S 6 KR 118/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 KR 118/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.07.2003 verurteilt, der Klägerin eine "NewFill"-Behandlung zur Verfügung zu stellen bzw. deren Kosten zu übernehmen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Mit der Klage vom 00.00.0000 gegen den Bescheid der Beklagten vom 20.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.07.2003 fordert die Klägerin eine NewFill-Behandlung zur Behebung ihres Lipodystrophie-Syndroms (subkutaner Fettverlust) im Wangenbereich - Kosten: ca. EUR 2.800,- (vier Sitzungen à EUR 700,-) -

NewFill ist eine biologisch abbaubare Polymer-Milchsäure, die von der FDA (Food and Drug Administration) mit dem Warenzeichen "Sculptra" am 03.08.2004 in den USA zugelassen und von der Europäischen Zulassungsbehörde für Mediziniprodukte G-Med (Groupement pour l évaluation des dispositifs médicaux) mit CE 0459 am 11.02.2004 zertifiziert worden ist. Polymer-Milchsäure ist in fester Form als resorbierbares Nahtmaterial aus der Chirurgie seit langem bekannt.

Die 0000 geborene Klägerin - Diplom-Sozialpädagogin - ist seit 1996 HIV-positiv und an AIDS erkrankt und wird seitdem mit antiretroviraler Therapie behandelt, die als unvermeidbare Nebenfolge die Lipodystrophie ausgelöst hat. Nach zwei vorausgegangenen, erfolglosen Anträgen beantragte die Klägerin mit Attest des behandelnden Internisten L vom 13.12.2002 erneut eine operative Rekonstruktion des Gesichtsbereichs, insbesondere der Wangen, mit "NewFill", Gortex-Implantationen oder Fettinjektionen; die Injektion von intrakutanem Polylaktat (NewFill) sei die am wenigsten angreifende und auch kostengünstigste Methode. Gestützt auf die Gutachten des MDK(Medizinischer Dienst der Krankenversicherung)-Arztes U vom 30.01.2003 und 05.05.2003 lehnte die Beklagte mit den o.g. Bescheiden eine operative Wangenrekonstruktion ab, weil die Verminderung des Fettkörpers im Wangenbereich eine Normvariante sei und die vorgeschlagenen Behandlungsmethoden neue Methoden seien, die in ihrer Qualität und Wirksamkeit nicht dem allgemein anerkannten Standpunkt der medizinischen Erkenntnisse entsprächen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage verfolgt die Klägerin ihr Leistungsbegehren weiter. Ihr Zustand im Wangenbereich habe Krankheitswert, denn zum Einen beeinträchtige er ihr Kauvermögen, zum Anderen führe das entstellende und abstossende Aussehen zur sozialen Isolation und schließe Arbeitsangebote in ihrem, auf den Umgang mit anderen Menschen ausgerichteten Berufsfeld aus. Ihr Aussehen löse bei vielen Menschen den Verdacht einer AIDS-Erkrankung und entsprechende Ängste und Rückzugsverhalten aus und verhindere soziale und berufliche Kontakte; sie sei stigmatisiert und werde ausgegrenzt. Sie legt das Informationsschreiben der Firma B Dermatologie vom 24.08.2004 und das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 02.05.2002 - L 5 KR 93/01 - vor.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.07.2003 zu verurteilen, ihr eine "New- Fill"-Behandlung zur Verfügung zu stellen bzw. deren Kosten zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der von ihr erteilten Bescheide und trägt - gestützt auf ein weiteres Gutachten des MDK-Arztes U vom 13.05.2004 - vor, dass es derzeit keine, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlungsmethoden zur Behandlung von Lipoatrophie im Wangenbereich gebe.

Es ist Beweis erhoben worden durch Beiziehung - der Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 06.04.2004 (mit Stellungsnahme des Bewertungsausschusses vom 06.01.2004 gegenüber dem SG Halle), - der lögd(Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW)-Recherchen vom 21.04.2004 und 07.10.2004 sowie - der Urteile des SG Lüneburg vom 16.06.2004 - S 16 KR 191/02 -, des SG Dortmund vom 26.04.2004 - S 40 KR 138/03 -, des SG Halle vom 18.03.2004 - S 2 KR 150/01 -, des SG Koblenz vom 09.07.2003 - S 12 KR 209/03 und des SG Aachen vom 20.08.2002 - S 13 KR 22/02 -. Wegen des Beweisergebnisses wird auf den Inhalt der schriftlichen Unterlagen verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die Akten haben bei der Entscheidung vorgelegen und sind - soweit von Bedeutung - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig, denn die Klägerin hat gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 12 Abs. 1 S. 1, 27 Abs. 1 S. 1 u. 2 Nr. 1, 28 Abs. 1 S. 1, 135 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches - 5. Buch/Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V - einen Anspruch auf ärztliche Behandlung mit NewFill zur Rekonstruktion ihrer Wangen; wegen eines Systemversagens steht das in § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V geregelte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für neue Behandlungsmethoden trotz fehlender erforderlicher Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses der vertragsärztlichen Anwendung der NewFill-Therapie nicht entgegen.

Nach §§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. die ärztliche Behandlung sowie Krankenhausbehandlung. Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung oder zugleich oder allein Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Regelwidrig ist ein Zustand, der vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht. Eine Krankenbehandlung ist hierbei notwendig, wenn durch sie der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand behoben, gebessert, vor einer Verschlimmerung bewahrt oder Schmerzen und Beschwerden gelindert werden können (st. Rechtspr., z.B. BSGE 35, 10 ff.). Nach § 12 Abs. 1 SGB V müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.

Hiervon ausgehend ist der Sachleistungsanspruch der Klägerin begründet.

Zur Überzeugung der Kammer liegt eine behandlungsbedürftige Krankheit vor. Die Lipodystrophie im Wangenbereich ist wegen der Beeinträchtigungen beim Kauen und ihrer entstellenden und abstossenden Wirkung auf andere Menschen eine e r h e b l i c h e Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen, der zur Ausübung normaler körperlicher und psychischer Funktionen in der Lage ist (vgl. BSG Urt. v. 23.07.02 - B 3 KR 66/01 R; LSG RP, Urt. v. 02.05.02 - L 5 KR 93/01 -. Hiervon hat sich die Kammer in unterschiedlicher Besetzung in zwei Verhandlungsterminen durch Augenschein (vgl. BSG Urt. v. 26.01.94 - 9 RV 25/93 -; LSG RP, a.a.O.) überzeugt. Die Wangen der Klägerin sind derart eingefallen, dass die Kaubeschwerden nachvollziehbar sind. Der Totenschädel-ähnliche Eindruck erklärt das Er- und Zurückschrecken anderer Personen mit der - objektiv nicht begründbaren, aber tatsächlich bestehenden - Furcht vor Kontakten mit einer AIDS-Kranken.

Diese Krankheit ist auch behandlungsbedürftig, denn es liegt ein Funktionsdefizit vor. Dieses kann insbesondere in den Körperbereichen, die normalerweise nicht von Kleidungsstücken bedeckt sind, nicht allein daran gemessen werden, ob die Ausübung körperlicher Funktionen in dem betroffenen Teilbereich noch möglich ist. Die einzelne Versicherte kann nämlich nicht nur für sich allein betrachtet werden, es müssen vielmehr auch ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt, insbesondere zu den mit ihr verkehrenden Mitmenschen berücksichtigt werden. Die Versicherte als kommunikativ handelndes Wesen ist auf Achtung und den Respekt ihrer Mitmenschen angewiesen. Daher können insbesondere E n t s t e l l u n g e n im Gesichtsbereich trotz normaler körperlicher Funktionen ein Funktionsdefizit hervorrufen, das einen Anspruch auf Maßnahmen der Krankenbehandlung begründen kann (LSG RP, a.a.O.). Sowohl die Kaubeschwerden wie auch die soziale und berufliche Ausgrenzung lösen daher im Falle der Klägerin deren Behandlungsbedürftigkeit aus.

Die NewFill-Behandlung ist nicht gemäß § 31 Abs. 1 S. 3 SGB V in die - vom Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nach § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V ausgeschlossene - Arzneimittelversorgung (BSG Urt. v. 28.03.00 - B 1 KR 11/98 R -) einbezogen. Nach § 31 Abs. 1 S. 3 SGB V werden hiervon nur arzneimittelpflichtige Medizinprodukte erfasst. Es besteht keine Verschreibungspflicht gemäß § 6 der Medizinprodukte-Verschreibungspflicht-Verordnung vom 17.12.97 (BGBl. I, 3146) und somit nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Vertriebswege-Verordnung für Medizinprodukte vom 17.12.97 (BGBl. I, 3148) keine Apothekenpflicht.

Die NewFill-Therapie als neue ärztliche Behandlungsmethode entspricht dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, denn sie hat sich in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion durchgesetzt (vgl. BSG Urt. v. 16.09.97 - 1 RK 17/95 u. 28/95 R; Urt. v. 28.03.00 - B 1 KR 11/98 R -). Die NewFill-Behandlung ist neu im Sinne des § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V, weil sie noch nicht als abrechnungsfähige Leistung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) enthalten ist (Ziff. 2.1 Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden - BUB-Richtlinie - iVm §§ 135 Abs. 1 S. 1, 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V). Die fehlende Empfehlung der NewFill-Behandlung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ist ein der Beklagten zuzurechnender Systemmangel, denn sie beruht auf der Nichtausübung des Antragsrechts nach § 135 Abs. 1 SGB V durch einen der Antragsberechtigten - Kassenärztliche Bundesvereinigung, eine der Kassenärztlichen Vereinigungen oder einer der Spitzenverbände der Krankenkassen - trotz einer erkennbaren Versorgungslücke. Diese Nichtausübung des Antragsrechts ist der Beklagten zuzurechnen, denn es ist gleichgültig, ob die Blockade der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses von diesem selbst oder von den antragsberechtigten Verbänden ausgeht (BSG Urt. v. 16.09.97, a.a.O., u. v. 19.02.02 - B 1 KR 16/00 R - u. Beschl. v. 28.01.99 - B 10 KR 1/98 B -; Plute u.a., WzS 6/98, 161 ff., 164, Anm. 20).

Anlass zur Antragstellung nach § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V bestand und besteht, weil mit NewFill erstmals eine Behandlungsmethode für die Lipodystrophie im Wangenbereich gegeben ist, deren Qualität und Wirksamkeit ausreichend nachgewiesen ist, wofür es wegen der Besonderheiten des Einzelfalles genügt, dass sich diese Behandlungsmethode in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat (BSG Urt. v. 16.09.97 u. 28.03.00, a.a.O.). Die NewFill-Methode wird im Bereich der Schönheits- und der plastischen Chirurgie seit Jahren, insbesondere zur Beseitigung von Falten, angewandt; Vor- und Nachteile der Polylaktat-Säure sind aufgrund deren Verwendung in fester Form als resorbierbares Nahtmaterial aus der Chirurgie seit Jahrzehnten bekannt. 2190 Eintragungen für "NewFill und Lipodystrophie" bei Google mit hunderten von Angeboten durch Schönheits- und plastische Chirurgen belegen die Anwendung durch eine erhebliche Zahl von Ärzten. Studien und deren positive Bewertung durch die 10. Retrovirus-Konferenz (CROI) belegen die breite Resonnanz in der fachärztlichen Diskussion. Insbesondere zwei Studien von Lafaorie et al, Abstract 720, und Valantin et al, Abstract 719 (VEGA-Studie), 10.CROI, Boston/USA, sowie die Übersicht von Behrens/Schmidt, Das Lipodystrophie-Syndrom unter antiretroviraler Therapie, HIV.NET 2004, belegen Qualität und Wirksamkeit von NewFill, wobei jedoch Langzeitstudien noch fehlen (siehe auch Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 06.04.2004). Das Fehlen dieser Langzeitergebnisse wird durch den erfolgreichen Einsatz in der Praxis und den fachwissenschaftlichen Konsensus ersetzt, denn dies beruht darauf, dass von dem Pharma-Hersteller zu finanzierende und in der Regel sehr teuere Langzeitstudien nicht zu erwarten sind. Die Pharma-Industrie veranlasst nur die zum gewinnbringenden Vertrieb des von ihr hergestellten Medizinprodukts notwendigen Studien. Da NewFill in erster Linie nur im Bereich der plastischen und Schönheitschirurgie eingesetzt wird und insofern vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung von vornherein ausgeschlossen ist, ist für den Pharma-Hersteller mehr als die Zertifizierung als Medizinprodukt wirtschaftlich uninteressant. Die wenigen Fälle der NewFill-indizierenden Krankheiten sind vergleichbar den Orphan-drug-Fällen oder den Fällen, in denen der Wirksamkeitsnachweis wegen der Art oder des Verlaufs der Erkrankung oder wegen unzureichender wissenschaftlicher Erkenntnisse auf erhebliche Schwierigkeiten stösst (BSG Urt. v. 28.03.00, a.a.O.).

Demgegenüber hat sich die - ohnehin teuerere - Behandlungsmethode der Gortex-Implantation bislang in der Praxis und der fachwissenschaftlichen Diskussion nicht durchsetzen können; die Fettinjektionen scheitern im Falle der Klägerin am Fehlen verwendbaren Eigenfetts.

Die Entscheidung über die Kosten der nach alledem begründeten Klage folgt aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.

Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG, denn der Wert des Beschwerdegegenstands übersteigt EUR 500,-.
Rechtskraft
Aus
Saved