L 16 U 77/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 25 U 576/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 U 77/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2003 aufgehoben, soweit das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. August 2002 verurteilt hat, der Klägerin höhere Verletztenrente für die Zeit vom 28. September 2000 bis 30. September 2000 zu gewähren. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe einer Verletztenrente.

Die 1970 geborene Klägerin erlitt als Schülerin bei einem Wegeunfall am 8. Oktober 1984 u.a. schwere Kopfverletzungen. Seit dem 9. Oktober 1984 gewährt ihr der Beklagte Verletztenrente, und zwar zuletzt ab 1. November 1993 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. auf der Grundlage eines Jahresarbeitsverdienstes (JAV) von 25.807,00 DM (Bescheide vom 25. Februar 1986, 25. August 1986, 26. August 1988 und 27. September 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 1994). Die Klägerin absolvierte nach ihrer unfallbedingt ein Jahr längeren Schulausbildung ein Studium der Humanmedizin und war nach ihrer ärztlichen Prüfung am 27. Mai 1999 als Ärztin im Praktikum ab 8. November 1999 tätig. Die Approbation als Ärztin erfolgte mit Wirkung vom 27. September 2001 (Approbationsurkunde des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 27. September 2001). Seit Januar 2002 ist die Klägerin im Krankenhaus N halbtags als Ärztin unter Eingruppierung in die Vergütungsgruppe II a des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT) beschäftigt.

Nach Einholung von Arbeitgeberauskünften erteilte der Beklagte den "Bescheid über Erhöhung des JAV" vom 25. Juni 2002 für die Zeit ab 28. September 2000. Darin setzte der Beklagte den JAV für die Zeit bis 30. Juni 2001 auf 38.046,33 DM, für die Zeit ab 1. Juli 2001 auf 38.773,01 DM, für die Zeit ab 1. Januar 2002 auf 19.824,33 Euro und für die Zeit ab 1. Juli 2002 auf 20.252,54 Euro - jeweils nach Maßgabe des JAV für eine halbtagsbeschäftigte approbierte Ärztin - fest. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin ohne den Unfall ihr Medizinstudium voraussichtlich am 27. September 2000, d.h. ein Jahr früher, abgeschlossen hätte. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem diese die Zugrundelegung eines JAV einer vollzeitbeschäftigten approbierten Ärztin begehrte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. August 2002).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat den Beklagten mit Urteil vom 25. September 2003 unter Änderung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 28. September 2000 höhere Verletztenrente auf der Grundlage eines Arbeitsentgelts "entsprechend BAT II a für eine volltagsbeschäftigte approbierte Ärztin" zu gewähren. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Der Beklagte sei gemäß § 90 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) verpflichtet, der Neufestsetzung des JAV ein Arbeitsentgelt entsprechend der Vergütungsgruppe II a BAT für eine Vollzeitbeschäftigte zu Grunde zu legen. Die Regelung des § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII orientiere sich allein an der Ausbildung und dem Alter der Versicherten, nicht jedoch am zeitlichen Umfang einer nach dem Stichtag gegebenenfalls konkret ausgeübten ausbildungsgerechten Beschäftigung. Sinn und Zweck der Regelung sei es, die Entschädigung von Verletzten mit entwicklungsbedingt noch fehlendem oder niedrigem Einkommen nicht auf Dauer daran auszurichten. Eine Orientierung an der konkreten beruflichen Situation bei der Neufeststellung würde zu zufälligen und unbilligen Ergebnissen führen.

Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor: Gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII sei vorliegend lediglich das tarifvertragliche Einkommen einer entsprechenden Teilzeitbeschäftigung zu Grunde zu legen. Denn nach Sinn und Zweck der Regelung solle der Versicherte vom Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung an hinsichtlich der JAV-Berechnung so gestellt werden, als hätte er den Unfall erst nach Abschluss seiner Ausbildung - bei dann höherem JAV - erlitten. Hätte sich ein Arbeitsunfall erst nach der Arbeitsaufnahme der Klägerin als approbierte Ärztin im Rahmen ihrer Halbtagsbeschäftigung ereignet, wären Entschädigungsleistungen auch nur nach dem tatsächlichen JAV zu berechnen gewesen. Es sei unbillig, dieses tatsächliche Einkommen auf ein fiktives höheres Einkommen im Rahmen einer Vollbeschäftigung anzupassen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Die Unfallakten des Beklagten (2 Bände) und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist begründet, soweit das SG den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt hat, der Klägerin höhere Verletztenrente bereits für die Zeit vom 28. September 2000 bis 30. September 2000 zu gewähren; insoweit war die Klage abzuweisen. Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet; sie war daher zurückzuweisen.

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch richtet sich gemäß § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII über den JAV (§§ 81 bis 93 SGB VII), weil der JAV nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII auf Grund des § 90 SGB VII neu festgesetzt worden ist.

Unabhängig von der Neufestsetzung des JAV zum Stichtag (Tag nach dem- fiktiven - Ende der Ausbildung; vgl. BSG SozR 3-2200 § 573 Nr. 2) am 28. September 2000 und dessen maßgebender Höhe wird die aus tatsächlichen Gründen neu zu berechnende Verletztenrente in neuer Höhe erst nach Ablauf des Monats geleistet, in dem die Änderung wirksam geworden ist, mithin ab 1. Oktober 2000 (vgl. § 73 Abs. 1 SGB VII). Das angefochtene Urteil war insoweit aufzuheben und die auf Gewährung höherer Verletztenrente bereits ab 28. September 2000 gerichtete Klage insoweit abzuweisen.

Im Übrigen ist die Berufung jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat für die Zeit ab 1. Oktober 2000 einen Anspruch auf höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung eines neu festgesetzten JAV, dem das im Klageantrag bezeichnete Arbeitsentgelt zu Grunde liegt.

Berechnungsgrundlage für die der Klägerin aus Anlass des Wegeunfalls vom 8. Oktober 1984 bindend zuerkannte Verletztenrente ist neben dem Grad der MdE der JAV der Verletzten. Hierfür ist im Regelfall der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV) der Verletzten in den letzten 12 Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Arbeitsunfall eingetreten ist, maßgebend (§ 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Grundsätzlich bleiben diese Verdienstverhältnisse für die Zukunft Grundlage der Rentenberechnung; spätere Erwerbsaussichten sind in der Regel bei der Feststellung des JAV rechtlich unbeachtlich (vgl. BSG, Urteil vom 28. Januar 1993 - 2 RU 15/92 = HV-Info 1993, 972). Eine Ausnahme gilt u.a. dann, wenn - wie hier - der Versicherungsfall während einer Schul- oder Berufsausbildung eintritt. In einem solchen Fall wird nach § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wenn es für den Versicherten günstiger ist, der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Der Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zu Grunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der Versicherten gilt (§ 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).

Nach der Zweckbestimmung der genannten Vorschrift sollen Personen, die schon vor oder während der Zeit der Schul- oder Berufsausbildung einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahre vor dem Unfall regelmäßig noch kein bzw. nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2000 -B 2 U 91/99 R- nicht veröffentlicht - m.w.N.). Die Klägerin befand sich zum Unfallzeitpunkt in einer Schulausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Ihre "Ausbildung" im Sinne von § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII war durch die Erlangung des zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschlusses beendet, nämlich durch die Approbation als Ärztin mit Wirkung vom 27. September 2001 (Approbationsurkunde des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 27. September 2001). Da die Ausbildung der Klägerin im Hinblick auf die unfallbedingt ein Jahr längere Schulausbildung ohne den Versicherungsfall bereits am 27. September 2000 beendet worden wäre, ist der Stichtag für die Neufestsetzung des JAV der 28. September 2000. Der Neufestsetzung des JAV ist somit das Arbeitsentgelt zu Grunde zu legen, das am 28. September 2000 für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen gewesen ist. Maßgebend sind nach der getroffenen Regelung somit allein Ausbildung und Alter einer Vergleichsperson, nicht aber der zeitliche Umfang einer konkret ausgeübten Tätigkeit. Diese Auslegung folgt nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, sondern auch aus deren Zweckbestimmung. Mit § 90 Abs. 1 SGB VII und seinen Vorgängervorschriften ist die grundsätzlich abstrakte Schadensberechnung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nicht durch eine konkrete ersetzt worden. Vielmehr bestimmt diese Vorschrift allein die eine der beiden Schadensbemessungsgrößen (MdE bzw. JAV) abweichend vom zeitlichen Bezugsrahmen des § 82 Abs. 1 SGB VII als maßgeblich (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2000 -B 2 U 31/99 R-). So hat der Gesetzgeber bespielsweise in Kauf genommen, dass die günstigere JAV-Berechnung nach § 90 Abs. 1 SGB VII auch denjenigen Versicherten zu Gute kommt, die das voraussichtliche Ausbildungsziel trotz der Unfallfolgen erreicht haben und ein entsprechendes Einkommen erzielen, also gar keinen wirtschaftlichen Schaden im Beruf erlitten haben (vgl. BSG SozR 2200 § 573 Nr. 11). Erst recht muss diese abstrakte Schadensberechnung für diejenigen Versicherten wie die Klägerin gelten, die trotz der Unfallfolgen ihr Ausbildungsziel ebenfalls erreicht haben, aber wegen einer Teilzeitbeschäftigung nicht das Einkommen einer vollschichtig erwerbstätigen Vergleichsperson erzielen.

Kein anderes Ergebnis ergäbe sich im Übrigen auch, wenn die Klägerin nach Beendigung ihrer Ausbildung - aus welchen Gründen auch immer - gar nicht erwerbstätig gewesen wäre. Denn auch in diesem Fall wäre der JAV nach § 90 Abs. 1 SGB VII mit der Erlangung des zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschlusses neu festzusetzen. Wäre hingegen der Auffassung des Beklagten zu folgen, wäre die Klägerin gegenüber einer nicht erwerbstätigen Ärztin gleicher Ausbildung und gleichen Alters in einer mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbarenden Weise benachteiligt. § 90 Abs. 1 SGB VII setzt eine tatsächliche Aufnahme der erstrebten Tätigkeiten nach Beenden der Ausbildung im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII tatbestandlich gar nicht voraus. Maßgebender Zeitpunkt für die Neufestsetzung des JAV ist allein das fiktive Beenden der Ausbildung durch den zum Ausbildungsziel führenden Ausbildungsabschluss. Der JAV ist dann an dem Entgelt auszurichten, das dem durch die Ausbildung angestrebten Beruf entspricht, und zwar unabhängig davon, ob dieser angestrebte Beruf nach dem Ausbildungsabschluss auch tatsächlich, wenngleich auch nur im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung, ausgeübt wird. Die tatsächliche Aufnahme der erstrebten Tätigkeit kann erst in dem hier nicht zu entscheidenden Fall relevant werden, wenn der betreffende Versicherte sein Berufsziel ohne Ablegung der einschlägigen Abschlussprüfung erreicht hat.

Der Neufestsetzung des JAV ist somit vorliegend das Arbeitsentgelt zu Grunde zu legen, das am 28. September 2000 für eine approbierte Ärztin gleichen Alters gemäß den Vorschriften des BAT (Vergütungsgruppe II a) vorgesehen gewesen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit ihrem Begehren bis auf einen Zeitraum von lediglich drei Tagen (28. September bis 30. September 2000) hat durchdringen können.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor. Soweit der Beklagte die Zulassung der Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung angeregt hat (Schriftsatz vom 1. September 2004), ist darauf hinzuweisen, dass die in § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG geregelte Zulassungsvoraussetzung der "grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache" entgegen der von dem Beklagten geäußerten Rechtsauffassung nicht vorliegt. Der Senat sieht die Rechtslage vielmehr auf Grund der - eindeutigen - gesetzlichen Regelungen sowie der Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 7. November 2000 (B 2 U 31/99 R) zum Entschädigungscharakter des § 90 Abs. 1 SGB VII als geklärt an.
Rechtskraft
Aus
Saved