauptsache keine Beschwer besteht, weil dem Klagebegehren im erstinstanzlichen Verfahren vollständig entsprochen worden ist (Bayerisches LSG, Beschluss vom 4. Juni 2019 - L 16 AS 858/18 - juris). Ob eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt, beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhand einer Würdigung im Hinblick auf die Besonderheiten des Verfahrens in seiner Gesamtheit. Es ist notwendig, das gesamte innerstaatliche Verfahren, wie es in der innerstaatlichen Rechtsordnung geregelt ist, und die Rolle des Berufungsgerichts in seiner Gesamtheit zu betrachten (vgl. BSG a.a.O., Rn. 7 unter Hinweis auf EGMR, EuGRZ 1991, 415 (416) m.w.N). Wegen einer Angelegenheit, die ausschließlich noch die Frage der Kosten des gerichtlichen Verfahrens betrifft, besteht unter dieser Prämisse einerseits nach der Konzeption des Gesetzgebers nie ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung und ist andererseits eine inhaltliche Befassung des Rechtsmittelgerichts allein mit der Kostenentscheidung in jedem Fall ausgeschlossen (BSG a.a.O. Rn. 8). Auch im Falle einer fehlenden Beschwer fordert Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK keine mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht. Denn auch in diesem Fall ist eine inhaltliche Befassung des Rechtsmittelgerichts mit einem weiterverfolgten Klagebegehren von vornherein ausgeschlossen, da der Kläger das Beantragte bereits erstritten hat. Die Besonderheit der beiden Fallgruppen besteht darin, dass es bereits nach dem Vortrag des Klägers nicht mehr um die Entscheidung von "Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche" i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geht (zu denen konventionsrechtlich die sozialrechtlichen Streitigkeiten regelmäßig gehören), weil es dem Kläger bei der Fortsetzung des Rechtsstreits im Rechtsmittel um etwas anderes als den Anspruch der Hauptsache geht (darauf geht die Kritik durch Westermann, jurisPR-SozR 18/2019 Anm. 4, nicht ein). Die Fallgruppen stehen damit außerhalb des Schutzrichtung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Die Berufung ist unzulässig, da ihr in der Hauptsache die Beschwer fehlt. Der Kläger hat erstinstanzlich in der Hauptsache vollständig obsiegt. Er trägt konsequent auch gar nicht vor, dass ihn der Inhalt der Entscheidung belastet, sondern beschränkt sich - soweit die Ausführungen überhaupt einer sozial- oder prozessrechtlichen Würdigung zugänglich sind - "l’art pour l’art" auf die Rüge, dass er vom falschen Gericht Recht bekommen hat. Auch das erstinstanzliche Vorbringen und der klägerische Antrag wurden vom Sozialgericht zutreffend ausgelegt; insbesondere konnte der Klage nicht zuletzt wegen des wiederholt formulierten Antrages einer "ersatzlosen" Aufhebung kein Leistungsbegehren nach dem SGB II entnommen werden. Die einzige denkbare Beschwer besteht in der erstinstanzlichen Kostenentscheidung, deren zulässiger Rüge aber § 144 Abs. 4 SGG entgegensteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Revisionszulassungsgründe sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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