S 1 U 296/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 296/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 315/19
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2012 verurteilt, bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr. 2112 mit der BK-Folge "Zustand nach Implantation einer Knieendoprothese beidseits bei fixierter Varusgonarthrose beidseits mit verbliebener schmerzhafter Bewegungseinschränkung und anhaltendem Weichteilreizzustand" anzuerkennen und ihm ab dem 08.01.2008 Rente nach einer MdE von 30 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob eine Knieerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2112 – Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht – der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) anzuerkennen ist und ob der Kläger Anspruch auf die Gewährung von Rente aufgrund dieser Berufskrankheit hat.

Der am 00.00.1945 geborene Kläger absolvierte von April 1960 bis Oktober 1963 eine Ausbildung zum Landmaschinenmechaniker. Anschließend arbeitete der Kläger von November 1963 bis Februar 1996 – unterbrochen vom Wehrdienst von Oktober 1964 bis März 1966 – als Landmaschinenmechaniker.

Vom 00.00.1969 bis zum 00.00.2005 war der Kläger als Betriebsschlosser bzw. als Betriebshandwerker bei der Firma I in I1 tätig. Danach schied der Kläger aus dem Erwerbsleben aus.

Im Mai 2010 beantragte der Kläger die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nummer 2112 der Anlage 1 zur Berufskrankheit-Verordnung. Dazu teilte er mit, seit ca. 1978 habe eine Arthrosebehandlung am linken Knie stattgefunden. Im März 1996 habe er große Probleme mit dem linken Knie gehabt. Er habe diverse Orthopäden aufgesucht, um Diagnosen und Behandlungen zu bestätigen bzw. zu optimieren. Im September 1996 sei eine erste Operation in der B-W-Klinik in C P durchgeführt worden, im August 1998 eine zweite Operation in der Klinik X. Im Januar 2008 sei ihm ein Gelenkersatz im Krankenhaus C1 eingesetzt worden. Seit ca. 1998 – 1999 habe er im rechten Knie eine Arthrose, es bestünden Beschwerden mit zunehmender Tendenz.

Die Beklagte zog anschließend Berichte der den Kläger behandelnden Ärzten sowie die den Kläger betreffende Schwerbehindertenrechtsakte vom Kreis I1 bei.

Anschließend veranlasste die Beklagte eine Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition BK 2112 durch ihren Technischen Aufsichtsdienst. Dieser kam in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis, hinsichtlich der von dem Kläger ausgeübten Tätigkeiten als Landmaschinenmechaniker von 1960 bis 1969 bzw. als Betriebsschlosser/Betriebshandwerker vom 00.00.1996 bis zum 00.00.2005 habe die kumulative Berechnung der belastenden knienden Tätigkeiten 19.848 Stunden betragen.

Anschließend veranlasste die Beklagte eine Begutachtung des Klägers durch den Orthopäden und Unfallchirurgen Prof. Dr. T. Dieser kam in seinem Gutachten vom 19.11.2011 zu dem Ergebnis, im Röntgenbild beider Kniegelenke von 2007 zeige sich beidseitig eine Gonarthrose im Stadium Kellgren III. 2008 sei links eine Kniegelenkstotalprothese implantiert worden. Zu klären sei, ob die berufliche Belastung die wesentliche Teilursache der nachgewiesenen Gonarthrose beidseits darstelle, oder ob die konkurrierenden Ursachen überwögen. Anzumerken sei, dass ein typisches belastungskonformes Schadensbild einer Gonarthrose als Anerkennungsvoraussetzung für eine Berufskrankheit derzeit nicht abgrenzbar sei. Aktuell lägen keine medizinisch wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, die eine Forderung nach einer bestimmten Lokalisation oder zumindest einem verstärkten Auftreten des Knorpelschadens in einzelnen Gelenkabschnitten evidenzbasiert zulassen würden. Insofern werde an früherer Überlegung, ob und in welchen Teilen des Kniegelenks eine Gonarthrose zu erwarten wäre, wenn sie wesentlich auf berufliche Ursachen zurückzuführen sei, nicht mehr festgehalten. Damit sei entscheidend, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Entstehung einer Gonarthrose gegeben seien und ob sich im Röntgenbild eine Gonarthrose im Stadium II nach Kellgren oder größer nachweisen lasse. Beides sei bei dem Kläger gegeben. Da die Gesamtstundenzahl der kniebelastenden Tätigkeiten im Sinne einer Gonarthrose über der geforderten kumulativen Belastungsdauer liege und beidseits eine fortgeschrittene Gonarthrose nachgewiesen werden könne, liege eine Berufskrankheit nach der Nummer 2112 der Berufskrankheiten-Liste vor. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage für das rechte Knie 20 v. H., für das linke Knie 20 v. H ... Das ergebe ein Gesamt-MdE von 30 v. H. Darüber hinaus führte Herr Prof. Dr. T aus, die erste ihm vorliegende aktenkundige Erwähnung einer Gonarthrose sei vom 20.08.1998 (Arthroskopiebericht Dr. G). Aus medizinscher Sicht bestünden seit diesem Zeitpunkt Verschleißerscheinungen im Sinne einer BK 2112. Es sollte geklärt werden, ab welchem Zeitpunkt die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2112 gegeben gewesen seien.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 06.01.2012 vertrat der TAD die Auffassung, die kumulative Berechnung der belastenden knienden Tätigkeiten betrage bis zum 19.06.1998 16.654 Stunden.

Am 27.03.2012 erteilte die Beklagte einen Bescheid, mit dem sie die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nummer 2112 der Berufskrankheiten-Liste (Gonarthrose) ablehnte und darüber hinaus ausführte, Ansprüche auf Leistungen bestünden daher nicht. Die Ablehnung einer Berufskrankheit müsse unter Anwendung der Rückwirkungsklausel gem. § 6 Abs. 1 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) erfolgen. Demnach müsse für die Anerkennung der berufsbedingten Gonarthrose der Tag des Versicherungsfalls nach dem 30.09.2002 eingetreten sein. Die Gonarthrose sei erst am 01.07.2009 als Berufskrankheit in die BKV aufgenommen worden. Im Falle des Klägers habe sich die Gonarthrose medizinisch erstmalig bereits am 20.08.1998 anlässlich einer Arthroskopie manifestiert. Zu diesem Zeitpunkt seien auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen mit ca. 16.654 Stunden vollständig erfüllt gewesen. Der Tag des Versicherungsfalls wäre somit der 20.08.1998. Dieser liege außerhalb des in der Rückwirkungsklausel benannten Zeitraumes, der für die Anerkennung zwingend Voraussetzung sei. Eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine Berufskrankheit sei ebenfalls ausgeschlossen, weil der Antrag nach dem 01.07.2009 gestellt worden sei.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, es werde bestritten, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen bereits am 20.08.1998 erfüllt gewesen seien. Darüber hinaus sei das Vorliegen für die Anerkennung einer Berufskrankheit für jedes Kniegelenk gesondert zu erfassen. Die Gonarthrose des rechten Kniegelenkes sei jedoch erst nach dem 30.09.2002 festgestellt worden und bedinge ausweislich der Ausführungen des Gutachters für sich eine MdE von 20 v. H. Zumindest sei die Erkrankung wie eine Berufskrankheit gem. § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen. Der Antragszeitpunkt nach dem 01.07.2009 könne nicht, bei ansonsten zweifellos vorliegender Leistungsvoraussetzung, zu einem völligen Rechtsverlust führen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2012 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 22.11.2012 Klage erhoben.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2012 zu verurteilen, bei ihm eine Berufskrankheit nach der Nummer 2112 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und ihm Rente nach einer MdE von 30 v. H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist bei ihrer Auffassung geblieben, die angefochtene Verwaltungsentscheidung entspreche der Sach- und Rechtslage und sei nicht zu beanstanden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens von dem Orthopäden Dr. W1 nebst drei ergänzenden Stellungnahmen. Auf Inhalt und Ergebnis des Gutachtens wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte vorliegend nach Anhörung der Beteiligten gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt war und die Streitsache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies.

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 27.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2012 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, denn dieser Bescheid ist rechtswidrig.

Die Beklagte hat die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 2112 der Anlage 1 zur BKV zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 9 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Berufskrankheiten die Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer der Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Gem. § 1 BKV sind Berufskrankheiten die in der Anlage 1 bezeichneten Krankheiten. Die Nummer 2112 der Anlage 1 zur BKV erfasst die "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht".

Die bei dem Kläger bestehende Gonarthrose in beiden Kniegelenken ist nach dieser Bestimmung als Berufskrankheit anzuerkennen. Dies steht nach dem Gesamtergebnis der im Verwaltungs- und im Klageverfahren durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung des Gerichts fest. Das Gericht gründet seine Überzeugung im Wesentlichen auf das Gutachten des Orthopäden Dr. W1. Danach liegen bei dem Kläger die morphologischen Voraussetzungen der BK 2112 vor und auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen sind erfüllt. Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren lassen sich nicht benennen. Die bekannten und gesicherten Aspekte des zeitlichen Verlaufs sprechen nicht schwerwiegend gegen einen beruflichen Zusammenhang. Demnach ist es nach Auffassung des Gerichts wahrscheinlich, dass die bei dem Kläger bestehende Gonarthrose beidseits wahrscheinlich durch die kniebelastende Tätigkeit hervorgerufen worden ist, weil bei vernünftiger Abwägung aller für oder gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände die auf die berufliche Verursachung hindeutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann und die gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Faktoren billiger Weise außer Betracht bleiben können. Darüber hinaus stimmen die Feststellungen von Dr. W1 insoweit auch mit denen des im Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen Prof. Dr. T und der beratenden Ärzte der Beklagten Frau Dr. I2 in ihrer Stellungnahme vom 29.09.2014 überein, die ebenfalls die Auffassung vertreten haben, insgesamt sprächen mehr Gründe für einen Zusammenhang als dagegen. Soweit ersichtlich, ist die Frage, ob bei dem Kläger die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2112 vorliegen, auch nicht umstritten. Umstritten ist lediglich die Frage, ob der Versicherungsfall der Gonarthrose bei dem Kläger am linken Knie bereits vor dem 01.10.2002 eingetreten ist (so die Auffassung der Beklagten), sodass eine Anerkennung der Gonarthrose am linken Knie nach der Übergangsvorschrift des § 6 BKV nicht mehr möglich ist.

§ 6 Abs. 3 S. 1 BKV lautet: "Leiden Versicherte am 01.07.2009 an einer Krankheit nach Nummer 2112, 4114 und 4115 der Anlage 1, ist diese auf Antrag als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 30.09.2002 eingetreten ist." Beim dem Kläger lag der Versicherungsfall der BK 2112 vor September 2002 – und damit vor dem Stichtag des § 6 Abs. 3 S. 1 BKV – nach Auffassung des Gerichts noch nicht vor, weil zu diesem Zeitpunkt eine Gonarthrose am linken Knie im Sinne der BK 2112 noch nicht (vollständig) gesichert vorlag.

Nach der Rechtsprechung des Bundessoziallgerichts (BSG), Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 5/16 R -) tritt der Erkrankungsfall "Gonarthrose" ein, sobald ein Kniegelenk die diagnostischen Kriterien dieser Krankheit erfüllt, weil es sich bei den Verschleißerscheinungen an den Kniegelenken um einen einheitlichen Erkrankungsfall handelt. Der Versicherungsfall der Gonarthrose setzt mithin nicht voraus, dass an beiden Knien eine Erkrankung vorliegt. Dafür spricht bereits, dass der Tatbestand der BK 2112 knieübergreifend von einer "Gonarthrose" spricht, ohne dabei zwischen den beiden Kniegelenken zu differenzieren, und gleichzeitig für die Verschleißerkrankung beider Kniegelenke dieselbe Krankheitsbezeichnung verwendet. Zudem entspricht es der Systematik der GUV, mehrere Gesundheitsstörungen – selbst wenn es sich um medizinisch voneinander unabhängige Gesundheitsschäden handelt – als eine einheitliche BK und damit auch als einheitlichen Erkrankungsfall zu behandeln, wenn sie auf derselben Ursache bzw. wesentlichen Bedingung beruht, das heißt auf ein und dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen sind (BSG, a.a.O.).

Der Erkrankungsfall der BK 2112 – die "Gonarthrose" – lag betreffend beide Knie vor dem 01.10.2002 noch nicht vor. Hier müssen die Kriterien vorliegen, die nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften die Diagnose sichern. Das Recht knüpft damit an den medizinischen Diagnosebegriff und die dazu entwickelten Kriterien an. Dabei sind zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes und als Interpretationshilfe die Merkblätter heranzuziehen, auch wenn sie weder verbindliche Konkretisierungen der Tatbestandsvoraussetzungen der BK noch antizipierte Sachverständigengutachten oder eine Dokumentation des Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft sind (vgl. BSG, a.a.O.).

Nach dem Merkblatt zur BK 2112 (Bekanntmachung des BMGS vom 30.12.2009, GMBl 2010, 98, dem folgend die Begutachtungsempfehlungen des Spitzenverbandes der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung für die BK 2112 vom Juni 2014 – Begutachtungsempfehlungen -) hat die Diagnose einer Gonarthrose folgende Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:

- chronische Kniegelenksbeschwerden, - Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk bzw. gleichgestellter Funktionsstörungen wie Kniegelenkserguss, Kapselentzündung mit Verdickung oder Verplumpung der Gelenkkontur, Krepitation bei der Gelenkbewegung, hinkendes Gangbild oder Atrophie der Oberschenkelmuskulatur - die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2 bis 4 der Klassifikation von Kellgren ua.

Nach der Begutachtungsempfehlung für die Berufskrankheit Nummer 2112 (Gonarthrose) vom 03.06.2014 gibt es neben der Kellgren-Klassifikation auch die Möglichkeit, anhand von Arthroskopiebefunden und MRT-Befunden festzustellen, ob eine vorauseilende Gonarthrose vorliegt.

Hier kann dahinstehen, ob bei dem Kläger vor dem Stichtag am 30.09.2002 die Kellgrenkriterien bzw. die Analogkriterien sowie chronische Kniegelenksbeschwerden vorlagen, denn nach Auffassung des Gerichts ist nicht vollbeweislich gesichert, dass vor dem 30.09.2002 die in dem Merkblatt zur BK 2112 bzw. in den Begutachtungsempfehlungen geforderten Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk bzw. gleichgestellte Funktionsstörungen vorgelegen haben.

Wie bereits dargelegt, wird nach den Begutachtungsempfehlungen für die Berufskrankheit 2112 (Gonarthrose) die in der Wissenschaftlichen Begründung als Funktionsstörung genannte Bewegungseinschränkung in Form einer eingeschränkten Streckung und/oder Beugung im Kniegelenk in der Wissenschaftlichen Stellungnahme vom 24.10.2011 wie folgt ergänzt:

1. Kniegelenkserguss 2. Kapselentzündung mit Verdickung oder Verplumpung der Gelenkkontur 3. Krepitation bei der Gelenkbewegung 4. hinkendes Gangbild oder 5. Atrophie der Oberschenkelmuskulatur

Danach muss mindestens eine der sechs Funktionsstörungen für die Diagnose einer Gonarthrose im Sinne der Berufskrankheit 2112 vorliegen. Dies ist jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht ausreichend gesichert. Das Gericht hat den Sachverständigen Dr. W1 mit Schreiben vom 12.10.2018 gebeten, zu dem Zeitpunkt des Vorliegens relevanter Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung Stellung zu nehmen. Dr. W1 hat insoweit in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.01.2019 ausgeführt, der Bericht von Dr. G auf Bl. 185 der Gerichtsakte belege, seine Richtigkeit unterstellt, dass bereits 1998 eine Kapselschwellung und Einschränkung der Beweglichkeit des Kniegelenks bestanden habe. Ob allerdings insoweit von einem fortdauernden Befund auszugehen sei, belege der Bericht nicht sicher. Die Beantwortung der weiteren Frage des Gerichts bzgl. der sog. "Krepitation" in den Knien bedürfe zunächst der nachstehenden Klarstellung: Bei dem Befund "Krepitation" (Gelenkreiben) handele es sich um einen sehr unsicheren, sehr variablen und von der subjektiven Wahrnehmung des Untersuchers gefärbten Befund. Man müsse nur berücksichtigen, dass das bei morphologisch kniegelenkgesunden Menschen durchaus ein derartiges Krepitationsphänomen ausgelöst werden könne, ohne dass dieses Phänomen sicherer Hinweis auf eine tatsächlich pathologisch veränderte Knorpeloberfläche wäre. Es gebe im Übrigen keine gesicherten medizinischen Erkenntnisse bzgl. der Korrelation zwischen dem klinischen Phänomen "Krepitation" und dem bildmorphologischen Phänomen einer Gonarthrose. Das subjektive Phänomen der Krepitation lasse sich nach allgemeiner orthopädischer Erfahrung auch beim Menschen finden, die bildmorphologisch überhaupt nicht an einer Gonarthrose leiden. Man könne lediglich feststellen, dass bei fortgeschrittener Retropatellar-Arthrose eine schmerzhafte Krepitation sehr häufig angetroffen werden könne. Nach seiner Einschätzung erlaube der Bericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme im Dezember 1995 gesicherte Aussagen nicht, zumal zu diesem Zeitpunkt nicht etwa die Diagnose einer Gonarthrose, sondern eine "Chondropathia patellae" gestellt wurde, also einem Krankheitsphänomen, das zahlreiche Ursachen haben könne und nicht zwingend auf eine Arthrose des Kniegelenks hinweise. Bzgl. der weiteren, von dem Gericht angegebenen Berichte der B-W-Klinik aus dem Jahr 1996, dem Bericht des Herrn Dr. H aus dem Jahr 1996 und des Herrn Dr. G aus dem Jahr 1998 gälten zunächst grundsätzlich die vorstehend genannten Einschränkungen. Es sei zunächst darauf hinzuweisen, dass die Feststellung verstrichener Gelenkkonturen wie die Feststellung eines Reizergusses sehr stark von der subjektiven Einschätzung des Untersuchers abhängig sei. Das heiße, es gebe insofern selbstverständlich eindeutig pathologische Befunde, aber ein relativ breites Kontinuum von "noch eben normalen" und "gerade eben beginnend krankhaften" Befunden. Hinzu komme, dass es sich bei leichten Ausprägungsgraden dieser Befunde (verstrichene Gelenkkonturen, Reizerguss) durchaus um Befunde handeln könne, die zeitweise vorlägen, dann aber, wenn der Reizzustand zurückgehe, auch wieder verschwunden sein könnten. Wenn das Gericht insofern frage, ob das Kriterium der Kapselentzündung mit Verdickung oder Verplumpung der Gelenkkontur bereits vor dem 30.09.2002 als gesichert angesehen werden könne, sei darauf hinzuweisen, dass zeitlich punktuelle Befunde, wie sie von dem Gericht zitiert worden seien, nicht zwingend bedeuteten, dass dieser Befund auch anhaltend vorgelegen habe.

Das Gericht entnimmt dieser ergänzenden Stellungnahme von Dr. W1, dass das Kriterium "Funktionsstörungen bei der orthopädischen Untersuchung in Form einer eingeschränkten Streckung oder Beugung im Kniegelenk" bzw. einer der weiteren gleichgestellten fünf Funktionsstörungen für die Diagnose einer Gonarthrose im Sinne der BK 2112 vor dem 30.09.2002 noch nicht gesichert vorlag. Dementsprechend sind nicht alle Voraussetzungen, die nach der Rechtsprechung des BSG für die Diagnose einer Gonarthrose im Sinne der BK 2112 erforderlich sind, vor dem 01.10.2002 gesichert erfüllt gewesen.

Bei dem Kläger ist dementsprechend die BK-Folge "Zustand nach Implantation einer Knieendoprothese beidseits bei fixierter Varusgonarthrose beidseits mit verbliebener schmerzhafter Bewegungseinschränkung und anhaltendem Weichteilreizzustand" anzuerkennen.

Der Kläger hat auch Anspruch auf die Gewährung von Rente wegen der BK 2112. Nach Auffassung des Gerichts ist die Klage auch im Hinblick auf die Gewährung einer Verletztenrente zulässig, da die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 27.03.2012 die Gewährung von "Leistungen" wegen einer BK 2112 abgelehnt hat. Zu den nach § 26 ff. SGB VII zu gewährenden Leistungen gehört auch die Verletztenrente nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.

Der Kläger hat auf dieser Rechtsgrundlage ab dem 08.01.2008, dem Zeitpunkt der Implantation der Endoprothese, Anspruch auf die Gewährung von Rente nach einer MdE von 30 v.H. Führt eine Unfallverletzung oder – wie hier - berufsbedingte Gonarthrose zur Versorgung mittels einer Endoprothese, wird bei einem guten funktionellen Ergebnis unter präventiven Aspekten – verschlossener Arbeitsmarktanteil wegen Gefährdungen des Knochen-Prothesen-Verbundes infolge übermäßiger Belastungseinwirkungen – grundsätzlich von einer Mindest-MdE von 20 v.H. ausgegangen. Bei schlechter Funktion mit Streck- und Beugedefizit sind 30 % angemessen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., Seiten 686/687). Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. W1 liegt bei dem Kläger an beiden Kniegelenken eine Endoprothese vor, und es muss berücksichtigt werden, dass es sich nicht um eine regelrecht funktionierende Endoprothese handelt, vielmehr liegt an beiden Kniegelenken ein funktionell ungünstiges Streckdefizit und ein anhaltender Weichteilreizzustand vor. Im Hinblick auf die Einschätzung bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., Seite 687 hält das Gericht dementsprechend eine BK-bedingte MdE von 30 v.H. für angemessen, was letztlich auch der Einschätzung des im Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen Prof. Dr. T entspricht.

Das Gericht hat im Übrigen keine Bedenken, die Feststellungen des Sachverständigen Dr. W1 der Entscheidung zu Grunde zu legen. Der Sachverständige hat die erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage angestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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