S 77 AL 3781/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
77
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 77 AL 3781/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Bescheide der Beklagten vom 2. und 3. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2004 werden abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin bereits seit dem 1. Juni 2004 Arbeitslosengeld täglich in Höhe von 10,50 Euro ohne Leistungsminderung zu zahlen.
3. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
4. Berufung und Revision werden zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Minderung des Arbeitslosengeldes der Klägerin im Hinblick auf eine Verspätung der Meldung zur frühzeitigen Arbeitsuche.Die 1983 geborene Klägerin bezog von der Beklagten nach Abschluss ihrer Ausbildung seit November 2003 Arbeitslosengeld. Sie nahm zum 1. Dezember 2003 ein auf ein halbes Jahr befristetes Arbeitsverhältnis als Friseurgesellin auf. Die Arbeitsaufnahme teilte sie der Beklagten mit der Veränderungsmitteilung vom 2. Dezember 2003 mit, nicht jedoch die Befristung des Beschäftigungsverhältnisses. Seit November 2003 war die Klägerin schwanger, was ihr im Dezember 2003 bekannt wurde.Am 5. Mai 2004 beantragte die Klägerin Arbeitslosengeld und meldete sich persönlich bei der Beklagten arbeitslos. Antragsgemäß bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 3. Juni 2004 Arbeitslosengeld ab 1. Juni 2004. Der Höhe der Leistung legte die Beklagte ein gerundetes wöchentliches Bemessungsentgelt von 155 EUR und einen Leistungssatz von wöchentlich 73,50 EUR zu Grunde. Unter Anrechnung eines wöchentlichen Betrages von 36,75 EUR ergab sich danach ein täglicher Zahlbetrag von 5,25 EUR. Mit Schreiben vom 2. Juni 2004 teilte die Beklagte ergänzend zu dem gesondert zugehenden Bewilligungsbescheid der Klägerin Folgendes mit: Diese hätte sich spätestens am 1. März 2004 arbeitsuchend melden müssen. Die Meldung sei 65 Tage zu spät erfolgt. Ihr Leistungsanspruch mindere sich deshalb um sieben Euro pro Verspätungstag (maximal 30 Tage), also 210 EUR. Die Anrechnung beginne am 1. Juni 2004 und ende voraussichtlich am 10. Juli 2004. Nach Beendigung der Anrechnung erhalte die Klägerin einen neuen Bescheid. Dieses Schreiben enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung; wegen der weiteren Einzelheiten des Bescheides vom 3. Juni und des Schreibens vom 2. Juni 2004 wird auf die Gerichtsakte bzw. die Verwaltungsakte Bezug genommen.Gegen die Kürzung wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 9. Juni 2004. Nach § 37b Drittes Buch Sozialgesetzbuch-Arbeitsförderung (SGB III) habe sich ein Arbeitsuchender frühestens drei Monate vor Beendigung des befristeten Arbeitsverhältnisses zu melden. Dies habe die Klägerin getan. In der Vorschrift stehe nicht, dass die Meldung spätestens drei Monate vor Beschäftigungswende erfolgen müsse.Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2004 zurück. Die Regelung sei der Klägerin durch das ihr im November 2003 ausgehändigte Merkblatt bekannt gewesen. Die Einwendungen der Klägerin seien deshalb unbeachtlich.Mit ihrer Klage vom 7. Juni 2004 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Ihr Arbeitgeber habe das befristete Arbeitsverhältnis bei günstiger Auftragslage verlängern wollen. Erst im Mai habe die Klägerin erfahren, dass eine Verlängerung nicht erfolgen werde. Sie habe sich sodann unverzüglich bei der Beklagten gemeldet. Außerdem habe die Beklagte nicht berücksichtigt, dass die Klägerin wegen ihrer bestehenden Schwangerschaft eine neue Stelle ohnehin nicht erhalten hätte.Die Klägerin beantragt,1. die Bescheide der Beklagten vom 2. und 3. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2004 abzuändern, 2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin bereits seit dem 1. Juni 2004 Arbeitslosengeld täglich in Höhe von 10,50 EUR ohne Leistungsminderung zu zahlen.Die Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen undBerufung und Revision zuzulassen, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage richtet sich zulässig gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004. Soweit sie sich auch gegen das Schreiben vom 2. Juni 2004 wendet, kann das Gericht den Charakter dieses Schreibens offen lassen, weil jedenfalls keine vom Bescheid vom 3. Juni 2004 abweichenden Rechtsfolgen angeordnet wurden. Allerdings liefert dieses Schreiben die nach § 35 SGB X erforderliche Begründung für die von der Klägerin statthaft angefochtene Leistungskürzung. Da die Beklagte offensichtlich einen Zusammenhang zwischen dem Bescheid vom 3. Juni 2004 und dem Schreiben vom 2. Juni 2004 herstellen wollte und die Klägerin auch einheitlich gegen beide Äußerungen der Behörde vorgegangen ist und dabei sämtliche Fristen – unabhängig, welches der beiden Schreiben man für maßgeblich halten wollte – gewahrt wurden, muss nicht geklärt werden, ob das Schreiben vom 2. Juni 2004 selbst Verwaltungsakt, Teil des Bescheides vom 3. Juni 2004 oder eine eigenständige Behördenäußerung ist.Die Klägerin hatte seit 1. Juni 2004 Anspruch auf Arbeitslosengeld ohne Leistungsminderung nach §§ 140, 37b SGB III. Die angefochtenen Bescheide sind insofern rechtswidrig und verletzen Rechte der Klägerin.Nach § 140 Satz 1 SGB III mindert sich das Arbeitslosengeld, wenn sich der Arbeitslose entgegen § 37b SGB III nicht unverzüglich arbeitsuchend gemeldet hat. Gemäß § 37b SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden (Satz 1). Im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses hat die Meldung jedoch frühestens drei Monate vor dessen Beendigung zu erfolgen (Satz 2). Die Pflicht zur Meldung besteht unabhängig davon, ob der Fortbestand des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht wird (Satz 3). Die Leistungsminderung beträgt nach § 140 Satz 2 SGB III bei einem Bemessungsentgelt bis zu 400 EUR sieben Euro (Nr. 1) und bei einem Bemessungsentgelt bis zu 700 EUR 35 Euro (Nr. 2) für jeden Tag der verspäteten Meldung. Nach Satz 3 der Vorschrift ist die Minderung auf den Betrag begrenzt, der sich bei einer Verspätung von 30 Tagen errechnet. Die Minderung erfolgt, in dem der Minderungsbetrag auf das halbe Arbeitslosengeld angerechnet wird (Satz 4). Diese Regelung ist seit 1. Juli 2003 in Kraft. Eine nähere Bestimmung, wie das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich” in § 37b Satz 1 und § 140 Satz 1 SGB III zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch nicht vorgenommen. Die Kammer legt dieses Tatbestandsmerkmal dahingehend aus, dass "unverzüglich” in §§ 37b, 140 SGB III lediglich ein Zögern meint, das weder grobfahrlässig oder vorsätzlich ist. Diese Auslegung bleibt im Rahmen des Wortlautes der Vorschrift, denn "unverzüglich” bedeutet "ohne Verzug”, beinhaltet nach seinem semantischen Gehalt ein rechtfertigendes/entschuldigendes Moment, das eine Abweichung vom sofortigen/ unmittelbaren Handeln zulässt. Dies wird auch von der Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB berücksichtigt. Diese ist jedoch nicht zwingend für die hier maßgebliche Regelung heranzuziehen, denn der Gesetzgeber hat keinen ausdrücklichen Verweis dahingehend gemacht, dass die zivilrechtliche Legaldefinition auch für die hier relevante sozialrechtliche Sanktionsvorschrift berücksichtigt werden solle. Daher kann und muss erst eine Auslegung der konkreten Vorschrift ergeben, inwieweit derselbe Maßstab bei beiden Regelungen zu gelten hat. Das Gericht legt der Rechtsanwendung einen anderen, engeren Verschuldensmaßstab zu Grunde, als dies etwa bei § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB oder § 122 Abs. 2 Ziff. 2 SGB III zu fordern wäre. Für diese Vorschriften wird nach zutreffend herrschender Meinung jedes schuldhafte – auch leicht fahrlässige – Zögern als relevante Verletzung der Pflicht zum unverzüglichen Handeln angesehen. Einen solchen weiten, strengen Verschuldensmaßstab hält die Kammer bei der hier maßgeblichen Regelung aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten, insbesondere wegen sich sonst ergebender verfassungsrechtlicher Probleme, für unzulässig.Zweck der Regelung ist es, die Arbeitsagentur bzw. das Job-Center bereits bei Erhalt der Kündigung bzw. unmittelbar nach Vereinbarung eines Aufhebungsvertrages über die drohende Arbeitslosigkeit zu informieren und Vermittlungsbemühungen zu beginnen, damit der Versicherungsfall vermieden bzw. der Leistungsumfang reduziert werden kann. Der Gesetzgeber ging dabei davon aus, dass in einem relevanten Umfang durch frühzeitige Vermittlungsbemühungen der Eintritt der Arbeitslosigkeit verhindert, zumindest aber der Leistungsumfang durch eine geringere Dauer der Arbeitslosigkeit vermindert werden könne. (Bericht der Hartz-Kommission Seite 82 und BT-Drucksache 15/25 Seite 27)Durch diese Regelung wurde für die Versicherten eine Pflicht zur frühzeitigen Meldung der Arbeitsuche normiert. Ihr liegt die Obliegenheit der Versicherten, den Eintritt des Versicherungsfalles zu vermeiden, zu Grunde (Spellbrink in Eicher/Schlegel SGB III, § 37b Rn. 23 f.). Die in § 37b formulierte Pflicht wird durch die Sanktionsvorschrift des § 140 SGB III abgesichert. Allerdings sieht das Gesetz keine Sanktionsnormen für den Fall vor, dass der Versicherte nach seiner Meldung der Arbeitssuche bei der Arbeitsagentur keine Eigenbemühungen zur Vermeidung des Versicherungsfalles oder Reaktionen auf Stellenangebote durch das Arbeitsamt oder Dritte unternimmt (anders ab 1. Januar 2005: § 144 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 2 SGB III). Die Normierung einer solchen Pflicht hält die Kammer nicht nur für zulässig sondern für ausgesprochen systemgerecht. Die Verwirklichung der frühzeitigen Meldepflicht stellt regelmäßig nur eine sehr geringfügige Belastung der Versicherten dar und ist im Hinblick auf das Regelungsziel ohne weiteres zumutbar. Jedoch muss der Gesetzgeber, wenn er die Verletzung der Meldepflicht unter eine Sanktion stellt, die Zweck-Mittel-Relation beachten. Dies gilt um so mehr, wenn er keine verbindlichen und sanktionsbewehrten Pflichten für das Verhalten bei der Realisierung/Umsetzung der durch die Meldung erteilten Informationen vorsieht. Unter diesem Gesichtspunkt hält die Kammer die angeordneten Sanktionen jedenfalls dann für unverhältnismäßig, wenn der Pflichtverletzung lediglich einfache oder gar leichte Fahrlässigkeit zu Grunde liegt. Die in § 140 SGB III angeordneten Sanktionen entsprechen je nach Fallkonstellation ihrem Umfang nach Sperrzeiten von bis zu sechs Wochen. (vgl. insoweit Beschluss SG Frankfurt-Oder vom 1. April 2004 Az.: S 7 AL 42/04 Bl. 19 des Umdrucks) Berücksichtigt man die in § 140 Satz 4 SGB III vorgesehene Realisierung der Sanktion, ergibt sich wohl regelmäßig für die Betroffenen eine der Sperrzeit vergleichbare Situation, weil durch die Reduzierung der Leistungshöhe auf die Hälfte regelmäßig Sozialhilfebedarf entstehen dürfte, sofern nicht Einkommen/Vermögen vorhanden sind. Das vergleichbare, eine Sperrzeit auslösende Verhalten der Versicherten führt jedoch erst bei grober Fahrlässigkeit zur Sanktion.Überlässt der Gesetzgeber sowohl den Versicherten als auch den Arbeitsagenturen ein völlig freies Ermessen dahingehend, ob überhaupt und wie Maßnahmen zur Erlangung einer neuen Arbeitsstelle ergriffen werden, und wird Untätigkeit nicht in irgendeiner Form geahndet, kann nach Auffassung der Kammer die Sanktion für den Verstoß gegen eine pure Formalie, nämlich die persönliche Anzeige der Arbeitssuche, allenfalls bei einem schweren Verschulden mit der vom Gesetzgeber vorgesehenen Härte vorgenommen werden. Anderenfalls würde der Eingriff in das durch Beiträge erdiente Recht auf Arbeitslosengeld, das als Eigentum dem Schutz des Art. 14 GG unterliegt, unverhältnismäßig sein und insofern gegen Art. 14 GG und Art. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Zwar ist die auferlegte Meldeverpflichtung regelmäßig leicht zu realisieren und die Anknüpfung einer Sanktion bereits dann zulässig, wenn nur die abstrakte Möglichkeit der Nichterreichung der Regelungszwecke zu besorgen ist. Jedoch ist insofern zu beachten, dass grundsätzlich eine Sanktion nur dann verhältnismäßig ist, wenn die Pflichtverletzung und der Eintritt des zu verhindernden Erfolges in einem Kausalitätsverhältnis stehen, zumindest bei generalisierender/abstrakter Betrachtung. Dabei muss der Gesetzgeber vom Regelfall und darf nicht von der Ausnahmesituation ausgehen, insbesondere wenn er Sanktionen bei Verletzung von Pflichten, die nur bei abstrakter, generalisierender Betrachtung zur Verfehlung der Regelungszwecke führen, vorsieht. Anderenfalls würde ein purer Formalienverstoß ggf. schwer geahndet, obwohl gerade im Regelfall, also in für das Rechtsleben typischer Weise eine Gefahr für die Regelungszwecke nicht besteht. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist derartige Förmelei unzulässig. Kann im Regelfall nicht davon ausgegangen werden, dass eine frühzeitige Meldung bei der Bundesagentur zur Verhinderung oder Verkürzung des Arbeitslosengeldbezuges führt, fehlt es regelmäßig an der erforderlichen Kausalität zwischen Pflichtverletzung und zu vermeidendem Erfolg, so dass eine Sanktion aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (mangels Eignung) gänzlich ausscheidet. Der vorliegenden Regelung ist nicht abzusprechen, dass sie für einen Gesellschaftszustand der Vollbeschäftigung ein sachgerechtes Normierungskonzept beinhaltet, weil bei Vollbeschäftigung eine schnelle Vermittlung regelmäßig möglich ist. Dies darf für den seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Zustand einer schweren Massenarbeitslosigkeit ohne Aussicht auf Erreichung von Vollbeschäftigung in absehbarer Zeit ernsthaft in Frage gestellt werden. Insofern teilt die Kammer die Bedenken der Eignung der Regelung (Spellbrink a.a.O. § 140 Rn. 45 f.; SG Frankfurt-Oder a.a.O. S. 15). So konnte in keinem der heute von der Kammer verhandelten 6 Fälle, selbst bei Meldung acht Monate vor der Arbeitslosigkeit, die Beklagte auch nur einen einzigen Vermittlungsvorschlag machen. Dies wird von aktuellen Presseberichten bestätigt (z.B. "Fiasko bei Job-Vermittlung” Berliner Zeitung, 01.12.2004 Seite 1 unter Bezugnahme auf Äußerungen des Vorsitzenden des Verwaltungsrates der BA). Fehlt es an der regelmäßigen Eignung der Regelung, sind durch die Behörden und die Gerichte die Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung auszuschöpfen, um im Einzelfall verfassungswidrige Folgen zu vermeiden. Dies spricht für eine Lösung über einen engen Verschuldensmaßstab.Unterstellt man die generelle Eignung der Vorschrift, ist auch im Einzelfall eine Sanktion nur verhältnismäßig, wenn die Pflichtverletzung grundsätzlich zum zu vermeidenden Erfolg geführt hat oder bei zulässiger generalisierender/abstrakter Betrachtung regelmäßig führt. Dann muss jedoch zur Vermeidung unverhältnismäßiger Eingriffe berücksichtigt werden, dass allenfalls geringes Verschulden vorliegt, wenn der Betroffene in seinem konkreten Fall davon ausgegangen ist und davon ausgehen konnte, dass eine Pflichtverletzung seinerseits erfolgsneutral sei. Daher kann im Einzelfall allenfalls ein geringer Schuldvorwurf erhoben werden kann, wenn der Betroffene zutreffend davon ausgehen konnte, dass eine frühere Meldung nicht zu einer Vermittlung geführt haben würde. Dies wird um so mehr zu gelten haben, wenn eine lang anhaltende schwere Massenarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist und beim Betroffenen nicht Besonderheiten vorliegen, die regelmäßig seine Vermittlung in besonderem Maße begünstigen. Die Plausibilität dieser Vorstellung und die Glaubhaftigkeit ihrer Behauptung im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren lassen sich anhand der nach der Meldung erfolgten Vermittlungsbemühungen indiziell überprüfen. Ein Betroffener wird aber auch mit dem Argument gehört werden müssen, dass er eine wenig versprechende Vermittlung durch die Arbeitsagentur erst aufgesucht habe, nachdem er aus seiner Sicht viel versprechende Bewerbungsbemühungen etwa betriebsintern ergebnislos ausgeschöpft hatte und die Meldung bei der Beklagten immer noch in einem erheblichen Abstand vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit erfolgt. Angesichts der Härte der Sanktionen des § 140 SGB III, die eine Differenzierung nach dem Verschuldensgrad nicht zulassen, erscheint die Anordnung der Sanktionen in Fällen leichterer Fahrlässigkeit wie in den dargestellten Fallkonstellationen als unverhältnismäßig. Dem wird eine Auslegung, wie von der Kammer bevorzugt, gerecht.Darüber hinaus gebietet die gleichheitswidrige Strukturierung der Sanktionshöhen durch die seltsame Stufung in § 140 Satz 2 SGB III die Ausschöpfung der Möglichkeiten verfassungskonformer Auslegung. Die vorgesehenen Steigerungen der Leistungskürzungen in Abhängigkeit vom Bemessungsentgelt lassen ein für Sanktionsvorschriften taugliches Konzept nicht ansatzweise erkennen. So erscheint völlig unklar, wieso von der ersten zur zweiten Stufe ein Sprung der Sanktionshöhe auf das Fünffache (um 400 Prozent) und der von der zweiten auf die dritte Stufe um lediglich ca. 43 Prozent vorgesehen worden. Insofern erscheint auch die Festlegung der Stufen-Grenzen nicht einleuchtend. Insbesondere Betroffene der zweiten Stufe müssen im Vergleich zu Betroffenen in den anderen beiden Stufen im Verhältnis deutlich schärfere Sanktionen aushalten, ohne dass dafür ein in den Sanktionsgründen und -zwecken ersichtlicher Grund vorliegen könnte. Fehlt es für Ungleichbehandlungen an vernünftigen oder sonst wie einleuchtenden Gründen, ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ein relevanter Eingriff in das Gleichheitsgrundrecht zu besorgen. Im Computer-Zeitalter ist eine pauschale prozentuale Berechnung ohne erheblicheren Verwaltungsaufwand möglich, so dass verwaltungspraktische Gesichtspunkte die vorliegende Regelung nicht rechtfertigen können (während ein Arbeitsloser, der knapp über der Geringfügigkeitsgrenze verdiente – BE: 95 EUR – für jeden Verspätungstag 7,4 % seines Wochenbruttoentgelts bei der Sanktion einsetzen muss und ein Durchschnittsverdiener – BE 560 EUR – 6,3 % muss ein Beitragbemessungsgrenzen-Verdiener – BE 1175 EUR – nur 4,25 % einsetzen).Eine im Hinblick auf Art. 3 GG bedenkliche Ungleichbehandlung würde auch dann vorliegen, wenn Arbeitnehmern, die aus befristeten Arbeitsverhältnissen ausscheiden, eine längere Frist zur Meldung der Arbeitssuche eingeräumt würde, wie dies § 37b Satz 2 SGB III vorzusehen scheint. Für eine solche Ungleichbehandlung gibt es nach Auffassung der Kammer keinen vernünftigen oder sonst wie einleuchtenden Grund. Hier würden Versicherte in befristeten Beschäftigungsverhältnissen vor Sanktionen geschützt und gegenüber Arbeitnehmern, die in mindestens acht Jahre dauernden, unbefristeten Arbeitsverhältnissen standen, bevorzugt. Nach § 622 Abs. 2 BGB beträgt die Kündigungsfrist drei Monate zum Ende eines Kalendermonats, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen acht Jahre bestanden hat. Ein Grund oder Zweck einer solchen Bevorzugung ist für die Kammer nicht erkennbar. Vielmehr geht die Kammer davon aus, dass Arbeitnehmer, die aus langjähriger Beschäftigung ausscheiden, wegen ihrer aktuellen, präsenten erheblichen Berufserfahrung deutlich leichter zu vermitteln sind als Arbeitnehmer, die nur in – regelmäßig aus Zwecken der Arbeitserprobung – befristeten Beschäftigungsverhältnissen tätig waren. Da der Gesetzgeber vom Regelfall auszugehen hat, findet sich kein überzeugender oder einleuchtender Grund für diese Ungleichbehandlung. Verfassungswidrige Folgen für die Betroffenen können auch insofern vermieden werden, wenn man einen engen Verschuldensmaßstab angelegt und auch bei unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen eine Meldung der Arbeitssuche, die erst drei Monate vor Beschäftigungsende erfolgt, als nicht grobfahrlässig beurteilt.Für den Fall der Klägerin ergibt sich aus diesen Kriterien, dass ihre am 5. Mai 2004 erfolgte Meldung der Arbeitsuche nicht als zumindest grobfahrlässige Verspätung beurteilt werden kann, obwohl ihr durch das anlässlich ihrer ersten Arbeitslosigkeit ausgehändigte Merkblatt die Pflicht zur frühzeitigen Meldung bekannt war. Ein grobfahrlässiges Zögern lässt sich bei der Klägerin deshalb nicht feststellen, weil sie ein aus ihrer Sicht Erfolg versprechendes Verlängerungsangebot im Kontext ihrer bisherigen Beschäftigung als deutlich aussichtsreicher beurteilte und beurteilen durfte als eine Vermittlungstätigkeit seitens der Beklagten. Ihre Annahme, auch bei einer früheren Meldung nicht schneller von der Beklagten vermittelt zu werden, schließt grobe Fahrlässigkeit aus. Dies folgt daraus, dass man auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt feststellen muss, dass Schwangere deutlich schwerer in das Erwerbsleben integriert werden können, so dass die Klägerin von einer erschwerten Vermittelbarkeit ausgehen durfte. Die Vermittelbarkeit der Klägerin begünstigende Umstände lassen sich schon gar nicht erkennen. Auch der tatsächliche Verlauf der Vermittlungsbemühungen bestätigt, dass die Klägerin auch bei früherer Meldung nicht vermittelt worden wäre. Die Beklagte hat der Klägerin bis zum Termin der mündlichen Verhandlung nicht ein Stellenangebot unterbreitet.Schließlich ist im Falle der Klägerin zu berücksichtigen, dass sie einem – zumindest grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz ausschließenden und deshalb insofern beachtlichen – Subsumtionsirrtum unterlag. Sie meinte, dass die Regelung des § 37b Satz 2 SGB III eine von Satz 1 unabhängige Fristbestimmung enthalte und durch die Formulierung "frühestens” kein "spätester” Zeitpunkt gesetzlich bestimmt sei. Dieser Irrtum ist zwar vermeidbar. Insbesondere hätte eine einfache Nachfrage der Klägerin bei der Beklagten oder ihrem Anwalt Klarheit geschaffen. Jedoch kann das Unterlassen einer solchen Klärung noch nicht als besonders schwere Sorglosigkeit bewertet werden.Da hinsichtlich der anderen Leistungsvoraussetzungen der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004 bestandskräftig wurde und das Gericht bindet, war die Beklagte zu einer Leistung ohne Kürzung zu verurteilen.Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverteidigung.Berufung und Revision waren wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen (§§ 144 Abs. 2 Ziff. 1, 160 Abs. 2 Ziff. 1, 161 Abs. 2 SGG).

Anm: Berufung eingelegt zum Az: L 6 AL 14/05
Rechtskraft
Aus
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