L 17 U 77/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 248/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 77/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 29.01.2004 sowie der Bescheid der Beklagten vom 04.05.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2000 abgeändert.
II. Die Beklagte hat dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 22.05.2000 zu gewähren.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 22.05.2000 aufgrund des Arbeitsunfalles vom 11.01.2000 streitig.

Der 1972 geborene Kläger erlitt am 11.01.2000 einen Arbeitsunfall. Als Dachdecker beschäftigt, stand er auf einem Giebelauslegergerüst. Wegen Regenwetters waren seine Schuhe lehmverschmutzt, so dass er am Ende des Gerüstes auf der abgeschrägten Metalleinfassung ausrutschte und ca. 4,20 Meter tief - mit nach vorne gestreckten Armen - auf den regendurchweichten lehmigen Gartenboden fiel. Er kam seitlich mit der rechten Schulter auf, drehte sich weiter nach vorne und stützte sich mit der nach vorne geführten linken Hand ab. Der rechte Arm lag eingeklemmt und gestreckt am Oberkörper an. Der Kläger zog sich eine schwere Schulterprellung rechts sowie eine Radiusfraktur des linken Handgelenks zu (Durchgangsarztbericht des Chirurgen Dr.S. vom 12.01.2000). In stationärer Behandlung befand er sich vom 21.02. bis 28.02.2000 im L.-Krankenhaus S ... Arbeitsunfähig krank war er bis 22.02.2000.

Die Beklagte zog eine Auskunft über die Krankheiten des Klägers von der Gmünder Ersatzkasse (GEK) S. vom 21.01.2000, Arztberichte des Dr.S. vom 08.02.2000/14.02.2000/ 28.02.2000 sowie einen Nachschaubericht des Prof. Dr.L. vom 14.02.2000 bei. Nach Einholung des Operationsberichtes des L.-Krankenhauses S. vom 22.02.2000 (Ausschluss einer Rotatorenmanschettenruptur) und eines Befundberichtes des Prof. Dr.L. vom 02.03.2000 veranlasste die Beklagte ein Gutachten des Orthopäden Dr.H. vom 12.04.2000. Dieser sah den körperfernen Speichenbruch links als vollständig ausgeheilt an. Es resultiere noch eine endgradige Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk mit Einschränkung der Funktion der linken Hand. Nach der erheblichen Prellung des eindeutig vorgeschädigten rechten Schultergelenkes von dorsal sei es zu einer beträchtlichen posttraumatischen Schulterteilsteife rechts gekommen. Die kleine Ablösung am Labrum sei - bei der Heftigkeit des Aufpralles - als unfallbedingt zu betrachten. Die jetzt noch bestehende Symptomatik im rechten Schultergelenk sei im Wesentlichen Folge einer vorbestehenden Gesundheitsstörung am rechten Schultergelenk und der deswegen notwendigen Operation vom 22.02.2000. Die unfallbedingte MdE sei ab 09.03.2000 mit 10 vH einzuschätzen.

Mit Bescheid vom 04.05.2000 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Als Folgen des Versicherungsfalles erkannte sie aber an: Endgradige Bewegungseinschränkung des linken Handgelenks, geringgradig anteilige Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 25.08.2000).

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum SG Würzburg erhoben und beantragt, als weitere Unfallfolge eine knöcherne Verletzung des dorsalen Labrum glenoidale mit sekundärer posttraumatischer Arthrose anzuerkennen, Verletztengeld bis 21.05.2000 sowie Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von mindestens 20 vH ab 22.05.2000 zu gewähren.

Die GEK S. hat eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern vom 08.02.2001 vorgelegt. Nach Beiziehung einer CT der rechten Schulter vom 04.01.2001 von dem Radiologen Prof. Dr.F. hat das Gericht ein chirurgisches Gutachten bei Dr.H. am 14.01.2003 eingeholt. Dieser hat bestätigt, dass es bei dem Unfall zu einer distalen Radiusfraktur links gekommen sei, die unter konservativer Behandlung in guter Stellung fest knöchern ausgeheilt sei. Außerdem sei eine Kontusion des rechten Schultergelenkes bei vorbestehender Schadensanlage zu beachten. Eine Rotatorenmanschettenverletzung habe sich intraoperativ nicht nachweisen lassen. Als Unfallfolgen seien jetzt noch eine Knochennarbe im distalen Radiusabschnitt bei in guter Stellung fest knöchern ausgeheilter distaler Radiusfraktur mit Beschwerden bei längerdauernder Belastung vorhanden. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe bis 02.04.2000 bestanden. Die MdE sei bis Ende Mai 2000 mit 20 vH, danach 10 vH einzuschätzen.

Anschließend hat Dr.P. ein orthopädisches Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellt. In dem Gutachten vom 10.06.2003 hat er als Unfallfolgen die distale Radiusfraktur links, die schwere Schulterkontusion rechts mit knöcherner Verletzung des dorsalen kaudalen Labrum glenoidale sowie eine sekundäre posttraumatische Arthrose der rechten Schulter mit dorsaler Labrumläsion und Funktionseinschränkung als Unfallfolgen angesehen. Die MdE hat er mit 20 vH eingeschätzt.

Die Beklagte hat vor allem letzterem Gutachten unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Chirurgen Dr.S. vom 13.10.2003 widersprochen. In Anbetracht des körperfernen Speichenbruches links hat sie aber unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 09.03.2000 anerkannt.

Mit Urteil vom 29.01.2004 hat das SG die Beklagte verurteilt, als weitere Unfallfolgen eine knöcherne Verletzung des dorsalen Labrum glenoidale und eine sekundäre posttraumatische Arthrose anzuerkennen und Verletztengeld bis 21.05.2000 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat sich dabei im Wesentlichen auf die Ausführungen des Dr.H. und Dr.S. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, der Gutachter Dr.P. habe zu Recht die MdE auf Dauer mit 20 vH eingeschätzt. Er habe deutliche Beschwerden mit Funktionseinschränkung im Bereich der rechten Schulter. Insbesondere rechtfertige die Arthrose am rechten Schultergelenk mit Funktionseinschränkung die höhere MdE.

Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat der Senat Berichte über Krankheiten des Klägers von der DAK S. vom 14.04.2004 und der AOK Bayern vom 16.04.2004, einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.P. vom 23.04.2004 sowie die einschlägigen Röntgen- und CT-Aufnahmen zum Verfahren beigezogen. Sodann hat der Orthopäde Prof. Dr.S. am 22.07.2004/ 27.10.2004 ein Gutachten erstellt. Er hat als Folge des Arbeitsunfalles eine rasch progrediente Arthrose des rechten Schultergelenkes bezeichnet. Unfallfolgen mit Relevanz für die Erwerbsfähigkeit im Bereich des linken Handgelenkes lägen nicht mehr vor. Aufgrund des Röntgenverlaufes und insbesondere der klinischen Beschwerdesymptomatik sei die MdE ab 22.05.2000 mit 20 vH zu bewerten.

Die Beklagte hat dem unter Vorlage eines Gutachtens des Chirurgen Dr.K. vom 08.09.2004/19.11.2004 widersprochen. Es könne lediglich von einer MdE von 10 vH ausgegangen werden, da nur eine endgradige Bewegungseinschränkung im Schultergelenk vorliege.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG Würzburg vom 29.01.2004 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 04.05.2000 idF des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2000 zu verurteilen, ihm Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 vH ab 22.05.2000 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 29.01.2004 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch sachlich begründet. Entgegen der Auffassung des SG Würzburg hat der Kläger Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 22.05.2000 (§§ 2 Abs 1 Nr 1, 8 Abs 1, 56 Abs 1 SGB VII).

Ein Anspruch auf Rente setzt nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge des Arbeitsunfalles um wenigstens 20 vH gemindert ist. Dabei ist die Entscheidung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Entscheidung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268; BSG vom 23.04.1987 - 2 RU 240/86 -). Die Bemessung des Grades der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, betrifft in erster Linie das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet. Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden. Ärztliche Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Einschätzung des Grades der MdE, vor allem soweit sich diese darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG in SozR 2200 § 581 Nrn 23, 27).

Beim Kläger liegen unstreitig als Folgen des Arbeitsunfalles eine endgradige Bewegungseinschränkung des linken Handgelenkes, geringgradige anteilige Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenkes, knöcherne Verletzung des dorsalen Labrum-Glenoidale und eine sekundäre posttraumatische Arthrose vor (Bescheid vom 04.05.2000 sowie Urteil des SG Würzburg vom 29.01.2004). Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr.S. (Gutachten vom 22.07.2004/27.10.2004) und z.T. Dr.P. (Gutachten vom 10.06.2003) steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers im orthopädisch-chirurgischen Bereich durch die Folgen des Arbeitsunfalles vom 11.01.2000 über das Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit (21.05.2000) hinaus im rentenberechtigenden Grade gemindert ist.

Unstreitig hat sich der Kläger am linken Handgelenk eine distale Radiusfraktur zugezogen. Des weiteren liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit richtunggebend induziert eine rasch progrediente Arthrose des Schultergelenkes rechts vor. Bei der aktuellen Röntgenuntersuchung durch Prof. Dr.S. zeigte sich am distalen Radius eine normgerechte Stellung. Ein Hinweis auf einen vorzeitigen Verschleißprozess im Bereich des linken Handgelenkes ließ sich nicht erkennen. Die Beweglichkeit beider Handgelenke war seitengleich frei. Dies bedeutet letztlich, dass für das linke Handgelenk infolge des Arbeitsunfalles am 11.01.2000 keine dauernden Funktionseinschränkungen mehr vorliegen. Dem stimmen auch im Wesentlichen die Vorgutachter zu.

Die vom SG anerkannte posttraumatische Arthrose des rechten Schultergelenkes ist mit einer MdE von 20 vH zu bewerten. Bei dem Kläger liegt zwar eine sogenannte Glenoid-Dysplasie (Minder-/Fehlanlage der Schulterpfanne) an der rechten Schulter vor. Diese anlagebedingte Normvariante kann zu Schultergelenksinstabilitäten und Arthrosen des Schultergelenkes führen. Im Gutachten des Dr.H. vom 12.04.2000 wurden aber noch keine Zeichen eines Arthroseprozesses beschrieben. Es ist, wie Prof. Dr.S. überzeugend ausführt, davon auszugehen, dass sich nach dem Arbeitsunfall im Jahr 2000 mit rascher Progredienz Zeichen einer Arthrose des rechten Schultergelenkes manifestierten. Dies kommt insbesondere in der Beschreibung des Spiral-CT vom 04.01.2001 zum Ausdruck, in dem eine deutliche Entrundung des Humerus-Kopfes mit osteophytärer Randausziehung, vereinbar mit einem diffusen Knorpelschaden am Schultergelenk, beschrieben wurde.

Bei der anlagebedingten vorbestehenden Normvariante ist es durch den Arbeitsunfall vom 11.01.2000 zu einer vorzeitige Arthrose iS einer Richtungsgebung gekommen. Dies ist nachvollziehbar, da es sich mit Sicherheit um eine heftige Kontusion der rechten Schulter bei einem Sturz aus über 4 Meter Höhe handelte. Bei dem Kläger hat sich nach bis zum Arbeitsunfall anamnestisch vollkommener Beschwerdefreiheit eine rasch progrediente Arthrose des rechten Schultergelenkes entwickelt.

Hinsichtlich der Höhe der MdE ist auf die funktionellen Defizite abzustellen. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Aufl, S 604 werden Bewegungseinschränkungen der Schulter bei Vorhebung bis 90 Grad mit 20 vH, bei Vorhebung bis 120 Grad mit 10 vH bewertet. Sie sind aber nicht allein entscheidend für die Höhe der MdE. Neben eindeutigen Zeichen einer glenohumeralen Arthrose und der Einschränkung der aktiven Beweglichkeit konnte Prof. Dr.S. bei der Untersuchung auch deutliche Reibgeräusche feststellen. Bei der Umfangsmessung hat sich zudem rechtsseitig eine Verschmächtigung des Oberarmumfanges gegenüber links ergeben. Bei einem ansonsten kräftigen rechtshändigen Mann wäre rechts ein größerer Umfang als links zu erwarten gewesen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass der rechte Arm weniger eingesetzt wird als vor dem Unfall vom 11.01.2000. Der Kläger kann zudem nicht über Kopf arbeiten. Nach ein bis zwei Minuten fängt sein Arm zu zittern an und er hat keine Kraft mehr. Insbesondere nachts, wenn er auf der rechten Schulter liegt, hat er Schmerzen und kann den Arm in der Schulter nicht mehr bewegen. Es zeigt sich somit, dass das alleinige Abstellen auf die dokumentierten Bewegungsausmaße der individuellen Situation des Klägers nicht gerecht wird. Unter Berücksichtigung der progredienten Arthrose, der deutlichen Krepitationen (Reiben) im Schultergelenk bei Rotationsbewegungen, der belastungsabhängigen Schmerzhaftigkeit in der rechten Schulter sowie der vorhandenen Bewegungseinschränkung ist grenzwertig eine MdE in Höhe von 20 vH angemessen.

Der Senat kann der Bewertung des Dr.K. nicht folgen. Seine Ausführungen beziehen sich allein auf die erhobenen Bewegungsausmaße des Schultergelenkes und reduzieren die Bewertung der unfallbedingten MdE auf die festgestellten Bewegungsausmaße. Die mit dem Unfallereignis verbundenen Umstände, insbesondere die rasche Entwicklung der posttraumatischen Arthrose, werden dagegen ignoriert. Vor allem beachtet Dr.K. zu wenig den seitenungleichen Oberarmumfang.

Der Kläger hat daher Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab Ende der Arbeitsunfähigkeit. Das Urteil des SG Würzburg war insoweit abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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