L 7 P 19/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 162/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 19/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.02.2004 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01.09.2002 streitig.

Für die 1978 geborenen Klägerin wurden am 10.02.1995 erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragt. Der mit der Erstellung eines Gutachtens beauftrage Dr.P. vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Bayern (MDK) kam in seinem Gutachten vom 05.04.1995 zu dem Ergebnis, der durchschnittliche Pflegebedarf betrage täglich 38,5 Minuten. Mit Bescheid vom 04.05.1995 lehnte die Beklagte eine Leistungsgewährung zunächst ab. Auf den Widerspruch hin stellte Dr.P. fest, bezüglich des Zähneputzens bestehe ein Überwachungsbedarf von täglich 6 Minuten und für das Säubern nach dem Stuhlgang ein Hilfebedarf von täglich 5 Minuten, weshalb sich in der Grundpflege ein durchschnittlicher Pflegebedarf von 49 Minuten ergebe. Die Beklagte gab daraufhin dem Widerspruch statt und bewilligte Leistungen nach Pflegestufe I.

Bei Nachuntersuchungen durch die Pflegefachkraft R. vom MDK am 22.05.1997 und 16.06.1999 wurde ein Grundpflegebedarf von 50 bzw. 60 Minuten und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von jeweils 60 Minuten festgestellt, weshalb der Klägerin weiterhin Leistungen bewilligt wurden.

In dem nach einer weiteren Untersuchung am 26.04.2002 erstellten Gutachten vom 15.05.2002 vertrat R. die Ansicht, für die Grundpflege seien nur noch 15 Minuten und für die hauswirtschaftliche Versorgung 45 Minuten erforderlich. Mit Bescheid vom 28.08.2002 hob die Beklagte mit Wirkung 01.09.2002 die Bewilligung von Leistungen ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2002 zurück.

Zur Begründung der zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhobenen Klage ist für die Klägerin vorgetragen worden, es sei keine wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen, die zur Bewilligung der Leistung geführt haben, eingetreten.

Das SG hat die Unterlagen der P.-Werkstätten, die die Klägerin besucht, und einen Befundbericht des Allgemeinarztes W. beigezogen. Es hat den Internisten und Sozialmediziner Dr.G. zum Sachverständigen bestellt. Dieser hat die Klägerin am 28.11.2003 zu Hause untersucht und in seinem Gutachten vom 30.11.2003 dargelegt, bei den in dem letzten Gutachten des MDK beschriebenen Veränderungen handele es sich lediglich um eine andere gutachterliche Einschätzung, was auch mit Verständigungsschwierigkeiten mit der Mutter der Klägerin zu begründen sei. Eine wesentliche Änderung bezüglich des Pflegebedarfes sei nicht eingetreten. Dieser betrage bei den grundpflegerischen Verrichtungen täglich 54 und in der hauswirtschaftlichen Versorgung 60 Minuten.

Mit Urteil vom 09.02.2004 hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Dr.G. habe zur Überzeugung des Gerichts den pflegerischen Bedarf zutreffend ermittelt und sachgerecht bewertet. Im Vordergrund stehe der frühkindliche Hirnschaden, der als dauerhafte Behinderung den Hilfebedarf der Klägerin seit jeher geprägt habe. Bei Bewilligung der Pflegestufe I im Juli 1995 sei die Klägerin 17 Jahre alt gewesen, so dass ein Abzug für gleichaltrige gesunde Kinder nicht vorzunehmen gewesen sei. Im Vergleich zum April bzw. Juli 1995 sei keine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X eingetreten. Nach wie vor betrage der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege mehr als 45 Minuten.

Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, es sei nicht nachvollziehbar, inwieweit die Klägerin bei normaler Kraftentwicklung und freier Beweglichkeit der unteren Extremitäten Hilfe bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung benötige. Gleiches gelte für die Verrichtung Blasen-/Darmentleerung. Aufgrund des sehr positiven Berichtes der P.-Werkstätten werde eine Nachfrage bei den Mitarbeitern der WfB Belege zu dem tatsächlichen Umfang der Hilfeleis- tungen bei der Grundpflege liefern. Die Klägerin nehme unter anderem ihre Mittagsmahlzeit in der Einrichtung ein, auch erfolgten während des dortigen Aufenthaltes Toilettengänge.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.02.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat von den P.-Werkstätten eine Auskunft vom 10.08.2004 eingeholt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, da die Entscheidung der Beklagten, die Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01.09.2002 aufzuheben, nicht rechtmäßig ist.

Voraussetzung für die Aufhebung der Bewilligung von Pflegestufe I ist der Nachweis, dass gegenüber den Verhältnissen, die bei Bewilligung dieser Leistung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X in der Weise eingetreten ist, dass nunmehr die Voraussetzungen für die Leistung nicht mehr vorliegen. Zu Recht hat das SG ausgeführt, dass dieser Nachweis nicht geführt ist.

Die Klägerin war bei der Erstuntersuchung 1995 bereits 16 1/2 Jahre als und hatte damit ein Alter erreicht, in dem gleichaltrige Gesunde keinen Pflegebedarf mehr haben. Die Untersuchungen in den Jahren 1997 und 1999 haben weiterhin einen Grundpflegebedarf von zuletzt 60 Minuten ergeben, wobei die Klägerin bei der Untersuchung am 16.06.1999 schon annähernd 21 Jahre alt war. Dass demgegenüber nun eine so wesentliche Verselbständigung eingetreten sein soll, dass der Grundpflegebedarf nur noch 15 Minuten beträgt, ist nicht nachvollziehbar. Wie Dr.G. aufgrund der von ihm angetroffenen Untersuchungssituation dargelegt hat, beruht die Einschätzung der Pflegefachkraft R. wohl darauf, dass die spontanen Angaben der Mutter zum Pflegebedarf nicht verlässlich sind und diesbezüglich eine eingehende Befragung erforderlich ist.

Auch zur Überzeugung des Senats hat Dr.G. den aktuellen Pflegebedarf zutreffend festgestellt und bewertet. Für die Teilwäsche des Oberkörpers einschließlich des Haarewaschens ist Hilfe im Umfang von täglich 6 Minuten erforderlich. Für das Duschen, das etwa dreimal pro Woche erfolgt, sind 9 Minuten täglich anzusetzen; trotz nur teilweiser Übernahme dieser Verrichtungen ist die überwiegende Anwesenheit der Pflegeperson zur Überwachung notwendig. Für die Hilfe bei der Zahnpflege und dem Kämmen sind jeweils 6 Minuten erforderlich.

Bei der Blasen- und Darmentleerung sind 16 Minuten (8 x je 2 Minuten) anzusetzen, da insbesondere die Nachreinigung erforderlich ist. Beim Ankleiden benötigt die Klägerin Hilfe im Umfang von 5 Minuten, da auch insoweit die Anwesenheit der Pflegeperson erforderlich ist.

Damit ergibt sich bereits aufgrund dieser Verrichtungen ein Pflegebedarf von 48 Minuten. Deshalb kann dahinstehen, ob Dr.G. zu Recht angenommen hat, dass für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung bei drei Mahlzeiten insgesamt 6 Minuten täglich Hilfebedarf besteht; von Seiten der P.-Werkstätten wurde in der Auskunft vom 10.08.2004 angegeben, bei der Einnahme des Mittagessens benötige die Klägerin keine Hilfe. Dass darüber hinaus ausgeführt wurde, die Klägerin suche die Toilette selbständig auf und es finde keine Kontrolle der Intimhygiene statt, bedeutet nicht, dass der von Dr.G. bei der Darm-/ Blasenentleerung angenommene Bedarf nicht besteht. Die P.-Werkstätten haben auch darauf hingewiesen, dass es sich um keine Pflegeeintrichtung handelt und nur der für die Werkstattarbeit notwendige Bedarf ausgeführt wird. Da davon auszugehen ist, dass die Klägerin insbesondere die Nachreinigung in nicht ausreichender Weise durchführt, muss insoweit, wenn sie von den Werkstätten nach Hause kommt, eine Nachreinigung durchgeführt werden.

Für die hauswirtschaftliche Versorgung ist auch nach Auffassung der Beklagten ein Hilfebedarf von wenigstens 45 Minuten gegeben, weshalb der für die Pflegestufe I gemäß § 15 Abs.3 Nr.1 SGB XI erforderliche Pflegebedarf von insgesamt wenigstens 90 Minuten nach wie vor erreicht wird.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den von Dr.G. zitierten Abschlussberichten der P.-Werkstätten vom 18.05.1999 und 13.07.2000, die dem Sachverständigen mit Schreiben vom 22.05.2003 übersandt wurden. In dem ersten Bericht über den Beobachtungszeitraum vom 01.09.1998 bis 30.04.1999 wird der Klägerin ein, gemessen am Werkstattniveau, hohes Maß an Selbständigkeit attestiert, allerdings noch ein zügiges, oft hektisches Arbeitstempo, das qualitative Auswirkungen auf das Arbeitsprodukt habe. Hieraus und aus dem späteren Bericht einen geringeren Umfang der Pflegebedürftigkeit im eigentlichen Sinn abzuleiten, ist nicht möglich, insbesondere, wenn man diesen Bericht in Beziehung setzt zu dem im dem Gutachten des MDK nach Untersuchung am 16.06.1999 festgestellten Grundpflegebedarf von 60 Minuten.

Somit war die Berufung der Beklagten gegen das zutreffende Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 09.02.2004 zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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