S 11 AL 69/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 69/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 23.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2004 verurteilt, der Klägerin ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 01. bis 17.09.2004 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Minderung des an sie ausgezahlten Arbeitslosengeldes (Alg) wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin arbeitete seit 1986 bei der Firma J AG (später J GmbH) in E. Am 15.01.2004 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zum 31.07.2004; bis zum 31.08.2004 befand sich die Klägerin in Transferkurzarbeit. Am 14.05.2004 meldete sie sich arbeitslos ab dem 01.09.2004 und beantragte Alg. Nach Einholung einer Arbeitsbescheinigung gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 23.07.2004 Alg und nahm zugleich eine Minderung des Anspruchs um 245.- Euro vor, da sich die Klägerin erst am 23.01.2004 und somit um 7 Tage zu spät arbeitsuchend gemeldet habe.

Den am 05.08.2004 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 13.08.2004 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Die Klägerin behauptet, sie habe noch am 15.01.2004 bei der Beklagten angerufen, um einen Termin zu vereinbaren, sei jedoch nicht auf eine Pflicht zur unverzüglichen Meldung hingewiesen worden.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 23.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2004 zu verurteilen, ihr ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 01. bis 17.09.2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch der Klägerin nicht wegen verspäteter Meldung mindern. Die §§ 37 b und 140 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) als gesetzliche Grundlagen der Minderung sind verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine Minderung zumindest dann unterbleibt, wenn der Betroffene seine Obliegenheit zu frühzeitiger Meldung als arbeitsuchend weder kennt noch aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kennt und auch keine allgemein bekannten Verhaltenserwartungen der Versichertengemeinschaft missachtet hat.

Die Beklagte zahlt nach Maßgabe der §§ 117 ff SGB III Alg. Dass die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen hierfür erfüllt, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch auch nicht nach § 140 SGB III mindern. Nach Satz 1 dieser Vorschrift mindert sich der Anspruch auf Alg, wenn sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitsuchend gemeldet hat. Nach § 37 b Satz 1 SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden.

Die Beklagte kann sich nicht auf § 140 Satz 1 SGB III als Ermächtigungsgrundlage für die Minderung berufen, da die Klägerin – unter Zugrundelegung der gebotenen verfassungs-konformen Auslegung der §§ 37 b, 140 SGB III – den Tatbestand dieser Vorschrift nicht verwirklicht hat.

Entgegen seinem Wortlaut enthält § 37 b Satz 1 SGB III keine echte Rechtspflicht, sondern eine Obliegenheit (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.09.2004 – L 1 AL 51/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2004 – L 12 AL 2249/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.06.2004 – L 3 AL 1267/04), denn die Vorschrift verlangt dem Versicherten bereits im Stadium vor dem eigentlichen Leistungsverhältnis ein Verhalten ab, das die Versichertengemeinschaft vor dem vermeidbaren Schaden bewahren soll, der durch verzögerte Aufnahme der Vermittlungsbemühungen typischerweise entsteht (SG Berlin, Urteile vom 26.03.2004 – S 58 AL 6603/03 und 108/04, info also 2004, S. 111 f und 112 (113 f); Geiger, SGb 2004, 342, 343). Gemeinsam ist Rechtspflicht und Obliegenheit, dass ein Verstoß gegen sie nur bei vorwerfbarem Handeln sanktioniert ist und demgemäß eine nicht vorwerfbare Unkenntnis der Obliegenheit die Sanktion nicht auslöst (hierzu und zum Foglenden LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., unter Verweis auf BSG, NZS 2004, 275). Auch § 37 b Satz 1 SGB III weicht von diesem Grundsatz nicht ab: Erstens verweist bereits der Wortlaut auf eine verschuldete Meldungsverzögerung, denn "unverzüglich” bedeutet nach der – auch im Sozialrecht gültigen (SG Freiburg i. Br., Gerichtsbescheid vom 15.04.2004 – S 9 AL 3989/03; Heinrichs, in: Palandt, BGB, 63. Aufl., 2004, § 121, Rn. 3; Jauernig, in: Jauernig, BGB, 11. Aufl., 2004, § 121, Rn. 1; a.A. Coseriu/Jakob, in: Praxiskommentar SGB III, § 37 b, Rn. 8) – gesetzlichen Definition in § 121 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) "ohne schuldhaftes Zögern" (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2004 – L 5 AL 1986/04 – Az des Revisionsverfahrens: B 7 AL 80/04 R; SG Mannheim, Urteil 14.05.2004 – S 11 AL 3775/03; einschränkend Kruse, in: Gagel, SGB III, § 37b Rn. 4). Zweitens muss bei der Auslegung von § 37 b SGB III auch § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III mitgelesen werden, wonach der Arbeitgeber "über die Verpflichtung unverzüglicher Meldung ( ...) informieren” soll. Solange die Obliegenheit zur unverzüglichen Meldung noch nicht zum allgemein präsenten Wissen eines Arbeitnehmers gehört, setzt die Minderung nach § 140 SGB III daher einen entsprechenden Hinweis voraus (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.). Ein solcher Hinweis ist nicht in den Aufklärungskampagnen der Beklagten und der entsprechenden Presseberichterstattung zu sehen. Erstere dürfte den einzelnen Arbeitnehmer nur in geringem Maße erreicht haben (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.) und letztere ersetzt einen individuellen Hinweis bereits deswegen nicht, weil das Arbeitsförderungsrecht keine Obliegenheit des Arbeitnehmers enthält, die Presseberichterstattung über Rechtsänderungen zu verfolgen, auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und das Ergebnis dieser Prüfung dergestalt vorzuhalten, dass er im Bedarfsfall jederzeit darauf zurückgreifen kann (vgl. auch SG Mannheim, a.a.O.).

Die Klägerin ist nicht auf die Obliegenheit nach § 37 b Satz 1 SGB III hingewiesen worden, denn im (in den Akten der Beklagten enthaltenen) Kündigungsschreiben fehlt ein entsprechender Hinweis.

Der Regelungsgehalt des § 37 b SGB III gehört auch nicht zum allgemein präsenten Wissen eines Arbeitnehmers. Dies käme dann in Betracht, wenn die Vorschrift bereits zuvor bestehende und allgemein bekannte Verhaltserwartungen der Versichertengemeinschaft kodifizierte (SG Berlin, Urteil vom 26.03.2004 – S 58 AL 6603/03, a.a.O.). Statt dessen bricht § 37 b SGB III gerade mit der bisherigen Rechtslage und dem hierauf basierenden überkommenen Rechtsbewußtsein (ausführlich LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., SG Berlin, a.a.O., S. 112). So erklärt § 122 Abs. 1 Satz 2 SGB III eine vor Eintritt der Arbeitslosigkeit (§ 119 SGB III) erfolgte Arbeitslosmeldung unter den bestimmten Voraussetzungen für zulässig, aber gerade nicht für erforderlich, während der Bezug von Alg nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB III grundsätzlich gegenwärtige (und nicht zukünftige) Arbeitslosigkeit voraussetzt.

Die vorangehende Auslegung der §§ 37 b, 140 SGB III hält das Gericht schließlich auch aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Eine gesetzliche Regelung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht verfassungswidrig, solange eine nach den anerkannten Grundsätzen über die Interpretation von Gesetzen zulässige Auslegung möglich ist, die mit dem Grundgesetz (GG) in Einklang steht (BVerfGE 69, 1, 55 m.w.N.). Die §§ 140 Satz 1 i.V.m. 37 b Satz 1 SGB III ordnen eine Minderung des von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erfassten Anspruchs auf Alg (BVerfGE 72, 9; BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 – 1 Bvl 15/83; ganz h.M.) an. Sie fungieren somit als Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. nur SG Aachen, Urteil vom 18.06.2004 – S 8 AL 82/04; SG Frankfurt an der Oder, Beschluss vom 01.04.2004 – S 7 AL 42/04, h.M.) und müssen als solche zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks geeignet und erforderlich sein. Schließlich darf sich der Grundrechtseingriff für den Betroffenen auch nicht übermäßig belastend auswirken, d.h. die Belastung und der mit ihr verfolgte gesetzgeberische Zweck müssen in einem wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, vgl. BVerfGE 72, 66, 77 f.). Eine Minderung des Alg nach den §§ 37 b, 140 SGB III ist in Fällen wie dem vorliegenden zumindest unverhältnismäßig im engeren Sinne (bereits gegen Geeignetheit und Erforderlichkeit SG Frankfurt an der Oder, a.a.O.). Der durch die §§ 37 b, 140 SGB III angestrebte Zweck liegt in einer möglichst frühzeitige Vermittlung der demnächst Arbeitslosen und im Idealfall in der Vermeidung von Arbeitslosigkeit überhaupt, weswegen in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/25 S. 31) von der Minderung als pauschalem Schadensausgleich zugunsten der Versichertengemeinschaft die Rede ist. Ein grobes Mißverhältnis zwischen diesem Zweck und der gesetzlich angeordneten Sanktion liegt nach Auffassung der Kammer aber jedenfalls dann vor, wenn der demnächst Arbeitslose seine Obliegenheit nicht wenigstens grob fahrlässig verkennt und aus seiner Sicht alle erforderlichen Schritte unternimmt, um seine baldige Vermittlung zu fördern. Dies ist dann der Fall, wenn die Meldung als arbeitsuchend bereits vor Eintrit der Arbeitslosigkeit erfolgt und der Versichertengemeinschaft kein besonderer – über den Ausfall von Vermittlungstätigkeit hinausgehender – Schaden entstanden ist.

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klägerin diese allgemeine Verhaltenserwartung der Versichertengemeinschaft (eigene Bemühungen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit) erfüllt hat. Unter Zugrundelegung des von der Beklagten angenommenen Zeitpunkts der Meldung am 23.01.2004 hat sie sich mehr als 7 Monate vor Eintritt der Arbeitslosigkeit (01.09.2004) arbeitsuchend gemeldet. Dass die Beklagte hingegen an den 5 dienstbereiten Tagen zwischen dem 15. und dem 23.01.2004 keine Vermittlungsbemühungen entfalten konnte, fällt angesichts einer solch langen "Vorlaufzeit" nicht derart wesentlich ins Gewicht, dass die Klägerin mit einem pauschalierten Schadensausgleich wegen entgangener Vermittlungschancen belastet werden dürfte.

Dieser verfassungskonformen Auslegung der §§ 37 b Satz 1, 140 SGB III lässt sich schließlich auch nicht entgegenhalten, die Minderung von Alg werde durch einen Schadensersatzanspruch gegen den früheren Arbeitgeber wegen Nichtbeachtung der der gesetzlichen Hinweispflicht kompensiert. Es kann dahinstehen, ob und inwieweit zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen private Dritte überhaupt geeignet sind, um Grundrechtseingriffe auszugleichen. Jedenfalls hat die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung einen derartigen Schadensersatzanspruch bislang abgelehnt (LAG Düsseldorf, Urteil vom 29.09.2004 – 12 Sa 1323/04; LAG Hamm, Urteil vom 07.09.2004 – 19 Sa 1248/04 m.w.N. – Az des Revisionsverfahrens: 8 AZR 571/04; ArbG Verden, Urteil vom 27.11.2003 – 3 Ca 1567/03, NZA-RR 2004, 108 f, mit zust. Anm. Heins/Höstermann, BB 2004, 1633 f; hierzu auch Geiger, a.a.O., S. 343 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung auf § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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