S 7 AL 169/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 7 AL 169/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AL 10/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 2.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2004 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld ohne Minderung des Anspruchs wegen verspäteter Arbeitslosmeldung zu bewilligen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs.

Der 1950 geborene Kläger hatte erstmals im Jahr 2001 Arbeitslosengeld bezogen. Danach hatte er ab dem 1.12.2001 eine Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter bei der O OHG in E angenommen.

Am 23.12.2003 wurde dem Kläger bei der O OHG das Kündigungsschreiben zum 31.1.2004 persönlich übergeben. Eine Belehrung des Klägers über die vorzeitige Meldeverpflichtung nach dem SGB III (Drittes Buch Sozialgesetzbuch) erfolgte seitens des Arbeitgebers nicht.

Der Kläger meldete sich am 3.2.2004 (Montag) arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld.

Mit Bescheid vom 2.3.2004 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld unter Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs um einmalig 1.500,00 Euro. Der Kläger habe sich 40 Tage zu spät arbeitssuchend gemeldet. Nach § 37 b SGB III sei eine Person, deren Versicherungspflichtverhältnis ende, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Beklagten arbeitssuchend zu melden. Die Meldepflicht beginne mit dem Tag nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts des Beschäftigungsverhältnisses und habe an dem nächsten dienstbereiten Tag der Beklagten zu erfolgen. Das Arbeitslosengeld sei nach § 140 SGB III um 50,00 Euro pro Tag der verspäteten Meldung zu kürzen. Daraus ergebe sich ein Minderungsbetrag in Höhe von insgesamt 1.500,00 Euro.

Dem widersprach der Kläger am 5.3.2004. Er sei über die Pflicht zur vorzeitigen Meldung weder durch seinen Arbeitgeber noch durch die Beklagte informiert worden. Daher könne ihm weder Vorsatz von Fahrlässigkeit vorgeworfen und sein Verhalten nicht sanktioniert werden.

Bei seiner Vorarbeitslosigkeit habe man ihn dahingehend belehrt, dass eine Meldung erst zum Zeitpunkt der Arbeitslosigkeit erfolgen könne, nämlich am ersten Tag der Arbeitslosigkeit. Da sich die Gesetzgebung im sozialen Bereich ständig verändere hätten selbst Experten Schwierigkeiten zu folgen. Daher könne man ihm als Laien nicht den Vorwurf machen, dass er nicht ständig auf dem Laufenden sei. Eine Bestrafung nach strafrechtlichen Maßstäben verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Da die Minderungsbeträge nicht linear aufgebaut seien, werde auch das Gleichheitsprinzip verletzt. Ein gleiches Vergehen werde je nach Höhe des Bemessungsentgelts unterschiedlich geahndet.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.3.2004 als unbegründet zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 16.4.2004 Klage erhoben und auf seine Ausführungen im Widerspruchsverfahren Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

ihm unter Abänderung des Bescheids vom 2.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2004 Arbeitslosengeld ohne Minderung des Anspruchs wegen verspäteter Arbeitslosmeldung zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen. § 37 b und § 140 SBB III dienten der frühzeitigen Eingliederung des Arbeitssuchenden. Daher bestehe die Verpflichtung zur persönlichen Arbeitssuchendmeldung bei Kenntnis der Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses.

Auf Nachfrage des Gerichts hat die O OHG angegeben, dass eine Belehrung über die vorzeitige Meldepflicht ab dem 1.7.2003 nicht erfolgt sei, da diese bisher nicht bekanntgewesen sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akte der Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 2.3.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.3.2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Minderung des Arbeitslosengeldanspruchs ist zu Unrecht erfolgt.

§ 37 Satz 1 SGB III schreibt vor, dass Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet sind, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Beklagten arbeitssuchend zu melden. Im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses hat die Meldung frühestens 3 Monate vor dessen Beendigung zu erfolgen (§ 37 b Satz 2 SGB III). Die Pflicht zur Meldung besteht unabhängig davon, ob der Fortbestand des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht wird. Hat sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitssuchend gemeldet, so mindert sich das Arbeitslosengeld, das dem Arbeitslosen aufgrund des Anspruchs zusteht, der nach der Pflichtverletzung entstanden ist, nach den Maßgaben des § 140 SGB III.

Ob § 37 b und § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB III verfassungsmäßig sind (siehe dazu den Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Frankfurt an das Bundesverfassungsgericht vom 1.4.2004, Az.: S 7 AL 42/04) kann dahinstehen, da die Voraussetzungen der beiden Normen bereits tatbestandlich nicht erfüllt sind.

§ 37 b Satz 1 i. V. m. § 140 Satz 1 SGB III greift nur ein, wenn die Arbeitssuchendmeldung nicht unverzüglich erfolgt ist. Der Begriff der Unverzüglichkeit ist im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) legal definiert. Nach § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB bedeutet unverzüglich ohne schuldhaftes Verzögern. Diese Definition gilt über § 216 Abs. 2 ZPO (Zivilprozessordnung) und § 23 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) nach allgemeiner Meinung im gesamten öffentlichen Recht (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3.2.1992, Az.: 18 A 226/92.A; LSG Baden-Württemberg, Az.: L 3 AL 1267/04, Urteil v. 9.6.2004; Palandt-Heinrichs, § 121 BGB, Rn. 3, 62. Auflage 2003). Schuldhaft handelt nach § 276 Satz 2 BGB, wer vorsätzlich oder fahrlässig vorgeht. Auch § 276 BGB gilt für das gesamte öffentliche Recht (LSG Baden-Württemberg, Az.: L 3 AL 1267/04, Urteil vom 9.6.2004; Gagel § 37 b SGB III, Rn. 15, Palandt/Heinrichs, § 276 BGB Rn. 4).

Der Kläger hat nicht vorsätzlich gegen die Meldepflicht des § 37 b Satz 1 SGB III verstoßen. Er hat vorgetragen, von der gesetzlichen Meldepflicht keine Kenntnis gehabt zu haben. Dies ist glaubhaft. Zum einen hat der Arbeitgeber des Klägers auf Nachfrage des Gerichts angegeben, selbst zum Zeitpunkt der Kündigung nichts von dieser Meldepflicht gewusst und den Kläger auch nicht darüber belehrt zu haben. Zum anderen hat der Kläger vorgetragen, er habe ausgehend von der Belehrung der Beklagten bei seiner ersten Arbeitslosigkeit geglaubt korrekt vorzugehen, wenn er sich am ersten Werktag nach Eintritt der Arbeitslosigkeit arbeitssuchend melde.

Auch ein fahrlässiger Verstoß gegen die unverzügliche Meldepflicht kann dem Kläger nicht angelastet werden. Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Betroffene die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt; wenn er den möglichen Eintritt des schädlichen Erfolgs nicht erkannt, aber bei gehöriger Sorgfalt hätte vorhersehen und verhindern können (Palandt/Heinrichs, § 276 Rn. 3 ff.). Der anzuwendende Sorgfaltsmaßstab ist ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter objektiver Sorgfaltsmaßstab. Entscheidend ist, dass im Rechtsverkehr grundsätzlich jeder darauf vertrauen können soll, dass der andere die für die Erfüllung seiner Pflichten erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt (Palandt/Heinrichs § 276, Rn. 15; LSG Baden Württemberg a. a. O.). Der Fahrlässigkeitsvorwurf kann grundsätzlich nicht dadurch entkräftet werden, dass sich der Betroffene auf fehlende Kenntnis beruft. Er setzt voraus, dass der Betroffene außer Acht lässt, was ein gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises in derselben Situation gewusst und beachtet hätte.

Das BSG hat im Zusammenhang mit Mitwirkungspflichten einerseits und Beratungs- und Hinweispflichten andererseits in anderem Zusammenhang bereits den Schluss gezogen, dass eine dem Sozialrechtsverhältnis vorgelagerte Obliegenheit bzw. Obliegenheitsverletzung dem Betroffenen nur zugerechnet werden kann, wenn er entweder eine offensichtliche und allgemein bekannte Verhaltenserwartung der Versichertengemeinschaft missachtet oder eine ihm tatsächlich bekannte Obliegenheit verletzt (BSG, B 7 AL 4/02 R vom 27.5.2003, Udo Geiger "Frühzeitige Arbeitssuchendmeldung nach § 37 b SGB III - auch ohne Kenntnis und um ihrer selbst Willen?" SGB 6/4000, S. 342 bis 344, 343).

Das Gericht geht im Einvernehmen mit dem LSG Baden-Württemberg (a.a.O.) davon aus, dass der Betroffene mit dem Einwand, von der Obliegenheitspflicht nichts gewusst zu haben, nicht gehört werden kann. Die tatsächliche oder angebliche Unkenntnis dieser Rechtspflicht stellt jedoch keinen automatischen Verstoß gegen eigene Interessen dar. Wenn das LSG Baden-Württemberg auf die Definition von § 121 Abs. 1 Satz 1 und § 276 BGB abstellt, muss geprüft werden, ob der Betroffene etwas außer Acht gelassen hat, was ein besonnener und gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises in der gleichen Situation getan hätte. Dazu ist zu ermitteln, was ein besonnener und gewissenhafter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises zum Zeitpunkt der Kündigung gewusst hat. Hat auch dieser Vergleichspersonenkreis nichts von der Meldepflicht gewusst, kann die fehlende Kenntnis dem Betroffenen nicht angelastet werden.

Nach Auffassung des Gerichts hat der überwiegende Teil der gewissenhaften Angehörigen des in Betracht kommenden Verkehrskreises zum Zeitpunkt der Kündigung des Klägers nichts von der Meldepflicht nach § 37 b SGB III gewusst. Entgegen der Ansicht des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 9.6.2004 - S 3 AL 1267/04) geht das Gericht nicht davon aus, dass diese verschärfte Regelung im ersten Halbjahr des Jahres 2003 Gegenstand so vieler Medienberichte war, als dass der besonnene und gewissenhafte Angehörige des in Betracht kommenden Verkehrskreises hierauf hätte aufmerksam werden und darüber Bescheid wissen müssen. Zum einen ist den Medien angesichts der Flut von Gesetzesänderungen in den verschiedensten Bereichen und insbesondere im Sozialversicherungsrecht täglich eine Vielzahl von Gesetzesänderungen zu entnehmen. Zum anderen hatte der betroffene Personenkreis, der im ersten Halbjahr des Jahres 2003 ja noch im Beruf stand und nichts von einer späteren Kündigung ahnte, sein Augenmerk noch nicht auf diesbezügliche Gesetzesänderungen gerichtet. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Berichterstattung der Medien oft zu allgemein und nicht auf den individuellen Einzelfall bezogen erfolgt. Selbst die juristisch ausgebildete Öffentlichkeit, so sie nicht auf Arbeitsförderungsrecht spezialisiert ist, wäre mit der präsenten Kenntnis aller für Arbeitnehmer relevanten Neuregelungen überfordert. Es gibt auch keine Obliegenheit eines Betroffenen, sich mittels geeigneter Medien über Gesetzesänderungen zu informieren. Dass es keine generelle Pflicht gibt, das Recht zu kennen, zeigt die Tatsache, dass im Strafrecht mit dem Institut des Erlaubnistatbestands und des Verbotsirrtums gearbeitet wird.

Eine derartige Obliegenheit wäre auch mit der aus Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) abzuleitenden, negativen Informationsfreiheit nicht zu vereinbaren. Wäre der Gesetzgeber davon ausgegangen, hätte er die Informationspflicht des Arbeitgebers nach § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III nicht normieren müssen (siehe hierzu SG Freiburg S 9 AL 3989/03, Gerichtsbescheid vom 15.4.2004).

Desweiteren ist dem Gericht auch keine groß angelegte Aufklärungskampagne der Beklagten in Erinnerung. Auch hätte der Kläger, wenn er sich bereits frühzeitig das Merkblatt 1 für Arbeitslose besorgt hätte darin keinen Hinweis auf § 37 b und § 140 SGB III entdecken können. Dieser Hinweis wurde erst im Merkblatt für Arbeitslose Stand 2004 aufgenommen.

Als weiteres Argument dafür, dass dem gewissenhaften Angehörigen des in Betracht kommenden Verkehrskreises die vorzeitige Meldepflicht nicht bekannt war, ist anzuführen, dass auch die Mehrzahl der Arbeitgeber zum 1.7.2003 noch nichts von der vorzeitigen Meldepflicht und der ihnen bereits schon seit dem 1.1.2003 obliegenden Hinweispflicht bekannt war. Nach dieser Vorschrift sollen Arbeitnehmer vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch ihren Arbeitgeber frühzeitig über die Verpflichtung zur unverzüglichen Meldung bei der Beklagten informiert werden. Diese Regelung soll den nahtlosen Übergang des gekündigten Arbeitnehmers in eine neue Beschäftigung ermöglichen. Zwar steht die Meldepflicht des Arbeitnehmers nach § 37 b SGB III nach der Gesetzesbegründung nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Verpflichtung des Arbeitgebers.

So kann sich der Arbeitnehmer nicht durch den Hinweis exkulpieren, sein Arbeitgeber sei der Pflicht aus § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III nicht nachgekommen. Wenn jedoch der Arbeitgeber seiner bereits seit dem 1.1.2003 bestehenden Pflicht zur Belehrung nicht nachkommt, ist dies ein Indiz dafür, dass dem maßgeblichen Personenkreis die Verpflichtung zur vorzeitigen Meldung noch nicht bekannt sein musste. Zwar hat der Gesetzgeber die Hinweispflicht des Arbeitgebers zeitlich 7 Monate vor der Verpflichtung des Arbeitslosen, sich unverzüglich arbeitssuchend zu melden, Inkrafttreten lassen. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass der betroffene Personenkreis von seiner vorzeitigen Meldepflicht Kenntnis hat. Nach Auffassung des Gerichts ist dieses Vorhaben jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Die Kammer hat in allen bei ihr zu dieser Rechtsfrage anhängigen Verfahren Nachforschungen bei den Arbeitgebern angestellt. Den Antworten ist zu entnehmen, dass der überwiegende Anteil der Arbeitgeber zum streitgegenständlichen Zeitpunkt noch nichts von ihrer Hinweispflicht wussten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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